Die Gesundheitsgespräche des European Forum Alpbach standen heuer im Zeichen eines facettenreichen Paradigmenwechsels: Corona hat das österreichische Gesundheitssystem nicht nur wachgerüttelt, sondern Prozesse von Morgen in Bewegung gebracht, die gestern noch unvorstellbar waren. Der Mediziner und Forscher Univ.-Prof. Dr. Lars-Peter Kamolz, MSc, beleuchtete im Rahmen einer Alpbacher Online-Session den „Katalysator Corona“ unter dem Blickwinkel aktueller Herausforderungen des Gesundheitswesens. | von Mag. Julia Wolkerstorfer
Auf Einladung der JOANNEUM RESEARCH Forschungsgesellschaft mbH diskutierten im Rahmen der Gesundheitsgespräche des Forum Alpbach 2020 mehr als 120 Expertinnen und Experten in virtueller Form, wie sich eine „Gesundheitsversorgung von morgen“ gestalten wird, welche Probleme sich dabei herauskristallisieren und welche Perspektiven sich eröffnen. Für Gastgeber und Moderator Lars-Peter Kamolz, Leiter der Abteilung für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie der Medizinischen Universität Graz und Direktor von COREMED — JOANNEUM RESEARCH, stand fest: „Die Gesundheitsversorgung von morgen — ob mit oder ohne Pandemie — ist digital.“
Die Coronapandemie hat der Gesundheitsbranche nicht nur neue Denk- und Arbeitsweisen abverlangt, sondern vor allem auch den Bereich Digitalisierung massiv beschleunigt. Vieles, das in Schubladen lag, sei hervorgeholt und auf Funktionalität überprüft worden und hätte sich bewährt: Univ.-Prof. Dr. Alexander Rosenkranz, Abteilungsleiter der Nephrologie an der Medizinischen Universität Graz, ortet neben den neu gelenkten Patientenströmen auch den rascheren virtuellen Wissensaustausch als einen der positiven Faktoren, den COVID-19 an die Oberfläche gebracht hat. Auch Homeoffice und telemedizinische Angebote erfreuen sich deutlich größerer Akzeptanz. MR Dr. Werner Saxinger, MSc, Vorstand der Dermatologie und Angiologie am Klinikum Wels und Abgeordneter zum Nationalrat, diagnostizierte COVID-19 als eine Art „Elchtest“ für unser Gesundheitssystem und sieht diesen als durchaus geglückt: „Wir waren zwar alle initial etwas unvorbereitet beziehungsweise von der COVID-19-Tragweite überrascht. Schließlich ging dann aber alles Hand in Hand und sicher über die Bühne. Die Coronapandemie hat neben den Stärken aber auch die Schwächen unseres Gesundheitssystems offengelegt und uns gelehrt, wie abhängig wir teilweise von banalen Dingen aus dem Ausland sind, wie etwa Medikamente oder Schutzkleidung.“ Auch der Schutz der Patientinnen und Patienten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählt zu den größten Herausforderungen eines „neuen“ medizinischen Alltags.
Digitalisierungsoffensive
Wie Ass.-Prof. Dr. Wolfgang Köle, ärztlicher Direktor des LKH-Universitätsklinikums Graz, berichtete, waren Patientenströme zu regeln, Ambulanz- und Wartebereiche neu zu organisieren und Verflechtungen der Versorgungsstrukturen voranzutreiben — Prozesse, die gleichzeitig mit hohen Ausgaben verbunden waren. „Am Ende des Tages wird das Gesundheitssystem insgesamt mehr Geld benötigen“, ist Köle überzeugt. Dr. Bernd Leinich, MBA, Geschäftsführer vom Gesundheitsfonds Steiermark, unterstrich diese Position und ortet einen wesentlich höheren Bedarf an besserer Vernetzung und Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Versorgungsstrukturen. Auch die Gesundheitslandesrätin der Steiermark, Dr. Juliane Bogner-Strauss, betonte in ihrem initialen Statement, wie wichtig es sei, unnötige Parallelstrukturen zu vermeiden und die Weiterentwicklung der Telemedizin als wesentliche Erkenntnisse der letzten Monate nicht aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig bedankte sie sich bei allen involvierten Systempartnern, die dazu beigetragen haben, die hochwertige Versorgung auch während der Coronapandemie aufrecht zu halten.
