Die Arbeiterkammer Wien (AK Wien) lud im Oktober in Zusammenarbeit mit dem Verein PRAEVENIRE Fachleute aus verschiedenen Bereichen der Gesundheitsversorgung ein, um erste Einblicke in ihre neue Studie zur interdisziplinären und multiprofessionellen Versorgung von Diabetes-Typ-2 zu präsentieren. Das Expertentreffen bot die erste Gelegenheit, die Studienergebnisse zu diskutieren.
Carola Bachbauer, BA, MSc
Periskop-Redakteurin
Aufgrund der steigenden Lebenserwartung und der Entwicklung der Diabetesprävalenz in den vergangenen Jahren ist mit einem weiteren starken Anstieg der Anzahl an Menschen mit Diabetes-Typ-2 zu rechnen. Somit stellen die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Diabetes sowie die damit verbundenen Kosten eine große Herausforderung für das österreichische Gesundheitssystem dar. Aus diesem Grund hat die AK Wien die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) beauftragt, eine Studie zur interdisziplinären und multiprofessionellen Diabetes-Typ-2-Versorgung durchzuführen. Ziel war die Erhebung des Ist-Standes der Diabetes-mellitus-Typ-2-Versorgung in Österreich, das Weiterdenken des aktuellen Diabetesversorgungsystems sowie die Abschätzung des darauf basierenden künftigen Personalbedarfs. Die ersten Ergebnisse wurden vom GÖG-Geschäftsführer ao. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann vorgestellt.
Einer der Gründe für die Studie war die Kritik des Rechnungshofs am derzeitigen DMP, der in seiner Empfehlung die Einbeziehung von anderen Gesundheitsberufen angeregt hat.
Wolfgang Panhölzl
Personalmangel und 800.000 an Diabetes Erkrankte
Bereits vor der Pandemie zeichnete sich ein Fachkräftemangel bei den Gesundheitsberufen ab. „Es war schon Jahre bekannt, dass jährlich tausende neue Fachkräfte im Gesundheitsbereich benötigt werden, um das bestehende System aufrechtzuerhalten“, sagte Ostermann. „Aufgrund der anstehenden Pensionierungswelle ist ein weiterer Anstieg vakanter Stellen zu befürchten“, erklärte der Experte und führte aus: „Die Situation verdeutlicht die dringende Notwendigkeit innovativer Lösungen für die Personalknappheit.“ Gleichzeitig gibt es rund 800.000 an Diabetes erkrankte Personen, von denen nur wenige optimal versorgt werden.
Prävalenz an Diabetes steigt
Auf Basis des gesundheitsökonomischen Controllinginstruments LEICON der Österreichischen Sozialversicherung wird angenommen, dass in Österreich im Jahre 2020 etwa 6,5 Prozent der Bevölkerung von Diabetes-mellitus-Typ-2 betroffen waren. Wird zudem der Faktor der nicht diagnostizierten Fälle in die Schätzung miteinbezogen, ergibt sich, dass insgesamt zwischen 8,2 und 9,9 Prozent an Diabetes-mellitus-Typ-2 erkrankt sind, was in etwa 728.000 bis 880.000 Personen mit Diabetes-Typ-2 entspricht. Prognosen zufolge soll die Zahl bis 2030 auf 7,9 Prozent (zuzüglich einer Dunkelzifferschwankung von 1,71 bis 3,42 Prozent) steigen.
Wie Studien bestätigt haben, konnte durch das DMP die Zahl der Komplikationen gesenkt werden, was zeigt‚ dass ‚Therapie Aktiv‘ durchaus ein Erfolgsmodell ist, auf das man mit einer Weiterentwicklung 2.0 aufbauen kann.
Martin Clodi
Laut Experten ließe sich zusätzlich ein deutliches West-Ost-Gefälle beobachten. So betrug 2020 beispielsweise die Zahl der Menschen mit Diabetes in Vorarlberg 5,79 Prozent (zuzüglich einer Dunkelzifferschwankung von 1,71 bis 3,42 Prozent) und in Niederösterreich 8,09 Prozent (zuzüglich einer Dunkelzifferschwankung von 1,71 bis 3,42 Prozent).
