Am 25. und 26. September fand in Haslach an der Mühl die bereits vierte Tagung des Vereins am plus zum Thema „Primärversorgungseinheiten: umfassend — kreativ — attraktiv“ statt. Mit dieser Tagung setzt AM PLUS eine weitere Initiative zur optimalen Umsetzung der neuen Primärversorgung in Österreich. | von Lisa-Marie Schordje, BSc, MA
Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter relevanter Gesundheitsberufe bekamen die Gelegenheit, sich über Chancen und Herausforderungen bei der Umsetzung von Primärversorgungseinheiten (PVE) in Österreich zu informieren und konnten sich ein detaillierteres Bild über bereits erfolgreich initiierte Pilotprojekte machen. In verschiedenen Vorträgen, Interviews und Diskussionen mit über 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde u. a. die Frage diskutiert, ob und inwieweit die derzeit umgesetzten Primärversorgungeinheiten den ursprünglichen Zielen gerecht werden. Moderiert wurde die vierte Tagung des Vereins AM PLUS von Olivia Schütz, MA, PROGES, die die zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch interessante Vorträge und Diskussionen führte.
Primärversorgungseinheiten im Fokus
Die Tagung eröffneten Dr. Erwin Rebhandl, Präsident von AM PLUS und Arzt für Allgemeinmedizin in der PVE in Haslach an der Mühl, und Vizebürgermeisterin Elisabeth Reich und gaben dabei einen guten Überblick, weshalb ausgerechnet eine PVE in Haslach für die Bürgerinnen und Bürger zur zentralen Drehscheibe geworden ist. Gleich zu Beginn der Veranstaltung gaben Patientinnen und Patienten, die in der PVE Haslach in Behandlung sind, einen guten Einblick in die Vorteile einer standortnahen Versorgung und berichteten von ihren positiven Erfahrungen. Anschließend hielt Emil Igelsböck, MAS, Med, Studiengangsleitung des Bachelor-Studiengangs Physiotherapie der FH Gesundheitsberufe OÖ einen Vortrag über PVE als Stätte für Teamarbeit und Ausbildung und betonte, wie essenziell es sei, dass bei solchen Projekten der multidisziplinäre Ansatz bereits in der Ausbildungsphase thematisiert wird und welche wichtige Rolle die Interprofessionalität dabei spielt.
Mag. Julia Commenda, Projektkoordinatorin bei der Gesundheitsförderung Primärversorgung in Haslach an der Mühl und Mag. Dr. Doris Polzer, Geschäftsführerin von „PROGES-Wir schaffen Gesundheit“ präsentierten anschließend das Projekt „Prävention und Gesundheitsförderung: Umsetzung auf kommunaler Ebene“. Hier wurde das Modell „GES.UND“ vorgestellt, dessen zentrale Frage „Wie PVE dazu genutzt werden können, um die vorhandenen Ressourcen der Bürgerinnen und Bürger und bestehende soziale Strukturen zu erkennen, zu stärken zu verknüpfen, um so eine gesunde Lebens- und Arbeitswelt zu fördern“ thematisiert wurde. Im Zuge der Umsetzung des Projekts wurde den Einwohnerinnen und Einwohnern von Haslach eine Vielfalt an Aktivitäten vorgestellt, die sich auf vier Ebenen stützt: Sport & Bewegung, Kreativität, Hilfe im Alltag und soziales Miteinander.
Abschließend gaben Dr. Kern, Stellvertretender Obmann des Primärversorgungsnetzwerk Melker Alpenvorland und Philipp Schramhauser BSc, MMSc, MBA, Manager des PVN Melker Alpenvorland interessante Einblicke in die „Komplexität von PV-Netzwerken“. In diesem Vortrag wurden die Unterschiede zwischen dem Standort einer Primärversorgung und einem ganzen PV-Netzwerk sowie die damit verbundenen Herausforderungen vorgestellt und näher erläutert.
Tag 2: Austausch von Erfahrungen im Mittelpunkt
Der zweite Tag startete mit einem Vortrag von Dr. Rebhandl über den Interventionsansatz des „Social Prescribings“ — eine neuartige Methode, die bei Patientinnen und Patienten mit zusätzlichen nicht-medizinischen, aber gesundheitsrelevanten Bedürfnissen und Belastungen zum Einsatz kommt. Laut Dr. Erwin Rebhandl kann durch eine gezielte Integration von Social Prescribing in die Primärversorgung nicht nur das Versorgungssystem entlastet, sondern auch der ganzheitliche Gesundheitszustand verbessert wird.