Dass digitale Prozesse im medizinischen Bereich ungeahnte Perspektiven eröffnen, zeigte sich auch Bernd Altpeter, Gründer und Geschäftsführer vom DiTG — Deutsches Institut für Telemedizin und Gesundheitsförderung — überzeugt: „Während der Coronapandemie wurden rasch Erlässe erteilt, die das Vorantreiben der Digitalisierung erst richtig ermöglicht haben.“ Diese Digitalisierungsoffensive wird komplett neue Möglichkeiten in der Ge-sundheitsversorgung von morgen schaffen, prognostizierte Altpeter. Auch die Bedeutung des elektronischen Impfpass wird enorm steigen, da sich die Impfthematik „zu einer der größten Herausforderungen entwickeln wird, die auf uns zukommt“, ist sich Rosenkranz sicher. Köle sieht darüber hinaus in der Aus- und Fortbildung großes Potenzial in Punkto digitaler Agenden: „Vorlesungen, wie wir sie kennen, werden in Zukunft sicher nicht mehr so abgehalten werden können.“
Dr. Cornelius Granig, Leiter der Bereiche Krisenmanagement und Cyber Security des internationalen Beratungsunternehmens Grant Thornton, betonte, dass das klaglose Funktionieren der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sehr stark von deren laufender Modernisierung und Überprüfung abhänge: „Jeder Anbieter von Gesundheitsdiensten muss zusehen, dass die IT-Systeme dem aktuellen Stand der Technik entsprechen und so sicher wie möglich betrieben werden. Das gilt besonders für zentrale Systeme wie ELGA oder für Krankenhausinformationssysteme, die schon mehr als ein Jahrzehnt alt sind. Es gibt jetzt für Ausgaben im Bereich der Cyber Security und Digitalisierung eine neue staatliche Investitionsprämie, um gerade in dieser schwierigen Zeit, in der so viel vom Funktionieren digitaler Systeme abhängt, möglichst viele Verbesserungsmaßnahmen auch von staatlicher Seite zu unterstützen.“
Wertvolle Errungenschaften für zukünftige Herausforderungen
E-Rezepte, digitale Terminambulanzen oder Videokonsultationen sind nur ein kleiner Auszug der positiven Entwicklungen in der Gesundheitsversorgung durch COVID-19. Laut Expertinnen und Experten muss der eingeschlagene Weg der Digitalisierung unbedingt beibehalten werden, um auch zukünftig eine hochwertige und effiziente Patientenversorgung sicherzustellen. In diesem Zusammenspiel wurde auch die steigende Lebenserwartung der Menschen beleuchtet, auf die sich das Gesundheitssystem optimal vorbereiten muss: Frauen werden heute im Schnitt 83,9 Jahre alt, Männer 79,1 Jahre, dabei steigt die Lebenserwartung jede Dekade im Durchschnitt um weitere 2,3 Jahre. Das medizinische Hauptaugenmerk wird in der Gesundheitsversorgung zukünftig daher verstärkt dahingehend ausgerichtet sein, der Bevölkerung gesundes Altern mit hoher Lebensqualität zu ermöglichen.
Trotz aller Perspektiven, die von technischer und wissenschaftlicher Seite heute eröffnet werden, darf der Fokus auf den Menschen nie verloren gehen: „Die Digitalisierung eröffnet uns neue Wege — mehr Patientensicherheit, bessere therapeutische Versorgung der Patientinnen und Patienten und schnellere Vernetzung mit den Spezialistinnen und Spezialisten. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass die Schulung für neue Techniken für die Personen des Gesundheitswesens Zeit benötigt, und dass auch der persönliche Kontakt zu den Patientinnen und Patienten sowie der Dialog und die Beratung immer noch sehr wichtige Eckpfeiler in der Arzt-Patientenbeziehung darstellen. Das darf bei allen wachsenden technischen Möglichkeiten nicht zu kurz kommen“, zeigte sich Rosenkranz überzeugt.
„Das Vermeiden von unnötigen Parallelstrukturen und die Weiterentwicklung der Telemedizin sind wesentliche Erkenntnisse der letzten Monate.“
Juliane Bogner-Strauß
„Jeder Anbieter von Gesundheitsdiensten muss zusehen, dass die IT-Systeme dem aktuellen Stand der Technik entsprechen und so sicher wie möglich betrieben werden.“
Cornelius Granig
„Die Gesundheitsversorgung von morgen — ob mit oder ohne Pandemie — ist digital.“
Lars-Peter Kamolz
„Am Ende des Tages wird das Gesundheitssystem insgesamt mehr Geld benötigen.“
Wolfgang Köle
„Die Digitalisierung eröffnet völlig neue Perspektiven, doch die persönliche Arzt-Patientenbeziehung darf nicht zu kurz kommen.“
Alexander Rosenkranz
„Die Coronapandemie hat neben den Stärken aber auch die Schwächen unseres Gesundheitssystems offengelegt.“
Werner Saxinger
Teilnehmende (in alphabetischer Reihenfolge)
Bernd Altpeter, Gründer und Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Telemedizin und Gesundheitsförderung (DiTG)
Dr. Juliane Bogner-Strauss, Gesundheitslandesrätin der Steiermark
Dr. Cornelius Granig, Leiter der Bereiche Krisenmanagement und Cyber Security bei Grant Thornton
Univ.-Prof. Dr. Lars-Peter Kamolz, MSc, Leiter der Klinischen Abteilung für plastische, ästhetische und rekonstruktive Chirurgie der Medizinischen Universität Graz
Dr. Johannes Koinig, Stv. Geschäftsführer des Gesundheitsfonds Steiermark
Ass.-Prof. Dr. Wolfgang Köle, Ärztlicher Direktor des LKH-Universitätsklinikums Graz
Dr. Bernd Leinich, MBA, Geschäftsführer des Gesundheitsfonds Steiermark
Univ.-Prof. Dr. Alexander Rosenkranz, Abteilungsleiter der Nephrologie an der Medizinischen Universität Graz
MR Dr. Werner Saxinger, MSc, Vorstand der Dermatologie und Angiologie am Klinikum Wels
© Jakob Glaser, Manfred Weis, Bernhard Bergmann, Marija Kanizaj, LKH-Univ-Klinikum Graz/Marija Kanizaj, Ulli Engleder