Prof. DI Dr. Reinhard Riedl, Leiter des transdisziplinären Zentrums Digital Society der Berner Fachhochschule, geht im Gespräch mit dem Schweizer Digital-Health-Experten Dr. Patrick Dümmler, Clustermanager bei Health Tech Cluster Switzerland (HTCS), den Fragen nach, welche Vorteile das Lernen von Good-Practice-Beispielen im Gesundheitswesen hat, wie gesetzliche Hindernisse hier die Entwicklung von Innovationen hemmen und warum man stets die Chancen statt den Risiken im Fokus behalten sollte. | von Mag. Dren Elezi, MA
Durch die Coronapandemie wurden die Gesundheitssysteme auf den Prüfstand gestellt, weshalb Zukunftskonzepte immer mehr gefragt sind. In Österreich findet im PRAEVENIRE Weißbuch-Prozess ein intensiver Austausch zwischen Stakeholdern und Expertinnen und Experten statt. Ein ähnlicher Prozess wäre auch in der Schweiz wünschenswert.
RIEDL: 2019 waren Sie Vortragender bei den PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten. Welchen Eindruck haben Sie dabei gewonnen?
DÜMMLER: Die österreichischen Expertinnen und Experten haben bereits eine eigene Community gebildet, die sich oft austauscht. Das ist in der Schweiz erst in Ansätzen vorhanden. Durch die internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurde deutlich, wie viel die unterschiedlichen Gesundheitssysteme in Europa voneinander lernen können.
Good-Practice-Beispiele dienen als Inspirationsquelle und fördern positive Entwicklungen. Warum ist dieser Ansatz in vielen Ländern nicht sehr verbreitet?
Diese Art des Erfahrungsaustauschs ist zwar in vielen Ländern üblich, allerdings nicht im Gesundheitsbereich. Dieser wird oft als rein nationale Angelegenheit betrachtet und daher wird zu wenig beobachtet, was in anderen Ländern gut oder weniger gut funktioniert. Ein grenzüberschreitender Austausch von Good-Practice-Beispielen wäre im Gesundheitswesen in vielen europäischen Staaten jedoch dringend nötig.
Bei der Erstellung des PRAEVENIRE Weißbuchs 2030 „Zukunft der Gesundheitsversorgung“ ist immer wieder das Argument gefallen, dass sich durch die vielen nationalen Besonderheiten Methoden und Praktiken aus anderen Ländern nicht auf das eigene Gesundheitssystem transferieren lassen. Wie häufig trifft man im Schweizer Gesundheitswesen auf dieses Argument?
In der Schweiz wird dieses Argument noch stärker strapaziert, weil die Gesundheitspolitik in den Verantwortungsbereich der Kantone fällt und wir streng genommen 26 verschiedene Gesundheitssysteme haben. Grundsätzlich müsste das kein Nachteil sein, da man so viel voneinander lernen könnte. Die Frage ist allerdings, was schlussendlich tatsächlich umgesetzt wird. Generell ist das Gesundheitswesen in Europa — nicht nur in der Schweiz — sehr politisiert und wird durch Gesetze und Regulierungen in seiner Handlungsfähigkeit beschränkt. Das führt naturgemäß zu Hürden in der Umsetzung von Learnings aus anderen Ländern und Kantonen.
Ein grenzüberschreitender Austausch von Good-Practice-Beispielen wäre im Gesundheitswesen in vielen europäischen Staaten jedoch dringend nötig.
Patrick Dümmler
Der Weiterentwicklung der digitalen Transformation stehen oft gesetzliche Hürden entgegen. Was sollte man dagegen tun?
Die Überregulierung und die damit verbundenen Rechtsfolgen verhindern mutige Schritte in der digitalen Entwicklung. Gesetze haben grundsätzlich gute Absichten und sollen Risiken möglichst ausschließen. Wir müssen uns allerdings die Frage stellen, welche Gesetze Sinn machen und nutzenstiftend sind. Aus meiner Sicht gibt es bestimmte Bereiche, wo wir diese Punkte überschritten haben. Statt uns auf die Risiken zu fokussieren, müssen die Bürgerinnen und Bürger lernen, risikotoleranter zu werden.
Was nehmen Sie aus dem Weißbuch an interessanten Perspektiven mit und welche Perspektiven wären auch für die Schweiz relevant?
Für mich war die Hauptaussage, dass die unterschiedlichen Stakeholder an einem Strang ziehen. Diese Art des Austausches müssen wir weiter anstreben und forcieren. Es gibt in der Schweiz bereits Foren, wo ebenfalls ein Austausch stattfindet, jedoch nicht so umfassend wie es in Österreich mit der Erstellung des Weißbuches geschehen ist.
