Im Rahmen der 8. PRAEVENIRE Gesundheitstage im Stift Seitenstetten fand am 23. Mai 2023 das 201. PRAEVENIRE Gipfelgespräch zum Thema „Chronische Insomnie – medizinische Relevanz, Auswirkungen, Bedürfnisse, Anforderungen und Perspektiven bezüglich Therapieoptionen“ statt – aus aktuellem Anlass, es steht die Verfügbarkeit eines neuen Wirkstoffes in Österreich vor der Tür.
Mag. Dora Skamperls
PERISKOP-Redakteurin
Treten Schlafstörungen an mindestens drei Tagen pro Woche über mehr als drei Monate hinweg auf, sprechen Ärztinnen und Ärzte von chronischer Insomnie. Nach jüngsten Schätzungen liegen bei ca. zehn Prozent der Weltbevölkerung ein volles klinisches Syndrom einer chronischen Insomnie vor, Symptome für eine transiente Insomnie finden sich bei 30 bis 35 Prozent. Die WHO hat Schlafmedizin als eigenständiges Gebiet unter ICD 11 erstmals anerkannt – ein wichtiger Schritt. Von Expertenseite wird darauf hingewiesen, dass eine große Diskrepanz zwischen den Empfehlungen der Leitlinien und der Verschreibung in der klinischen Praxis besteht. Allem voran ist die korrekte Diagnosestellung ein durchaus herausforderndes Thema.
Die Betroffenen leiden nicht nur an schlechtem Schlaf und Schlaflosigkeit, sondern auch unter deren Auswirkungen auf das tägliche Alltagsleben. Auch die daraus entstehenden Komorbiditäten sind nicht zu vernachlässigen und stellen für die Gesunderhaltung der Betroffenen ein großes Problem dar. Besserer Schlaf hat aber nicht nur medizinische Relevanz. Eine verbesserte Tagesaktivität durch gesunden Schlaf hat auch volkswirtschaftliche Auswirkungen, wenn sie die Folgekosten (z.B. Arbeitsausfälle) reduziert. Die Versorgung dieser Patientinnen und Patienten ist laut den Praevenire Expertinnen und Experten nicht zufriedenstellend und neue therapeutische Ansätze sind wünschenswert. Im Rahmen des Gipfelgesprächs wurden Bedürfnisse vonseiten der Leistungserbringer, Anforderungen der Leistungszahler sowie gesundheitsökonomische Aspekte und Perspektiven dank neuer Therapieoptionen diskutiert.
Für Menschen mit Begleiterkrankungen und Polymedikation wäre es hilfreich, eine neue Behandlung mit weniger Wechselwirkungen als den bisherigen zu erhalten.
Gunda Gittler
Schlaflosigkeit als gesundheitlicher Risikofaktor
Priv.-Doz. Dr. Michael Saletu, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Schlafmedizin und Schlafforschung, Leitung Schlaflabor, LKH Graz II, begann das Gipfelgespräch mit einer Definition von chronischer Schlaflosigkeit: „Chronische Schlaflosigkeit ist die am weitesten verbreitete Schlafstörung, mit der wir derzeit konfrontiert sind. Etwa 25 Prozent der österreichischen Bevölkerung haben nach Schätzungen manchmal Probleme beim Einschlafen oder beim Durchschlafen, etwa sechs bis zehn Prozent haben ein chronisches Problem. Chronische Schlaflosigkeit beeinträchtigt die Tagesleistung und Aufmerksamkeit, den Tagesablauf und das soziale Verhalten – Betroffene erscheinen nicht bei der Arbeit oder zu Terminen. Schlaflosigkeit ist auch ein Risikofaktor für Depressionen und psychiatrische Störungen und beeinflusst den allgemeinen Gesundheitszustand, zum Beispiel durch chronische Störungen des Herz-Kreislauf-Systems.“
Weiter führte Saletu aus: „Chronische Schlaflosigkeit kann sich als eigenständige chronische Erkrankung manifestieren, die jetzt auch in der ICD-11 definiert ist und unabhängig behandelt werden muss, da sie nicht nur ein Symptom ist. Chronische Schlaflosigkeit ist eine eigenständige Krankheit. Da Schlaflosigkeit ein chronisches Problem ist, wird eine Therapie benötigt, die länger als drei Monate eingenommen werden kann. Neue vielversprechende Medikamente mit Wirkung auf das Erregungssystem könnten hier viel leisten.“ Das Schweizer Pharma-Start-up Idorsia produziert einen der neuen Wirkstoffe am Standort in Linz und sichert damit in Österreich die Versorgung.