Per Videobotschaft sprach Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Kathryn Hoffmann, MPH, von der Universität Wien, Vertretungsärztin in der PVE Mariahilf, Österreichvertreterin beim European General Practice Research Network und Gründungsmitglied des Österreichischen Forums für Primärversorgung, in ihrem Impulsvortrag über die Zugangsregelungen und Anreizsysteme für PVEs und bekräftige dabei, dass es wichtig sei, von Erfahrungen anderer Länder zu lernen, und dass geregelte Koordinationsfunktionen essenzielle Bestandteile für Österreich seien.
In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurde mit Vertreterinnen und Vertretern der Berufsgruppen über ihre Erfahrungen und Wünsche in diesem außergewöhnlichen Arbeitssetting diskutiert, die schließlich auch den inhaltlichen Abschluss bildete. Anhand der Erfahrungsberichte der verschiedenen Berufsgruppen, die im Arbeitssetting der PVE Fuß gefasst haben, stellte sich beispielsweise schnell heraus, dass Arbeiten in einer PVE auch sehr viel Selbstständigkeit und Abwechslungsreichtum mit sich bringt.
Wir sind am richtigen Weg, aber noch lange nicht angekommen
Die österreichische Landschaft der Primärversorgung ist im Aufbau und es gilt weiter daran zu arbeiten, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass das Konzept erfolgreich umgesetzt werden kann. Das Publikum hat sich aktiv an der Diskussion beteiligt, was deutlich zeigt, wie sehr das Thema die verschiedenen Angehörigen der Gesundheitsberufe bewegt. Für den Verein AM PLUS ist dieses positive Feedback ein wichtiger Ansporn, weiter an der Umsetzung von PHC in Österreich zu arbeiten. An dieser Stelle dankt der Verein allen Unterstützern und Kooperationspartnern!
Angesichts der aktuellen Coronapandemie gab es zum Schutz der Anwesenden für jede Person eine zertifizierte Schutzmaske des österreichischen Herstellers Aventrium Health Care Gmbh und Desinfektionsmittel von Schülke & Mayr GmbH.
„Der Mehrwert aus Tagungen ergibt sich aus neuen Erkenntnissen aus Vorträgen, Informationen und der Möglichkeit der Vernetzung mit anderen Fachexpertinnen und -experten. Dieser Mehrwert ist notwendig um eine kontinuierliche Verbesserung in den eigenen Strukturen umsetzen zu können. PVEs sind ein modernes Konzept, die die langfristige medizinische Versorgung in ländlichen Regionen und Ballungszentren sicherstellen. Sie bieten eine umfangreiche medizinische Versorgung, die sich über diverse Bereiche (Physio, Medizin, Psycho, Diät, Hebamme, Soziale Arbeit etc.) erstreckt. Für junge Ärztinnen und Ärzte bietet sich die Möglichkeit in strukturierte Organisationsformen einzusteigen ohne den organisatorischen Aufwand der ‚Selbständigkeit‘ bewerkstelligen zu müssen. Die Arbeit im Team macht es möglich auf einen großen ‚Wissensschatz‘ zurückgreifen zu können. Den Überblick über wirtschaftliche Belange behält das Management, welches regelmäßig an die Gesellschafter berichtet. Bei der Neugestaltung einer PVE sind Menschen mit spezifischer Erfahrung notwendig. Hier kann ich auf Personen mit guten Kontakten zu Anwälten, Steuerberatern und Funktionären der offiziellen Stellen verweisen. Als schwierig gestalten sich die Teamfindung und die Erarbeitung gemeinsamer interner Abläufe, Strukturen und Regeln. Hier bedarf es eines hohen Gesprächsaufwands, der in einen hektischen Alltag einzubetten ist.“
Philipp Schramhauser, BSc, MMSc, MBA | Manager PVN Melker Alpenvorland