Wenn wir an die konkreten Empfehlungen denken, die im Weißbuch stehen, was sind Themen, die auch in der Schweiz hochaktuell wären?
Ein Thema, das derzeit in vielen europäischen Ländern intensiv diskutiert wird, ist die Versorgungssicherheit bei medizinischen Produkten. Angesichts der Coronapandemie wurde diskutiert, wie man entsprechende Impfstoffe, aber auch entsprechende Schutzausrüstungen wie beispielsweise Masken, im eigenen Land herstellen kann. In der Schweiz ist das ein großes Thema, da dem Schweizer Bundesrat von Unternehmen das Angebot gemacht wurde, in die Impfstoffproduktion einzusteigen. Innerhalb kürzester Zeit hätte man so Millionen Dosen produzieren können. Doch darauf wurde nicht eingegangen. Generell stellt sich die Frage, wo man die Trennlinie zieht zwischen dem, was ein Staat produziert, und wo der Staat auf die Privatwirtschaft vertraut und einkauft. Meiner Meinung nach sollten Lösungen vermehrt im europäischen Kontext angestrebt werden: was in Europa produziert und was vorrätig gehalten werden soll, um die Bevölkerung im Bedarfsfall rasch versorgen zu können. Nationale Perspektiven sind hier der falsche Ansatz.
Heftig diskutiert wird die Nutzung personenbezogener Daten im Gesundheitswesen. Warum ist hier ein Konsens so schwer zu erzielen?
Dieses Thema ist für die Bevölkerung sehr sensibel. Daher müssen wir vor allem Vertrauen schaffen. Denn ohne dieses nützen uns die bereits vorhandenen Digital-Health-Lösungen und das Potenzial der Digitalisierung wenig. Negativbeispiele in den Medien tragen selbstverständlich nicht dazu bei, dass das Vertrauen bei den Menschen steigt, vielmehr vermitteln sie ein falsches Bild der Chancen von Digital-Health-Lösungen.
Auch bei Ärztinnen und Ärzten gibt es beim Thema Big Data oft großen Widerstand. Nicht selten wird argumentiert, dass es keine absolute Sicherheit vor Datenmissbrauch gibt. Zudem ist die Befürchtung groß, dass das elektronische Patientendossier (EPD) ein „PDF-Friedhof“ wird. Wie sehen Sie das?
Man muss sich klar werden, dass es keine 100-prozentige Sicherheit gibt. Aber man sollte den Anspruch haben, diesem Ziel möglichst nahe zu kommen. Wir müssen der Bevölkerung vermitteln, dass die Vorteile digitaler Gesundheitsdaten überwiegen und diese auch helfen können, in Situationen wie der aktuellen Coronapandemie rasch zu reagieren. Aus Patientensicht würden Daten mehr Transparenz schaffen und beispielsweise die Qualität einzelner Gesundheitsanbieter sichtbar machen.
Im Weißbuch wird eine engere Zusammenarbeit zwischen Gesundheits- sowie IT-Expertinnen und -Experten gefordert. Was kann man hier tun, um Netzwerke und Zusammenarbeit zu fördern?
Ein gutes Beispiel dafür ist der Health Tech Cluster Switzerland — ein Netzwerk von Herstellern, Zulieferern, Forschungs- und Bildungseinrichtungen sowie Dienstleistern und Investoren im Bereich der Gesundheitstechnologie. Unsere Mitgliederinnen und Mitglieder bilden die gesamte Wertschöpfungskette ab, die sich letztlich an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientiert. Wenn beispielsweise ein Zulieferer einer medizintechnischen Spezialkomponente bereits im Vorfeld weiß, welche Bedürfnisse beim Einsatz im Spital bestehen, kann er sein Produkt optimal daran anpassen. Er versteht besser, was der Kunde seines Kunden will. Diese Brücken zu bauen, ist Aufgabe des Health Tech Clusters. Unsere 280 Mitgliedsunternehmen kommen aus den Bereichen Medizintechnik, Diagnostik, Pharma und Biotech. Ebenfalls im Netzwerk sind Spitäler und Versicherer. Dies schafft eine gute Grundlage für den Austausch.
Der heurige Digital-Health-Workshop bei den PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten beschäftigt sich mit Blended Care. Wie können hier Unternehmen beispielsweise bei der Entwicklung von Apps und Tools im Health-Tech-Bereich gefördert werden?
