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Rare Disease Therapien im Krankenhaus

© Krisztian Juhasz

Rare Disease Therapien im Krankenhaus

© Krisztian Juhasz

Menschen mit Seltenen Erkrankungen haben mit vielen Einschränkungen und Belastungen zu kämpfen. Die Entwicklung innovativer Therapien durch umfassende und hochspezialisierte medizinische Forschung stärkt die Hoffnung für Betroffene und Angehörige im Bereich Seltener Erkrankungen. Im Rahmen eines Gipfelgesprächs bei den 7. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten diskutierten Expertinnen und Experten wie der Zugang zur bestmöglichen Therapie für Patientinnen und Patienten innerhalb von Krankenanstalten organisiert und gewährleistet werden kann. | von Christian Lenoble

Von A wie Aarskog-Scott-Syndrom (erbliches Erkrankungsbild mit multiplen Fehlbildungen des
Gesichtes, der Finger und der Geschlechtsorgane; wenige hundert Fälle weltweit) bis Z wie Zellweger-Syndrom (genetisch bedingte, tödlich verlaufende Stoffwechselkrankheit; Prävalenz bei 1:100.000 Neugeborenen) reicht die breite Palette der Seltenen Erkrankungen. Von „selten“ wird gesprochen, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind.

Bis zu 8000 dieser Rare bzw. Orphan Diseases sind weltweit gelistet. In Österreich leiden etwa 400.000 Menschen daran, innerhalb der EU schätzt man die Zahl auf 30 Millionen. Betroffene haben mit vielen Einschränkungen und Belastungen zu kämpfen, die häufig angeboren, chronisch, multisystemisch und progressiv sind. Für die überwiegende Mehrheit der Erkrankungen (über 95 Prozent) gibt es bisher keine spezifische Behandlung. Hoffnung schürt in jüngster Zeit die Entwicklung innovativer Therapien durch umfassende und hochspezialisierte medizinische Forschung,  die künftig durch verschiedenste Anreizsysteme noch stärker unterstützt werden soll. Schließlich befindet sich die Industrie, ökonomisch betrachtet, in einem „Geschäft“ mit hohem Risiko. Unternehmen der pharmazeutischen Industrie müssen langfristig in die Therapieentwicklung investieren, ohne dabei eine Erfolgsgarantie zu haben. Dazu Zahlen, welche die Herausforderung illustrieren: In den Jahren 2000 bis 2019 wurden 3443 Anträge auf Erteilung des Orphan-Drug-Status gestellt. 2233 davon erhielten die Zuerkennung, von denen bislang allerdings nur 164 die Zulassung als Orphan Drug erreichten. Ziel ist es künftig, die Versorgung zu verbessern, Zugang, Verfügbarkeit und Leistbarkeit von Therapien zu sichern und ein Gleichgewicht zu finden, das auch die marktwirtschaftlichen Ansprüche der Industrie berücksichtigt.

Für das Gewicht einer Empfehlung eines Boards ist vor allem dessen Besetzung relevant, bei der Träger und Krankenanstalten freie Hand haben.

Herausforderungen im klinischen Umfeld

Beim 160. PRAEVENIRE Gipfelgespräch im Rahmen der 7. PRAEVENIRE Gesundheitstage im
Stift Seitenstetten wurden unter dem Motto „Fokus intramural“ insbesondere der Zugang zu Rare Disease Präparaten im Krankenhaus, das rechtlich gebotene Behandlungsniveau in Krankenanstalten und die Rolle der Klinischen Pharmazie thematisiert. Zur Diskussion standen unter anderem die Fragen: Wie wird der Zugang zu Therapien für Seltene Erkrankungen in der klinischen Praxis erlebt, was sind die Hürden bzw. Herausforderungen und wo besteht dringender Handlungsbedarf? Wie ist der Umgang mit neu zugelassenen Präparaten, die einen hohen „unmet medical need“ adressieren, bei denen aber die verfügbaren Evidenzen noch gering sind? Welche Zahlungsmodelle stehen in der Praxis zur Verfügung? Und: Wie hilft in all diesen Themenkreisen das Leistungsportfolio der Klinischen Pharmazeutinnen und Pharmazeuten?

Ein gemeinsamer Finanzierungstopf, aus dem Medikamente und Therapien bezahlt werden, wäre ein großer Fortschritt.