Weniger als zehn Prozent aktiv bei „Therapie Aktiv“ betreut
Seit 2007 existiert in Österreich das Disease Management Programm (DMP) „Therapie Aktiv“, ein bundesweit strukturiertes Betreuungsprogramm für Menschen mit Diabetes-Typ-2, an dem derzeit etwa 113.000 Betroffene teilnehmen. Laut Rechnungshof werden davon jedoch nur bei 70 Prozent der bei „Therapie Aktiv“ eingeschriebenen Personen Leistungen abgerechnet, damit sind weniger als zehn Prozent der insgesamt rund 800.000 Erkrankten umfassend versorgt. Gründe dafür sind etwa die freiwillige Teilnahme für Patientinnen und Patienten sowie für Ärztinnen und Ärzte, keine strukturierte Zusammenarbeit zwischen nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen und erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Eine Ausnahme bilden Primärversorgungseinheiten (PVE), denn für diese ist die Teilnahme am DMP „Therapie Aktiv“ verpflichtend. „Die Vorteile von strukturierten DMP sind anhand von Belegen und Evidenzen klar ersichtlich. Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass Personen außerhalb des Programms nicht angemessen versorgt werden“, betonte Ostermann.
Bereits 2019 kritisierte der Rechnungshof, dass das Versorgungskonzept des DMP grundsätzlich die Betreuung durch Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner oder durch Fachärztinnen und Fachärzte für Innere Medizin vorsieht, die Einbindung anderer Gesundheitsberufe in die Betreuung aber nicht. Im Zuge dessen empfahl der Rechnungshof den Stakeholdern im Gesundheitswesen, zu erheben, „welche Gesundheitsberufe im niedergelassenen Bereich für eine adäquate Diabetes-Versorgung erforderlich sind. Diese wären zeitnah in das bestehende Versorgungsangebot zu integrieren“. 2023 ist diese Empfehlung nach wie vor aktuell.
Infolgedessen wurde durch die GÖG eine Analyse zur Diabetes-mellitus-Typ-2-Versorgung durchgeführt. Dazu wurde in einer Online-Erhebung untersucht, welche Berufsgruppen welche Aufgaben im Rahmen der Betreuung von Diabetespatientinnen und -patienten durchführen. Hierbei wurden Daten einerseits von Berufsgruppen in Einzelpraxen und andererseits in PVE und Gruppenpraxen erhoben. Besonders auffällig war, dass Leistungen der Diabetesversorgung wie Blutdruckmessung, Ernährungsberatung und Wundversorgung in PVE und Gruppenpraxen wesentlich häufiger durch nichtärztliche bzw. nicht-medizinische Gesundheitsberufe erbracht wurden als in Einzelpraxen. Deutlich wurde bei der Erhebung außerdem, dass sich 47 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte die Aufnahme von Diätologinnen und Diätologen und 46 Prozent die Aufnahme von diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pflegern (DGKP) ins Diabetesteam wünschen.
„Therapie Aktiv 2.0“: multidisziplinär neu gedacht
Um die Diabetesbehandlung im österreichischen Gesundheitssystem zu verbessern, benötigt es die Entwicklung eines multidisziplinären Ansatzes. Aufgrund dessen erarbeiteten Expertinnen und Experten, wie eine gut strukturierte Versorgung auf Basis internationaler Erfahrung aussehen könnte. Dazu wurde das bereits vorhandene DMP „Therapie Aktiv“ herangezogen und zu „Therapie Aktiv 2.0“ weiterentwickelt. Hierbei wurde als wesentlicher Punkt der verpflichtende Versorgungsauftrag für Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner und somit die Erhöhung der Teilnehmerzahl identifiziert. Zusätzlich bedarf es der Aufnahme von Vertreterinnen und Vertretern der anderen Gesundheitsberufe ins DMP sowie die Klärung der Kostenübernahme für Leistungen des Diabetesteams. Dazu schlägt die AK Wien als Ergänzung zu den bestehenden Organisationsformen ein flexibles Diabetesteam vor. Dabei erhalten Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner einen Versorgungsauftrag, um allen Menschen mit Diabetes eine umfassende Versorgung zugänglich zu machen. Die medizinische Fallführung liegt weiterhin bei den Ärztinnen und Ärzten. Sie können jedoch einzelne Leistungen zeitlich begrenzt an andere Gesundheitsberufe delegieren. Die beteiligten Gesundheitsberufe können entweder als Angestellte in Arztpraxen oder als Freiberufler tätig sein. Diese Leistungen können mit der Gesundheitskasse abgerechnet werden, wobei freiberuflich nur Leistungen im Rahmen des DMP abgerechnet werden können. „Die Vorteile, die diese Weiterentwicklung mit sich bringt, sind, dass Patientinnen und Patienten bei der Navigation durch das Gesundheitssystem unterstützt werden, die tragende Rolle der Primärversorgungsstufe zu Kostenersparnissen führt und ein integrierter Ansatz mit abgestufter Versorgung zur Verfügung steht“, erklärte Ostermann.