Limits der Behandlung von Schlaflosigkeit heute
Saletu informierte weiter, dass in Österreich Schlaflosigkeit hauptsächlich von Hausärztinnen und -ärzten behandelt wird. Zumeist werden Benzodiazepine verwendet, die eine gute Lösung für die ersten vier Wochen zur Verringerung des Erregungssystems sind, da sie sehr schnell wirken. Langfristig und wenn Menschen zu Spezialistinnen bzw. Spezialisten kommen, werden sie eher mit schlaffördernden Antidepressiva, Neuroleptika oder Z-Präparaten behandelt, die die Möglichkeit bieten, Betroffene für vier Wochen zu behandeln. Patientinnen und Patienten mit chronischer Schlaflosigkeit benötigen Medikamententherapien, die länger als drei Monate verabreicht werden können, und in dieser Hinsicht könnten duale Orexin-Rezeptorantagonisten (DORA, siehe Infobox) eine neue Perspektive bieten.
Prim. Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Martin Aigner, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Tulln, ergänzte: „Zwei Drittel unserer schizophrenen und depressiven Patientinnen und Patienten leiden unter Schlaflosigkeit als Begleiterkrankung. Wir haben Neurotransmitter-Substanzen (z. B. Hypocretin) zur Behandlung von Ess- und Schlafstörungen. Das Haupthormon für den Schlaf ist Melatonin, und das sehr ähnliche Molekül Serotonin (antidepressive Wirkung) verhilft den Patientinnen und Patienten zu einem besseren geistigen Zustand ohne Angst und Depression. Allerdings ist Melatonin für jüngere Menschen nicht sehr hilfreich, da sie viel Melatonin produzieren. Benzodiazepine können nicht über einen längeren Zeitraum angewendet werden. Bei älteren Personen sind Benzodiazepine außerdem nicht geeignet, da sie die physische Instabilität und das Sturzrisiko erhöhen.“
Bedarf im niedergelassenen Bereich
Der Allgemeinmediziner Dr. Erwin Rebhandl, PRAEVENIRE Vorstandsmitglied und Präsident von AM PLUS, sprach offen über die Bedarfe aus dem niedergelassenen Bereich: „Wir wären sehr dankbar, wenn wir Medikamente hätten, die nicht schnell zu einer Abhängigkeit bei unseren Patientinnen und Patienten führen, damit wir sie über einen längeren Zeitraum einsetzen könnten. Wenn wir die Medikation abbrechen, haben wir das Problem, dass die Menschen mit ihren Schlafproblemen zurückkommen. Wir brauchen mehr Psychotherapeutinnen, Psychotherapeuten, mehr Psychologinnen und Psychologen die sich auf Schlafstörungen, Medikamentenbehandlungen und Entspannungstherapien sowie auf die Entwicklung von Schlafstrategien spezialisieren.“
Mag. pharm. Gunda Gittler, Leiterin der Anstaltsapotheke im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Linz, führte die Situation insbesondere für ältere komorbide Patientinnen und Patienten aus: „Wir haben einen hohen Bedarf an neuen Behandlungen, die über einen längeren Zeitraum, länger als drei oder sechs Monate, verabreicht werden können, denn in den Pflegeheimen haben die Patientinnen und Patienten Schlafstörungen in einem Maß, dass sie nicht einschlafen oder nicht durchschlafen können. Für Menschen mit Begleiterkrankungen und Polymedikation wäre es hilfreich, eine neue Behandlung mit weniger Wechselwirkungen als den bisherigen zu erhalten.“
Viele Patientinnen und Patienten mit Schlafstörungen sind krankgeschrieben, was sich auch auf die Wirtschaft auswirkt. Die Prävalenzdaten der WHO zeigen, dass in sechs Prozent der Fälle chronische Schlaflosigkeit der Grund dafür ist, dass Menschen nicht zur Arbeit erscheinen.
