Der Internist Dr. Andreas Krauter, MBA ist ärztlicher Leiter der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) und Leiter des Fachbereichs Medizinischer Dienst. Im Gespräch mit PERISKOP erklärt er, warum es dem Gesundheitswesen helfen kann, Geschichtsbücher zu studieren, die Gesundheitskompetenz zu stärken und Kinder und Jugendliche zu fördern. | von Mag. Renate Haiden
Es gibt ausreichend Belege dafür, dass Vorsorgeuntersuchungen persönliches Leid, aber auch volkswirtschaftliche Kosten sparen.
PERISKOP: Warum ist das heimische Gesundheitswesen dennoch immer wieder zögerlich, wenn es um die Umsetzung von passenden Programmen geht?
KRAUTER: Ich bemühe mich aktiv, das Thema der Vorsorgeuntersuchung auf ein europäisches Niveau zu bringen. Die Hürden sind nicht neu, denn wir kennen alle die Vielzahl an Playern im Gesundheitswesen, ein Geflecht an Finanzierungs- und Leistungsströmen mit unterschiedlichen Kompetenzen, aber auch Interessen. Wir müssen darauf achten, dass die medizinische Expertise dabei nicht verloren geht, denn die ökonomischen Auswirkungen befassen sich lediglich mit der Frage, welche Kosten entstehen, wenn wir keine Vorsorgemaßnahmen treffen. Das persönliche Leid der Bevölkerung wird nicht monetarisiert.
Woran scheitert es konkret?
Das lässt sich am besten an Beispielen erklären: Die Vorsorgekoloskopie braucht etwa eine passende Lösung für die Finanzierung, sodass es für niedergelassene Fachärzte überhaupt interessant wird, sich zu engagieren. Darüber hinaus sind mir klare Qualitätskriterien wichtig, denn Proben nehmen ist das eine, sie aber einheitlich nach hohen Standards aufzuarbeiten und zu dokumentieren, das andere. Das beste molekulargenetische Wissen hilft uns nicht, wenn wir es nicht systematisiert einsetzen. Damit hier relevante Entscheidungen getroffen werden, braucht es abgestimmte Prozesse. Hier ticken die Uhren sehr langsam. Wenn das so bleibt, dann müssen wir klar sagen: Es sterben Menschen, wenn wir nicht rascher in die Gänge kommen. Nach wie vor sind die Partikularinteressen zu groß, es braucht einen Schulterschluss der Verantwortungsträger, die gemeinsam und rasch eine zeitgemäße Lösung finden wollen.
Warum ist das so schwierig?
Weil die Entscheidungsträger über lange Zeit immer wieder Insellösungen für ungelöste Fragestellungen entwickelt haben. Jetzt möchte klarerweise niemand auf sein bewährtes Provisorium verzichten. Aus der Geschichte heraus ist das natürlich verständlich. Wir haben tiefe föderale Wurzeln und in der Krise zieht man sich auf das zurück, was immer gut funktioniert hat.
Ich denke auch, dass man ehrlich mit den Themen umgehen muss. Das erfordert auch eine Kostenwahrheit. Um bestimmte Leistungen anbieten zu können, braucht es neben dem grundsätzlichen Willen vor allem die personellen Ressourcen, die passende Ausstattung der Ordinationen und die Möglichkeiten der Refinanzierung. Dann muss man diese Komponenten in eine Struktur bringen, um österreichweit ein flächendeckendes Angebot zu schnüren – fehlt ein Teil des Puzzles, so wird das Projekt nicht realisierbar sein. Ehrlicherweise haben wir, wenn man wieder das Beispiel der Vorsorgekoloskopie hernimmt, aktuell nicht ausreichend geschultes medizinisches Personal für eine flächendeckende Umsetzung. Nicht anders verhält es sich etwa mit dem Bauchaortenscreening, einer einfachen Ultraschalluntersuchung zur Früherkennung von Aneurysmen der Bauchschlagader. Auch hier steckt die Diskussion fest, weil nicht geklärt ist, welches medizinische Fachgebiet diese Untersuchungen übernehmen soll.
Bleiben wir bei diesem Beispiel. Welche Player müssten sich in Bezug auf die Vorsorge-Koloskopie einigen?
