Die Coronapandemie führte zu einem enormen Anstieg telemedizinischer Möglichkeiten. Im Zuge der Gipfelgespräche zum Thema Digital Health gingen Expertinnen und Experten der Frage nach, wie wir medizinischen Herausforderungen mittels digitalen Technologien begegnen können und welche Türen digitale Prozesse im Gesundheitsbereich eröffnen. Wichtig erscheint jetzt eine klare Analyse dessen, was gut funktioniert hat und welche Prozesse in Zukunft noch gestärkt werden müssen. Erfolgreich erweist sich Digitalisierung in der Medizin jedenfalls dort, wo mehr Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen geschaffen wird, so der einstimmige Tenor in den praevenire Gesprächsrunden. | von Mag. Julia Wolkerstorfer
Das österreichische Gesundheitssystem erlebt durch den Trigger Coronavirus einen erzwungenen Digitalisierungsschritt, der in den letzten Jahren nicht für möglich gehalten wurde. Die Stoßrichtung ist klar: Erfolgreiche Prozesse müssen weiterhin vorwärts gedacht und im Hinblick auf ihre Effizienz analysiert werden. Es darf kein Zurück mehr geben. Das PRAEVENIRE Gesundheitsforum nahm dies zum Anlass und ging unter der Leitung von Professor Reinhard Riedl, Leiter des transdisziplinären Zentrums Digital Society der Berner Fachholschule, der Frage nach, wie die Gesundheitsversorgung optimal auf digitale Beine gestellt werden kann.
Nach den Erfahrungsberichten der Expertinnen und Experten sei sowohl auf Seite der Patientinnen und Patienten, als auch bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten eine große Zufriedenheit hinsichtlich telemedizinischer Begleitung zu beobachten. Die Nachfrage nach e-Medikation, telefonischer Beratung, Telerehabilitation oder auch virtueller Psychotherapie sei groß und es gäbe den Wunsch, diese digitalen Dienste auch nach der Krise aufrecht zu halten. „Als ersten Schritt brauchen wir eine Bestandsaufnahme dahingehend, was bereits gut funktioniert“, betonte Dr. Günther Schreiber, Leiter des Bereichs Gesundheitswesen bei Quality Austria. „Die Coronazeit hat gezeigt, wie gut eine gemischte Form von Psychotherapie per Telefon oder Video und persönlichen Settings funktioniert“, schilderte Dr. Peter Stippl, Präsident des Bundesverbandes für Psychotherapie. Jetzt gehe es darum, an den besten Errungenschaften festzuhalten und bewährte Services auszubauen. „Patientinnen und Patienten fordern, dass die kontaktlose, telefonische Medikamentenverordnung aufrecht erhalten bleibt und wir nicht in den alten Zustand vor der Krise zurückfallen“, erläuterte Dr. Gerald Bachinger, NÖ Patienten- und Pflegeanwalt.
Die Coronazeit hat gezeigt, wie gut eine gemischte Form von Psychotherapie per Telefon bzw. Video sowie persönlichen Settings funktioniert.
Peter Stippl
Mehr „Quality Time“
Positive Resonanz zeigt sich auch in der digitalen Erweiterung der 1450 Hotline durch eine vorgeschaltete App. Medizinische Konsultationen sollen dort digitalisiert werden, wo es Sinn macht, wo Arbeitsschritte vereinfacht werden können und volkswirtschaftliche Versorgungskosten gesenkt werden, wie beispielsweise im Zuge von Folgekonsultationen oder beim Verschreiben von Dauermedikationen. „Es geht nicht um den Ersatz des Arztes, sondern darum, laufende Prozesse zu vereinfachen und schneller zu machen. Wenn ich mehrere Stunden beim Arzt warten muss, wäre es ein guter Ansatz, die erste Konsultation persönlich zu machen und das zweite Gespräch beispielsweise digital abzuwickeln, wenn die Umstände es erlauben. Wenn wir das hinbekommen, sind wir schon gut aufgestellt“, erläutert Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Ertl vom Institut für Angewandte Synthesechemie der Technischen Universität Wien. Klinische Untersuchungen blieben dort unerlässlich, wo im persönlichen Kontakt wertvolle Informationen aufgenommen werden können, die in einer rein telemedizinischen Konsultation verloren gingen.
Ziel der Digitalisierung muss es sein, den unmittelbaren Nutzen für die Patientinnen und Patienten stets zu reflektieren.