Rechtliche Situation in den Krankenanstalten

Einen Einblick in die Rolle von „Boards“ bei der Feststellung des rechtlich gebotenen Behandlungsniveaus in Krankenanstalten gab in seinem Impulsreferat Univ.-Ass. Dr. Matthias
Lukan vom Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht der WU
Wien. „Boards sind nicht gesetzlich geregelt. Sie sind nicht in die Hierarchie der Krankenanstalten eingegliedert und das Gesetz schreibt ihnen keine Zuständigkeit zu, das Behandlungsniveau zu ermitteln. Dies bleibt alleine Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte“, so Lukan. Boards können faktisch eine relevante Rolle spielen – vergleichbar mit Leitlinien einer Fachgesellschaft – wenn die ausgegebenen Empfehlungen auf wissenschaftlicher Expertise beruhen. Diese Beurteilung obliegt jedoch den Ärztinnen und Ärzten, die selbst die Qualität
der Quelle überprüfen, den Stand der Wissenschaft ermitteln und schlussendlich im Einzelfall die therapeutische Methode auswählen müssen. Für das Gewicht einer Empfehlung eines Boards sei laut Lukan vor allem dessen Besetzung relevant, bei der Träger und Krankenanstalten freie Hand haben. Der Ärztin, dem Arzt bleibt die Prüfpflicht, von der sie
bzw. er rein rechtlich nicht entbunden werden kann. Dass die rechtliche Situation hinsichtlich des Behandlungsniveaus in den Krankenanstalten gut adressiert ist, betonte in diesem Zusammenhang MMag. Astrid Jankowitsch, Head Public Policy, Communications & Patient Advocacy bei der Takeda Pharma GmbH.

Zentral gebündelte Expertise

„Nichtsdestotrotz gibt es gerade bei den Therapien für Seltene Erkrankungen starke regionale Unterschiede. Es gilt, weiter an der Institutionalisierung zu arbeiten und die Patientenversorgung allumfassend sicherzustellen“, so Jankowitsch. „Für alles was selten ist, braucht es Übung und Expertise. Ein Zentrieren dieser Expertise scheint mir notwendig, um die bestmögliche Therapie zur Verfügung stellen zu können“, bemerkte dazu Dr. Elisabeth Messinger, Leiterin der Anstaltsapotheke des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder Wien. Patientinnen und Patienten sollen nicht von Bundesland zu Bundesland wandern müssen. Im Sinne der Serviceorientierung müssen hier bessere, zentrale Lösungen gefunden werden. Die Meinung, dass die Behandlung von Seltenen Erkrankungen mit hochspezifischen Medikamenten in ein Zentrum gehört, vertrat auch Mag. pharm. Marion Alt, Leiterin der Anstaltsapotheke des Krankenhauses Oberwart: „In der Peripherie können wir nicht zu jedem Spezifikum gleich informiert sein, hierfür sind Zentren besser geeignet.“ Die Therapie dürfe nicht von der Postleitzahl abhängen, betonte ebenfalls Mag. pharm. Gernot Idinger, Leiter der Anstaltsapotheke des Pyhrn-Eisenwurzenklinikums Kirchdorf Steyr und Lead Buyer der OÖ Gesundheitsholding.

Gemeinsamer Finanzierungstopf

Idinger plädierte zudem für die Entwicklung innovativer Finanzierungsmodelle für hochpreisige Therapeutika für Seltene Erkrankungen. Nachdem es darum gehe, aktuelle und neue Produkte auf leistbarem Weg zu den Patientinnen und Patienten zu bringen, erschwere die gängige Praxis der nach Bundesländern verschieden geregelten Bewilligungen von Medikamenten und Therapien die Situation für die Betroffenen. „Ein gemeinsamer Finanzierungstopf, aus dem Medikamente und Therapien bezahlt werden, wäre ein großer Fortschritt“, so Idinger. Laut Expertinnen und Experten fehle diesbezüglich noch eine Struktur bzw. ein bundesweit übergreifendes Expertengremium. 

Nichtsdestotrotz gibt es gerade bei den Therapien für Seltene Erkrankungen starke regionale Unterschiede. Es gilt, weiter an der Institutionalisierung zu arbeiten und die Patientenversorgung allumfassend sicherzustellen .