Es gibt ein paar Verantwortungsträger, wie die Österreichische Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie und die Vertreter von Bund, Ländern und Sozialversicherung. Und hier reicht es nicht, dass diese Player gemeinsam wollen, sondern sie müssen es auch machen. Zudem ist es wichtig, den europäischen Stand der Umsetzung einzubeziehen, denn hier hinken wir deutlich nach. Ich denke auch, dass die Zeit der Berechnungen vorbei ist. Wir wissen längst, dass sich die Vorsorge-Koloskopie rechnet, jetzt braucht man sich nur mehr dazu zu bekennen, dass man auch persönliches Leid, Krankheit und Tod wirklich verhindern will.
Das wäre doch gar nicht so unpopulär. Und dennoch klappt es nicht?
Ja, die Schere zwischen dem Wollen und dem Tun ist groß. Wir haben die gleichen offenen Fragen bei den Kinderimpfprogrammen oder der Impfung im Erwachsenenalter. Allein bei der Grippeimpfung gibt es in den Bundesländern völlig unterschiedliche Vorgangsweisen. Die einen zahlen den Impfstoff, die anderen die ärztliche Leistung. Hier versuchen wir schon seit über zwei Jahren, eine einheitliche Vorgangsweise zu erzielen. Dazu kommt, dass die einen wollen, dass Apothekerinnen und Apotheker impfen, die anderen, dass nur Ärztinnen und Ärzte impfen. Impfstraßen zu betreiben ist auch nicht mehr attraktiv. Wir haben offensichtlich eine Situation, in der sich ein Teil der Verantwortungsträgerinnen und -träger einfach seiner Verantwortung nicht ausreichend bewusst ist. Denn auf der Strecke bleibt am Ende immer die Patientin oder der Patient. Ich denke, dass die Impfwilligkeit – nicht nur bei der Coronaschutzimpfung, sondern etwa auch bei Grippe durchaus höher wäre, wenn es die Medizin richtig vorleben würde! Eine Impfbeteiligung von sechs bis acht Prozent ist ein Ausdruck dafür, dass niemand ernsthaft dahintersteht! Es ist Zeit, klar zu kommunizieren, dass wir nur mit einer entsprechenden hohen Durchimpfungsrate Infektionswellen verhindern können, und zwar ganz einfach: in den Schulen, in den Betrieben und in Alten- sowie Pflegeheimen. Dort würden wir einen Großteil der Menschen gut erreichen und das Ausbreiten von Infektionskrankheiten wirkungsvoll eindämmen können.
Die Botschaft ist klar und einfach, warum kommt sie nicht an?
Als Gesellschaft beschäftigen wir uns nicht gerne mit der unbequemen Frage, was wir selbst beitragen können und müssen, um das Problem zu lösen. Die Gesundheitskompetenz der Österreicherinnen und Österreicher ist nicht vorbildhaft, da ist noch viel Luft nach oben. Daher braucht es dringend Vorbilder, die hier unterstützen, dass die Botschaft ankommt. Wenn sich das Gesundheitspersonal selbst nicht hinter das Impfen stellt, ja wie sollen es denn dann Herr und Frau Österreicher verstehen?
Wer sollte nun aktiv werden und wohin kann die Reise gehen?
Vorbilder und Entscheidungsträger müssen überlegen, wie die Zukunft aussehen kann, denn aktuell ist vieles aus dem Lot geraten – Gesundheit, Klima, Wirtschaft und Versorgung sind nur einige der Themen. Dazu gehört auch, dass wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, die uns zumindest wichtige Hinweise geben kann, auf welche Entwicklungen man sich vorbereiten kann oder muss. So zeigt etwa ein Blick in die historische Literatur, dass es immer wieder pandemische Wellen gab, das haben wir nur verdrängt. Wir können auch feststellen, dass wir – verglichen mit historischen Ereignissen – jetzt sehr gut durch die Pandemie gekommen sind. Diesen Startvorteil müssen wir nutzen und ausbauen. Doch aktuell orte ich genau das Gegenteil: Viele ziehen sich in einen freiwilligen Lockdown-Modus zurück und wollen jetzt ihren geschützten Bereich gar nicht mehr verlassen. Wenn wir jetzt aber als Gesellschaft nicht aktiv werden, dann haben wir keine guten Aussichten, für künftige Krisen gerüstet zu sein.