Die Vorteile von strukturierten DMP sind anhand von Belegen und Evidenzen klar ersichtlich. Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass Personen außerhalb des Programms nicht angemessen versorgt werden.
Herwig Ostermann
Die Studie enthält auch eine Personalbedarfsberechnung, die sich an weitergedachten Diabetesversorgungskonzept inklusive der Ideen für ein DMP „Therapie Aktiv 2.0“ orientiert.
Positive Resonanz auf das AK Modell
Anschließend an die Präsentation fand eine Podiumsdiskussion mit renommierten Expertinnen und Experten statt.
Mag. Wolfgang Panhölzl, Leiter der Abteilung Sozialversicherung der AK Wien, ergänzte: „Einer der Gründe für die Studie war die Kritik des Rechnungshofs am derzeitigen DMP, der in seiner Empfehlung die Einbeziehung von anderen Gesundheitsberufen angeregt hat.“ Die Erweiterung der Diabetesversorgung soll nicht nur durch den Ausbau von PVE erfolgen, sondern auch durch die Einbeziehung von Einzelpraxen. Das angestrebte Modell „Therapie Aktiv 2.0″ beinhaltet eine strukturierte Versorgung im Rahmen des DMPs unter Einbeziehung verschiedener Gesundheitsberufe, sowie auch die Abrechenbarkeit dieser Leistungen.
„Wie Studien bestätigt haben, konnte durch das DMP die Zahl der Komplikationen gesenkt werden, was zeigt, dass ‚Therapie Aktiv‘ durchaus ein Erfolgsmodell ist, auf das man mit einer Weiterentwicklung 2.0 aufbauen kann“, sagte Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Clodi, Präsident der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG) und Abteilungsvorstand Innere Medizin, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz.
Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Leiterin der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel und der Gender Medicine Unit der an der MedUni Wien, betonte die Notwendigkeit konstanter Versorgungsprogramme für Menschen mit chronischen Erkrankungen und unterstrich die Wichtigkeit von Präventionsmaßnahmen. „Wir müssen viel mehr in die Prävention gehen, um die gesunden Lebensjahre zu erhöhen. Gerade bei Diabetes gibt es tolle Modelle. Allerdings fehlt es derzeit noch an nationalen Präventionsprogrammen sowie an Fachkräften weiterer Berufsgruppen, die in Gesundheitszentren zur besseren Versorgung gebraucht werden“, so die Expertin.
Im Zusammenhang mit der Knappheit des Gesundheitspersonals in verschiedenen Bereichen erwähnte Ostermann, dass diese das Gesundheitssystem vor eine große Herausforderung stellt. „Wie Untersuchungen zeigen, sind telemedizinisch unterstützende Versorgungskonzepte durchaus erfolgreich“, betonte Ostermann. Trotz des Einsatzes von Telemedizin habe die persönliche Betreuung jedoch nach wie vor große Bedeutung.
Als positives Beispiel wurde im Zuge der Diskussion das neu errichtete Diabeteszentrum am Wienerberg in Wien Favoriten erwähnt, welches erfolgreich verschiedene Gesundheitsberufe miteinander verflechten konnte. Hier betonten die Diskussionsteilnehmenden die Unterschiede in den Versorgungsangeboten und lobten die Effektivität der PVE.
Abonnieren Sie PERISKOP gleich online und lesen Sie alle Artikel in voller Länge.