Die Bemühungen, Patientinnen und Patienten zu den Experten und medizinischen Zentren zu bringen, reichen nicht aus, wenn diese dann mit den Kosten allein gelassen werden. Wie die Finanzierung von sehr teuren Medikamenten funktionieren kann, zeigt sich laut Dr. Wolfgang Ibrom, Leiter der Anstaltsapotheke am Ordensklinikum BS Elisabethinen Linz, an ausländischen Beispielen: „In Deutschland, Italien oder England hat man dafür einen eigenen Innovationsfonds eingerichtet. Das wäre auch für Österreich ein guter Lösungsansatz.“
Der gemeinsame Tenor der Fachleute: Die Finanzierung aus einer Hand muss möglich sein. Der übergreifende Zusammenschluss der Zahler, also Sozialversicherungen, Bund, Länder, Gesundheitsfonds und Spitäler, wäre eine Option. Patientinnen und Patienten sollen sich jedenfalls nicht die Frage stellen müssen, wer zahlt. Die Bezahlung der Therapien sollte außer Frage stehen und die Entscheidung in den Vordergrund rücken, wo die Verabreichung der bestmöglichen Medikamente und Behandlungen am sinnvollsten ist. Wie wichtig in diesem Zusammenhang die Erfassung von tauglichen Daten ist, hielt Mag. pharm. Martina Jeske, Leiterin der Anstaltsapotheke der LKH-Universitätskliniken Innsbruck, fest: „Es braucht Langzeitdaten, um zu wissen, welche Medikamente einen Mehrwert haben, und welche nicht.“ Der Best Point of Care scheitert laut Jeske im Moment an finanziellen und intersektoralen Regelungen: „Patientinnen und Patienten haben noch viel zu lange und mühselige Wege.“ 

Wir brauchen Klinische Pharmazeutinnen und Pharmazeuten als Schlüsselfiguren des Know-how-Transfers, um Patientinnen und Patienten auch extramural bestmöglich weiterzuversorgen.

Stellenwert der Klinischen Pharmazie

Einigkeit herrschte unter den Expertinnen und Experten über die wachsende Bedeutung von Klinischen Pharmazeutinnen und Pharmazeuten, gerade im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen. „Unser Aufgabenbereich ist sehr breitgefächert. Das reicht von der Erfassung und Beurteilung von Medikamenten bis hin zur Beratung von Patientinnen und Patienten, die aus dem Spital entlassen werden“, sagte Mag. pharm. Gunda Gittler, Leiterin der Anstaltsapotheke der Barmherzigen Brüder Linz. Letzteres werde etwa schlagend, wenn teure und hoch wirksame Medikamente Patientinnen und Patienten als Tabletten mit nach Hause gegeben werden. „Die Menschen sind dann alleine oft überfordert. Wir haben deshalb gerade ein Projekt initiiert, bei dem wir mit begleitenden Informationsbögen die Patientinnen und Patienten aufklären und unterstützen. Auch das ist klinische Pharmazie“, so Gittler. Von der grenzüberschreitenden Funktion berichtete ebenfalls Mag. pharm. Enja Woritzka, die sowohl in einer öffentlichen Apotheke als auch als klinische Pharmazeutin am Pyhrn-Eisenwurzenklinikum Steyr tätig ist: „Wir haben an der Orthopädie Steyr aktuell ein Projekt, bei dem wir Rauchentwöhnungsprogramme vor und nach Operationen anbieten. Mein Part ist es, Produkte auszuwählen und Ärztinnen und Ärzten vorzustellen – ein gelungenes Beispiel für die Verknüpfung von intra- und extramuraler Dienstleistung.“

Auch für Dr. Christoph Heiserer, Allgemeinmediziner in Steyr, ist das Wissen der klinischen Pharmazeutinnen und Pharmazeuten von großer Bedeutung: „Wir brauchen sie als Schlüsselfiguren des Know-how-Transfers, um Patientinnen und Patienten auch extramural bestmöglich weiterzuversorgen.“ DI Dr. Christa Wirthumer-Hoche, Geschäftsfeldleiterin der AGES Medizinmarktaufsicht, betonte ebenso die wichtige Funktion dieser Berufsgruppe: „Klinische Pharmazeutinnen und Pharmazeuten sollten in Österreichs Spitälern noch viel stärker vertreten sein. Nicht zuletzt, damit sie dabei in tragender Rolle helfen, Real World Data zu sammeln, einzutragen und auszuwerten.“ Diese Daten seien absolut notwendig, gerade wenn es um Seltene Erkrankungen geht – eine Meinung, der sich Mag. David Feiler-Kalmar, Vorsitzender Standing Committee Market Access Intramural, PHARMIG, nur anschließen konnte: „Für Rare Diseases sind Real World Data und Register ein essenzieller Orientierungspunkt. Wir müssen bestehende verbessern und neue entwickeln.“ Seitens der Industrie sei man bei dieser Aufgabe mit großem Tatendrang engagiert.

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