„Die Zeit der Berechnungen ist vorbei. Wir wissen längst, dass sich die Vorsorgekoloskopie rechnet. Jetzt muss man sich nur mehr dazu bekennen und machen.”
Andreas Krauter
Mit Isolation, Existenzängsten und Perspektivlosigkeit war und ist Corona eine psychische Belastung. Wir sind pandemiemüde, welche Strategie raten Sie dem Einzelnen, jetzt wieder in diese Aktivität zu kommen?
„Gemeinsam bewegen“ ist das Stichwort, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn wir uns mit anderen austauschen, körperlich aktiv werden und uns vernünftig ernähren, haben wir die wichtigsten Regeln befolgt. Das Wissen ist auch nicht neu, vieles ist uns aber im digitalen Alltag so verloren gegangen, dass wir die einfachsten Möglichkeiten nicht mehr sehen. Bei vielen chronischen Erkrankungen ist ein gesunder Lebensstil mit den drei Säulen Psyche, Bewegung und Ernährung der zentrale Erfolgsfaktor. Das ist gar nicht so sehr ein medizinisches Thema, sondern eine Frage der Gesellschaft. Wenn wir uns ständig auf Tod und Krankheit konzentrieren, auf Niederlagen und Krisen, dann werden wir keine Perspektiven erkennen. Es ist wichtig, in die Zukunft zu investieren, das sind Kinder und Jugendliche. Sie müssen gefördert werden, das beginnt bei der Gesundheit und geht bis zur Ausbildung und den sozialen Rahmenbedingungen. Nur so werden wir als Gesellschaft wirklich zukunftsfit.
Österreich liegt in puncto gesunde Lebensjahre unter dem EU-Durchschnitt. Liegt das nur am föderalistischen System?
Der Interessengegensatz und die mangelnde Gesundheitskompetenz sind Haupthindernisse.
Niemand fühlt sich zuständig, der Bevölkerung zu erklären, dass es wichtig ist, selbst für sich und seine Gesundheit zu sorgen und welche Zusammenhänge es gibt. Es reicht nicht, erst im Alter von 50 oder später zu reagieren.
Ein gesunder Lebensstil muss schon in jungen Jahren den Grundstein legen, gesund alt zu werden. Auch hier ist viel Wissen offensichtlich auf der Strecke geblieben – wer erinnert sich heute noch an Aktionen wie „fit mach mit“ mit Ilse Buck, die als Radiomoderatorin von 1965 bis 1998 jeden Morgen mit isometrischen Turnübungen zur Vorturnerin der Nation wurde? Einfache Maßnahmen haben oft große Wirkung, doch das erfordert, dass man diese
Zusammenhänge kennt und weiß, wo man ansetzen muss. Dieses Systemwissen fehlt über weite Strecken in der Bevölkerung, aber auch in der Politik.
„Ich bin Mediziner und möchte Arbeit am Menschen leisten. Das geschieht eher leise und im Verborgenen bzw. im Zwischenmenschlichen.”
Andreas Krauter
Der Verein PRAEVENIRE ist mit seinem Gesundheitsforum und der Initiative Gesundheit 2030 der größte Thinktank für das österreichische Gesundheitssystem und setzt sich aktiv für ein leistungsfähiges Gesundheitssystem ein. Wie schätzen Sie die Bedeutung dieser Aktivitäten ein?
Ich bin Mediziner und möchte Arbeit am Menschen leisten. Das geschieht eher leise und im Verborgenen bzw. im Zwischenmenschlichen. Daher scheue ich große Aktionen mit viel Marktgeschrei, die oft den Eindruck erwecken, dass viel geredet, aber wenig umgesetzt wird. Ich meine, wenn man gut arbeitet, dann müssten die Ergebnisse automatisch auch bei den Verantwortlichen richtig ankommen, ohne von vielen Interessen abhängig zu sein. Dennoch sehe ich, dass diese vielen unterschiedlichen Wünsche, Bedürfnisse und Stoßrichtungen das größte Hindernis sind, dass Ziele erreicht werden. Daher braucht es wohl auch diesen Konsens einer breiten Gruppe an Expertinnen und Experten. Der muss aber auch darin münden, dass nicht nur etwas gewollt wird, sondern auch die Umsetzung zeitnah ins Rollen kommt.
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