Michael Saletu
Versorgung, Missbrauch und Nebenwirkungen
Mag. pharm. Monika Aichberger, Vizepräsidentin der Landesgeschäftsstelle Oberösterreich der Apothekerkammer, stellte klar, dass Patientinnen und Patienten zunehmend die Kontrolle verlieren, wenn sie Benzodiazepine über einen längeren Zeitraum verwenden. Während der Pandemie gab es vermehrt auf Wunsch von Patientinnen und Patienten Verschreibungen von Medikamenten, die nicht mehr erlaubt/gesetzlich sind – per E-Mail, Fax oder Telefon. „Ich bin sicher, Schlaflosigkeit ist eines der wichtigsten Themen im Alltag der Apothekerinnen und Apotheker, wir haben viele verschiedene Arten von Schlaflosigkeit. Uns fehlen Informationen darüber, was normal und was pathologisch ist.“ Saletu hielt entgegen: „Bei Patientinnen und Patienten mit Schlaflosigkeit sehen wir nicht viel Missbrauch oder Sucht. Die Prävalenzrate beträgt etwa 0,5 Prozent. Man muss zwischen Langzeitanwendung von Betäubungsmitteln und echter Abhängigkeit unterscheiden, im letzteren Fall verliert man immer die Kontrolle.“
Angelika Widhalm, Vorsitzende des Bundesverbands Selbsthilfe Österreich (BVSHÖ), erklärte die Problematik aus Patientensicht: „Die meisten Patientinnen und Patienten haben Begleiterkrankungen, und wir benötigen mehr Informationen darüber, wie man die Medikation handhabt. Wir brauchen auch mehr Spezialisten und wir freuen uns, ein neues Medikament zu haben.“
Die Zukunft der Schlafmedizin
Saletu und Rebhandl sehen beide die Zukunft der Schlafmedizin, insbesondere der Behandlung von Schlaflosigkeit, auch in der Anwendung digitaler Therapien. Dies deshalb, weil Patientinnen und Patienten mit Apps und einer regelmäßigen Kontrolle des Therapiefortschritts durch Spezialistinnen bzw. Spezialisten gut zurechtkommen würden und es außerdem einen Mangel an einer solchen spezialisierten Betreuung gebe. Die Unterstützung der Verhaltenstherapie könne mithilfe der neuen Wirkstoffe gut gewährleistet werden. Saletu: „Wir benötigen eine Versicherungsdeckung nicht nur für neue Medikamente, sondern auch für Psychotherapie und digitale Anwendungen. Deutschland und die USA haben in dieser Hinsicht einen guten Ansatz, der viele Menschen erreicht.“ Gittler ergänzte, dass jüngere Menschen mit Schlaflosigkeit durch DORA im Arbeitsprozess bleiben könnten – durchaus ein Argument für die Krankenkassen. Allerdings müssten im Design der Phase-III-Studie Wechselwirkungen bei komplexen Patientenpopulationen bzw. die Möglichkeit einer Reduktion anderer Medikamente berücksichtigt werden.
Marktzugang: Welche Box wird's sein?
Mag. Hanns Kratzer, Peri Market Access, sprach gleich zu Beginn die Finanzierungsthematik offen an: „Ein Medikamentenpreis von mehreren Euro pro Tag ist für das Krankenhaus nicht schockierend, aber in der Psychiatrie ist dies teuer. Es gibt Beispiele in der Schizophrenie und der Alkoholabhängigkeit, bei denen neue Medikamente zu niedrigeren Preisen gescheitert sind.“ Die Voraussetzung für eine Kostendeckung durch das Sozialversicherungssystem sei die Klassifizierung der Patientinnen und Patienten, um zwischen Symptomen und einer Krankheit zu unterscheiden.