„Ich denke, der Mehrwert dieser Veranstaltung liegt ganz klar darin, dass die interessierten Stakeholder vor Ort bedeutende Beiträge hören und die Möglichkeit haben, direkt Fragen zu stellen. Darüber hinaus hat sich gestern wieder gezeigt, dass neben den Vorträgen die Pausen- und Abendgespräche von eminenter Bedeutung sind, weil hier in kleinen Runden weiter diskutiert werden kann und auch offene Fragen im netten Plauderton aufgegriffen werden können. Gerade für PVEs sehe ich eine wichtige Rolle im österreichischen Gesundheitssystem, da sie eine regionale, dezentrale Versorgung für die Bevölkerung sicherstellen können. Weiters erfüllen Sie eine ‚zukunftsweisende‘ Form der Kooperation im Gesundheitsbereich.“
Emil Igelsböck, MAS | MEd Studiengangsleitung Bachelor-Studiengang Physiotherapie FH Gesundheitsberufe OÖ
„Social Prescribing, die Verordnung sozialer Aktivitäten, ist für die Gesundheitsversorgung in Österreich ein relativ neuer Ansatz. Dabei werden gesundheitliche und soziale Aspekte verbunden. In Großbritannien wird Social Prescribing schon seit ca. 30 Jahren erfolgreich praktiziert. Natürlich gibt es auch in Österreich seit längerem diesbezügliche Angebote und Einzelprojekte, die aber meist nicht mit dem Gesundheitssektor vernetzt sind und daher auch nicht verordnet werden. Primärversorgungseinheiten eignen sich mit ihren Expertinnen und Experten hervorragend als wesentliche Partner bei der Umsetzung sozialer Projekte und sie sind die wesentlichen Verordner dieser Aktivitäten. Es braucht aber außerhalb der PVE eine Einrichtung als Partner, die die Bevölkerung motiviert und einbindet, mit bestehenden Angeboten kooperiert und diese einbindet, nach Bedarf neue Angebote mit der Bevölkerung entwickelt und organisiert sowie mit Vereinen und Gemeinden kooperiert. In Haslach an der Mühl konnte ein erfolgreiches Pilotprojekt gestartet werden.“
Dr. Erwin Rebhandl | Präsident von AM PLUS und Arzt für Allgemeinmedizin in der PVE Haslach
„Die AM PLUS-Tagung ermöglicht den wichtigen Austausch und Dialog mit Stakeholdern aus dem österreichischen Gesundheitswesen. Die Beiträge aus der medizinischen Wissenschaft, Lehre und Praxis geben viele Impulse zur Stärkung und Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Wir von PROGES zeigen mit dem Aufbau eines regionalen Zusammenspiels von Gesundheitsversorgung und Vorsorge in dem Modellprojekt GES.UND vor, wie aktiv Gesundheitsförderung betrieben werden kann. Das ist dank der guten Koppelung an das PVE ‚Hausarzt Medizin Plus‘, möglich. Mit diesem Projekt möchten wir auch wichtige Erfahrungen zu dem Interventionsansatz Social Prescribing, dem in Österreich insbesondere mit dem Ausbau von Primärversorgungseinheiten großes Potential zukommt, beisteuern. Diese Tagung ermöglicht uns die eigenen Erfahrungswerte zur Verfügung zu stellen und weitere, neue Aspekte aufgreifen.“
Mag. Dr. Doris Polzer | Geschäftsführerin PROGES- Wir schaffen Gesundheit
„Die gesundheitlichen Herausforderungen unserer Zeit nehmen zu. Eine wissenschaftlich fundierte und bewährte Möglichkeit diesen Herausforderungen zu begegnen, ist die Entwicklung und Stärkung des Primärversorgungssektors in seiner gesamten Komplexität (eigenständiger Sektor, umfassende Zugänglichkeit, Möglichkeit der großen Mehrheit der Gesundheitsbedarfe angemessen zu begegnen mit einem Team an Fachkräften, Kontinuität, Koordinationsfunktion für das gesamte Gesundheitssystem). Gerade bei der für die Gesundheit der Menschen sehr wichtigen Koordinationsfunktion hat Österreich großen Nachholbedarf, allerdings sollte dieser Faktor nie ohne die anderen oben genannten isoliert betrachtet und bearbeitet werden.“
Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Kathryn Hoffmann, MPH | Vertretungsärztin in der PVE Mariahilf, Österreichvertreterin beim European General Practice Research Network, Gründungsmitglied Österreichisches Forum Primärversorgung
© Paul Mares(4), MedUni Wien