Ulrike Mursch-Edlmayr
Gesunde Mischung
Die Teilnehmenden waren sich einig: Digitalisierung ist dann erfolgreich, wenn mehr Zeit geschaffen wird für die „echte“ Arzt-Patienten-Kommunikation. Sinnvolle Digitalisierungsmaßnahmen sollen die ärztliche Arbeit vereinfachen, unterstützen und ergänzen, nicht ersetzen. Ziel sei es, menschliche Expertise mit technischen Möglichkeiten zu vereinen und Modelle zu kreieren, die Ärztinnen und Ärzte befähigt, eine noch bessere Arbeit zu leisten. Dr. Cornelius Granig, Leiter des Bereichs Cyber Security und Compliance Technology bei Grant Thornton Austria, signalisierte die Notwendigkeit, an Lösungen zu arbeiten, die die Streuung von Fake News verringern und in weiterer Folge Verunsicherungen, Falschinformationen und Fehlentscheidungen minimieren: „Wir brauchen eine öffentliche Stelle, die für jeden Bürger und jede Bürgerin erreichbar ist und als Faktencheck genutzt werden kann. Das ist ein essenzielles Krisenkommunikationsthema“, so Granig über die digitale Informationsflut, die einer verlässlichen Verifizierungsmöglichkeit bedarf. Diesen Ansatz unterstrich auch Mag. pharm. Dr. Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidentin der Österreichischen Apothekerkammer: „Wir müssen sicheres Wissen generieren und dürfen die Menschen hier nicht allein lassen. Ziel der Digitalisierung muss sein, den Nutzen für die Patientinnen und Patienten zu reflektieren und stets zu hinterfragen: Was hilft? Was ist sicher? Was spart Zeit? Was entlastet?“
Priv.-Doz. Dr. Johannes Pleiner-Duxneuner, Medical Director bei Roche Austria, betonte ebenfalls die positive Entwicklung der Nutzung digitaler Möglichkeiten: So können durch die Digitalisierung beispielsweise bei Diabetes oder onkologischen Erkrankungen neue Möglichkeiten im Sinne der Patientinnen und Patienten geschaffen werden. „Nützlich erweist sich, wenn auch erst experimentell angewandt, wenn Patientinnen und Patienten ein elektronisches Tagebuch führen und dem Arzt Informationen liefern, die ansonsten in Vergessenheit geraten würden“, so Pleiner-Duxneuner.
User einbinden
Befunde, die in einfache Sprache übersetzt werden, e-Diagnosen, die den raschen Expertise-Austausch unter Ärztinnen und Ärzten unterstützen, der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Umgang mit großen Datenmengen, service-orientierte Apps, die ein proaktives Gesundheitsmanagement der Patientinnen und Patienten ermöglichen oder die Erstellung von Registern und ihre Nutzung für eine verbesserte Versorgung mit Big Data Methoden — die Möglichkeiten erscheinen endlos. „Künstliche Intelligenz kann helfen, große Datenmengen zu analysieren und evaluieren“, betonte Lukas Seper, Gründer von Xund Solutions. Essenziell ist die Benutzerfreundlichkeit und die Einbindung jener Personen in den Entwicklungsprozess, die mit diesen Anwendungen dann letztendlich auch klar kommen sollen. „Ich sehe großes Potenzial für die Vorsorge. Mit Apps lässt sich viel aktiver mit Menschen kommunizieren“, sagte Klaus Schuster, Global International Affairs bei Caris Life Sciences. Auch Mag. Jan Pazourek, stellvertretender Generaldirektor der AUVA, betrachtet den digitalen Fortschritt optimistisch: „Elektronische Hilfsmittel können dabei unterstützen, Verhaltensmodifikation zu bewirken. Apps dienen als Handlungsanleitung und erzeugen unterstützende Routine.“
Mit dem Thema Digital Health treffen zwei Welten aufeinander. Hier braucht es eine gemeinsame Sprache.