Saletu erklärte dazu, der Schlüssel liege in der Arbeitsfähigkeit der Patientin bzw. des Patienten: „Wir fragen Betroffene nicht danach, wie sie geschlafen haben, sondern wie es ihnen tagsüber geht.“ Die wichtigste Frage sei, ob die betroffene Person am Arbeitsplatz erscheinen kann, die Arbeit ausführen und z. B. sicher Auto fahren kann: „Viele Patientinnen und Patienten mit Schlafstörungen sind krankgeschrieben, was sich auch auf die Wirtschaft auswirkt. Die Prävalenzdaten der WHO zeigen, dass in sechs Prozent der Fälle chronische Schlaflosigkeit der Grund dafür ist, dass Menschen nicht zur Arbeit erscheinen.“ Dafür brauche es dringend „ein Medikament, das im Gegensatz zu Mirtazapin keinen Kater verursacht und das Aufstehen am Morgen ermöglicht.“
Qualität der Datenlage: komplexe Fragestellungen
Widhalm stellte klar: „Bisher haben wir nicht über die Doppelbelastung vieler Frauen durch Beruf und Familie gesprochen. Man muss immer die aktuelle Situation der einzelnen Betroffenen und ihre Schlafstörungen betrachten. Wir müssen individuell auf jede und jeden eingehen, sonst gehen die Menschen verzweifelt zur Apotheke und holen sich Pseudo-Medikamente in der Hoffnung, einschlafen oder durchschlafen zu können. Das Thema Schlaf wird per se viel zu wenig beachtet. Wir brauchen die Erkenntnis, dass Schlaf ernst genommen wird und warum Schlaf so wichtig ist. Schlaf ist wichtig für die gesamte Wirtschaft.“
Kratzer ergänzte: „Dies ist ein wichtiges Thema, insbesondere bei Erkrankungen, bei denen die Anzahl der betroffenen Patientinnen und Patienten unsicher ist.“ Er nannte als mögliches Beispiel für die Diskussion für eine Zentrenlösung nach dem Vorbild Hepatitis und hoher Cholesterinspiegel, wo der Dachverband eine überschaubare Anzahl von Zentren akzeptiert, die das Medikament verschreiben dürfen. Damit habe der Dachverband der Versicherungen eine gewisse Garantie, dass es keine Überverordnung gibt. Dem hielten Widhalm und Saletu entgegen, dass damit sehr vielen Patientinnen und Patienten der Zugang zu wirksamen Medikamenten erschwert sei. Auch Andreas Uttenweiler, Idorsia Lead Market Access für Österreich und die Schweiz, gab zu bedenken, dass bei grob geschätzt 200.000 Patientinnen und Patienten in Österreich die Versorgung über spezialisierte Zentren nicht sichergestellt werden könne.
Alle Expertinnen und Experten in der Diskussion waren sich einig, dass eine schrittweise Herangehensweise in Kombination mit einer Preisverhandlung basierend auf den vorhandenen Studiendaten und daraus resultierender wirtschaftlicher Faktoren – wie verbesserter Arbeitsfähigkeit und vermindertem Sturzrisiko – der Weg zum Ziel der Kostenerstattung im Jahr 2024 werden könnte. Abschließend bestätigte auch Andreas Huss, MBA, Verwaltungsratvorsitzender der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), dass die Schlüsselfrage der Nutzen des neuen Wirkstoffs für das österreichische Gesundheitssystem sei: „In Österreich sind alle Sozialversicherungsträger im Dachverband der Versicherungen vertreten. Gesundheitsökonomische Argumente sind daher ziemlich relevant, im Gegensatz zur Schweiz, wo die verschiedenen Krankenversicherungen nicht zusammenarbeiten.“ Diesbezüglich seien valide Daten im Zulassungsprozess beizustellen. Eine Kostenbegrenzung festzulegen, sei eine Option, die schon gut erprobt sei.
Was sind DORA?
Die Wachheits- und Schlafsignale werden durch komplizierte neuronale Schaltkreise im Gehirn gesteuert. Eine Schlüsselkomponente ist das sogenannte Orexin-System, das die Wachheit fördert. Unter normalen Umständen steigt der Orexin-Spiegel im Laufe des Tages an und fällt dann zur Nacht wieder ab. Eine Überaktivität des Wachheitssystems gilt als wichtiger Antriebsfaktor von Insomnie.
Daridorexant ist ein dualer Orexin-Rezeptorantagonist (DORA), der verhindert, dass die Orexine an die Rezeptoren andocken. Das verringert die Wachheit und erleichtert das Ein- und Durchschlafen.
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