Wir müssen uns bei der Zulassung in erster Linie fragen, welche Chancen wir wahrnehmen und welche Risiken wir eingehen möchten. Während in den USA die Umsetzung einer Innovation relativ rasch möglich ist, stellt der Zertifizierungsprozess in Europa Unternehmen vor große Hürden. Denn bei uns muss eine Idee oder Innovation zuerst ausgiebig auf Nutzen und Risiko geprüft werden, bevor das Unternehmen weiß, ob es am Markt überhaupt einen Erfolg haben könnte. Daher sollten wir diskutieren, ob man durch den Zertifizierungsprozess tatsächlich jegliches Risiko ausschließen muss, oder ob kalkulierbare Risiken auch Vorteile mit sich bringen würden.
Es ist davon auszugehen, dass die digitale Transformation praktisch alle Bereiche fundamental verändern wird. Welche Entwicklung wird die Health-Tech-Branche in den nächsten zehn Jahren in der Schweiz nehmen?
Ich sehe in den nächsten zehn Jahren keine fundamentalen Änderungen im Schweizer Gesundheitssystem. Das bedeutet auch, dass die Kosten stetig steigen werden. Daher ist es Zeit, eine offene Diskussion darüber zu führen, welche Prozesse im Gesundheitswesen nutzenstiftend sind. Damit verbunden ist auch die Frage nach der Effizienz der eingesetzten finanziellen Mittel. Ohne eine solche Diskussion fürchte ich, werden die Fortschritte sehr gering sein. Hingegen sehe ich in der Health-Tech-Branche großes Potenzial. Insbesondere in Produkten und Dienstleistungen, die die Gesundheit verbessern. Impfstoffe auf Basis der mRNA-Technologie sind hier ein gutes Beispiel, denn sie zeigen, welche Quantensprünge binnen kurzer Zeit möglich sind. Auf die Schweiz bezogen bin ich hier besonders optimistisch, denn wir haben starke Pharma- und Biotechunternehmen. Auch die Medizintechnikbranche ist in der Schweiz sehr stark aufgestellt, allerdings sehe ich zwei Unsicherheiten: Das betrifft zum einen die Rückvergütung in den USA, wo es nicht wie in den europäischen Staaten fixe Höchstbeträge gibt, die vergütet werden. Sollte das in Zukunft entsprechend reguliert werden und sollten die Preise in den USA sinken, wird das auch Auswirkungen auf die Budgets und die Forschung bei pharmakologischen Unternehmen haben. Die zweite Unsicherheit sehe ich im Bereich der Medizintechnikbranche. Das Abkommen über die technischen Handelshemmnisse (MRA) zwischen der Schweiz und der EU führt zu einer Harmonisierung und gegenseitigen Anerkennung der Anforderungen. Dies ermöglicht die gleiche Produktausführung sowohl für die Schweiz wie auch den EU-Binnenmarkt. Damit liegen die Produktions- und Bürokratiekosten tiefer als ohne MRA. Doch die Schweizer Medtech-Regelungen werden ab dem 26. Mai 2021 – Stand heute – von der EU nicht mehr als gleichwertig anerkannt. Dies hat Auswirkungen auf den Export, Schweizer Hersteller müssen ihre Produkte fortan im EU-Raum zertifizieren lassen. Ohne eine Fortsetzung des Abkommens ist mit zusätzlichen Hürden beim EU-Marktzugang für Schweizer Unternehmen zu rechnen.
Was wäre der Weg, um diese Situation zu vermeiden?
Es braucht eine bessere politische Verständigung zwischen der EU und der Schweiz. Es gibt seit 30 Jahren intensive Gespräche und gute Erfolge. Doch jetzt gilt es, ein institutionelles Rahmenabkommen zu schließen. Eine automatische Aufdatierung der Verträge scheint momentan im Bundesrat nicht mehrheitsfähig zu sein. Daher erachte ich es als sinnvoll, das Rahmenabkommen dem Schweizer Volk vorzulegen. Zurzeit besteht die Gefahr, dass der Bundesrat das Abkommen ablehnt, was nicht nur Probleme für die Medizintechnikbranche kreiert, sondern auch für viele andere Branchen eine Herausforderung wäre.
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Dr. Patrick Dümmler ist Clustermanager des Health Tech Clusters Switzerland. Er hält einen Master in Volkswirtschaft der Universität Zürich, doktorierte an der ETH Zürich und publizierte mehrere Lehrbücher. Nach über zehn Jahren in der Strategieberatung und Leitung eines Vereins zur Förderung der Medizintechnik-Exporte ist Patrick Dümmler seit 2015 für den Cluster tätig.
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Prof. DI Dr. Reinhard Riedl promovierte in Mathematik an der Universität Zürich. Der gebürtige Oberösterreicher übernahm 2006 eine Forschungsprofessur für e-Government an der Berner Fachhochschule (BFH). Heute forscht er zur digitalen Transformation der Fachberufe und den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Riedl war auch Präsident der Schweizer Informatik Gesellschaft und der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik Bern.
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