Regina Plas
Stark vernetzt
Auch die positive Entwicklung der Nutzung digitaler Möglichkeiten, wie beispielsweise durch den Einsatz von Software-Lösungen, wurde hervor gehoben. Damit sollen Tumorboards entsprechend vernetzt, Daten aufbereitet und sinnvolle Anwendungen für Patientinnen und Patienten geschaffen werden. Darüber hinaus wurde die Bedeutung des Themas Machine Learning als Bestandteil Künstlicher Intelligenz unterstrichen: „Große Vorteile zeigen sich vor allem für Medizinerinnen und Mediziner, die mit einer Fülle an Fragestellungen zu tun haben. Machine Learning unterstützt hier, um in der Diagnostik gut zu bleiben und besser zu werden“, skizziert Hon.-Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik der AK Niederösterreich, der auch die Vorteile assistiver Technologien im Umfeld von Bewegungsanalysen hochaltriger Personen skizzierte. In jenen Bereichen, in denen unterschiedliche Berufsgruppen zusammenarbeiten — wie Ärztinnen und Ärzte, Physiotherapeutinnen- und therapeuten sowie IT-Profis — zeigt sich die Relevanz innovativer Technologien, Gesundheitsberufe miteinander zu vernetzen und sie dadurch zu unterstützen. Mag. Wolfgang Wacek, Vorstandsmitglied der IGEPHA, sieht beim Thema Mitarbeit bzw. Therapietreue vor allem bei den Apotheken noch viel ungenutztes Potenzial: „Apothekerinnen und Apotheker verfügen über unglaubliches Know-how, das bisher noch nicht umgehend ausgeschöpft wird.“ Ein gelungenes Beispiel für das Zusammenspiel von Gesundheitsberufen im Sinne der Patientinnen und Patienten zeichnete Mag. Martin Schaffenrath, MBA, MBA, MPA, Verwaltungsrat der Österreichischen Gesundheitskasse, mit der App HerzMobil Tirol: „Diese Initiative sollte auf ganz Österreich ausgerollt werden, als Good Practice, wie sich Krankheiten besser erkennen und überwachen lassen.“
Ao. Univ.-Prof. Dr. Christoph Neumayer, Universitätsklinik für Chirurgie, Klinische Abteilung für Gefäßchirurgie der Medizinischen Universität Wien, unterstrich die positiven Nebeneffekte der Digitalisierung dort, wo Prozesse vereinfacht werden, warf jedoch einen kritischen Blick auf das praktische Umfeld von Medizinerinnen und Medizinern: „Man kann nicht erwarten, dass digitale Werkzeuge von den Ärztinnen und Ärzten befürwortet werden, wenn sie die tägliche Arbeit komplizierter machen. Wenn das Ausstellen eines Rezepts über den analogen Block schneller geht als über das System, dann wird sich das System nicht bewähren. Eine Entbürokratisierung ist immer erstrebenswert und auch schon lange angedacht. Es ist gut, wenn das jetzt forciert wird.“ Die Vereinfachung von Abläufen darf allerdings nicht mit Digitalisierung gleichgesetzt werden. Darüber hinaus sei auf technischer Seite meist mehr möglich, als in der tatsächlichen Anwendung ausgeschöpft wird. So ist für Mag. Ursula Weismann, Geschäftsführerin der Sozialversicherungs-Chipkarten Betriebs- und ErrichtungsgmbH — SVC, die Digitalisierung weniger eine technische als eine soziale Hürde: „Für viele Apps ist eine Handy-Signatur zur sicheren Authentifizierung erforderlich. Diese ist aber noch nicht durchgängig unter allen Versicherten verbreitet. Wir müssen hier zu einer weitläufigeren Nutzung kommen, um die technischen Möglichkeiten tatsächlich ausschöpfen zu können.“
Machine Learning unterstützt uns, um in der Diagnostik gut zu bleiben und besser zu werden.
Bernhard Rupp
Digital Health: Zwei Welten — ein gemeinsames Verständnis
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gipfelgespräche waren sich einig, dass nicht auf jene Menschen vergessen werden dürfe, die den Umgang mit digitalen Tools erst erlernen müssen. Gleichzeitig solle der Blick auf die Digital Natives, die mit digitalen Themen aufgewachsen sind, gerichtet werden, um zusammen intuitive Lösungen zu gestalten. Es mache Sinn, zusammen mit Startups Kollaborationen zu schaffen, die ein innovatives Öko-System ermöglichen. Idealerweise werden Akteure an einem Tisch vereint, die einerseits die Sprache der Medizin sprechen und andererseits die Gesetze der Digitalisierung verstehen.
Start-ups sind beim Thema Digitalisierung daher stets vorne mit dabei. Die Entwicklung sinnvoller Apps müsse immer auch auf fruchtbaren Kooperationen basieren, wie auch Dr. Alexander Biach, Standortanwalt für Wien, betonte: „Im Start-up-Bereich gibt es viele innovative Ideen.“ Das Wiener Start-up Mooci betreibt beispielsweise eine Online-Plattform für plastische Chirurgie, Dermatologie und Zahnmedizin: „Vollständige Daten sind das Gold der Zukunft“, sagte Janis Jung, MSc, Gründer und CEO von Mooci. „Wichtig ist Transparenz dahingehend, was mit den Daten passiert, sodass die Datenhoheit erhalten bleibt.“ Für Dr. Florian Burger von der Abteilung Sozialversicherung der AK Wien stellt sich in Punkto Digitalisierung auch das Problem der Ethik. „Um den Einsatz der Mittel zu rechtfertigen, muss eines der Hauptziele sein, Leiden der Patientinnen und Patienten zu verringern. Erst danach sollten Fragen der Usability und Kostenoptimierungen folgen. Die Datensysteme müssen nach ethischen Vorstellungen ausgerichtet werden.“
Digital Health braucht Verantwortung, Verständnis und geschicktes Zusammenspiel aller Player: Die Chancen der digitalen Technologien sollen menschliche Expertise ergänzen, aber niemals ersetzen.
„Die Vielzahl und Geschwindigkeit der technologischen Entwicklungen haben das Potenzial, das Gesundheitswesen nachhaltig zu verändern. Dies kann aus gesundheitsökonomischer Perspektive nützlich sein. Es ist aber nicht alles Gold, was glänzt, und die einzelnen Innovationen müssen auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis überprüft werden.“
„Die NÖ Landesgesundheitsagentur ist ein wegweisendes und zukunftsgerichtetes Unternehmen, das Gesundheit und Pflege aus einer Hand bietet. Das birgt Chancen für die digitale Infrastruktur, etwa durch Steigerung der Interoperabilität zwischen Systemen oder Verbesserung der Infoflüsse zwischen Akteuren.“
„Wichtig beim Thema e-sHealth ist, dass ELGA keine Belastung, sondern eine Entlastung für Ärztinnen und Ärzte bringt, derzeit ist es leider noch nicht so. Das Vorantreiben der Digitalisierung bedarf noch vieler Vorarbeiten und klarer Rahmenbedingungen.“
„Nur eine fächerübergreifende und somit vernetzte Forschung wird in Zukunft zum Erfolg führen. Hierbei werden die ,Digitalisierung‘ und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten einen entscheidenden Beitrag leisten und als Motor für evidenzbasierte Medizin dienen.“
„Zur Versorgungssicherung bieten sich die Potenziale digitaler Lösungen an. Wir arbeiten daran, diese Vision wahr werden zu lassen. Telemedizinische Konzepte zum Beispiel können spezialisierte Expertise allumfassend verfügbar machen und damit die qualitativ hochwertige Versorgung in strukturschwächeren Regionen sichern.“
Themenkreis Digitalisierung
Für das Weißbuch „Zukunft der Gesundheitsversorgung“ wirkten u. a. mit:
Dr. Gerald Bachinger
Dr. Alexander Biach
Dr. Andrea Vincenzo Braga
DI Martin Brunninger, MSc
Dr. Florian Burger, MA
Bastian Cantieni, MA
Dr. Thomas Czypionka
Dr. Patrick Dümmler
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Peter Ertl
Dr. Cornelius Granig
Dr. Achim Hein
Lisa Holzgruber, MSc
Mag. PHDr. Susanne Höllinger
Andreas Huss, MBA
Dr. Martina Jeske, MSc
Janis Jung, MSc
Dr. Naghme Kamaleyan-Schmied
Univ.-Prof. Dr. Lars-Peter Kamolz
Andreas Kolm, MA, LL.M.
Dr. Elisabeth Lackner
Mag. Michaela Latzelsberger
Mag. (FH) Veronika Mikl
Mag. pharm. Dr. Ulrike Mursch-Edlmayr
Ao. Univ.-Prof.-Dr. Christoph Neumayer
Mag. Jan Pazourek
DI Regina Plas
Priv.-Doz. Dr. Johannes Pleiner-Duxneuner
Dr. Erwin Rebhandl
Prof. Dr. Reinhard Riedl
Hon.-Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp
Priv.-Doz. Mag. pharm. DDr. Phillip Saiko
Mag. Martin Schaffenrath, MBA, MBA, MPA
Dr. Günther Schreiber
Mag. Dr. Klaus Schuster, MA, MD, MBA
Lukas Seper
MR Dr. Johannes Steinhart
Dr. Peter Stippl
ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres
PhD, Mag. pharm. Thomas Veitschegger
Mag. Wolfgang Wacek
Mag. Ursula Weismann
Stand: 30. September 2020
Fotocredits: NÖ LGA, Helga Auer, Bernhard Bergmann, Privat, Shutterstock (2), Peter Provaznik (16), Manfred Weis, Beigestellt, Katharina Schiffl, Peri Onlineexperts, Jurka, Arthur Michalek, Privat (3), Stefanie Starz, Die Fotografen