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Bewegung auf Rezept

© Peter Provaznik

Bewegung auf Rezept

© Peter Provaznik

Dass es einfacher ist, Pillen zu schlucken, als seinen Körper in Bewegung zu bringen, steht außer Frage. Dass die Orthopädie schneller zum Messer greift, als konservative Methoden in Betracht zu ziehen, wirft in Österreich nach wie vor kontroverse Perspektiven auf. PERISKOP hat Dr. Andreas Stippler, MSc, Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie, zum Dialog geladen, um einen Blick in die orthopädische Versorgung der Zukunft zu wagen. | von Mag. Julia Wolkerstorfe

Ziel der konservativen Orthopädie ist es, die Menschen so lange wie möglich mobil zu halten — und damit unabhängig und selbstbestimmt, bis ins hohe Alter. Ein Blick auf die österreichische Orthopädie-Landschaft zeigt, dass chirurgische und konservative Methoden zwar zusammenwachsen, aber auch neue Fragen und Spannungsfelder aufwerfen: Wie lässt sich der „Best Point of Service“ eruieren und wie gestaltet sich ein optimales Schnittstellenmanagement? Wie können Informations- und Kommunikationstechnologien effizient eingesetzt werden, um das Zusammenspiel dieser beiden Welten zu unterstützen, anstatt chirurgische und konservative Bereiche gegeneinander auszuspielen?

Was es heute braucht, ist eine zeitgemäße Versorgungskette von Prävention über Diagnose und Therapie bis hin zu Rehabilitation — sowie mehr Netzwerkdenken: „Ich habe die Angst, dass der Faktor Prävention vor allem auch bei den jungen Ärztinnen und Ärzten immer mehr verloren geht. Es gibt kein Verständnis für die funktionelle Orthopädie. Die erlernt man schließlich auch nicht im OP-Saal“, zeigt sich Dr. Andreas Stippler, MSc, Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie, besorgt.

Wir müssen uns den Menschen unter biopsycho­sozialen Blickwinkeln ansehen.

Aktuell fließt in Österreich das meiste Geld nach wie vor in die chirurgische Arbeit. Dabei könnten Patientinnen und Patienten profitieren, wenn verstärkt unter biopsychosozialen Blickwinkeln gearbeitet werden würde und der Muskel in seiner ursprünglichen Konstitution ein Revival erfahren dürfte: „Unsere Muskeln sind ausgezeichnete Teamplayer — dann, wenn die Sensomotorik regelmäßig geschult wird. Doch genauso schnell sind sie beleidigt, wenn wir sie vernachlässigen. Ein Muskel, der sensomotorisch nicht trainiert wird, bleibt ein Depp“, konstatiert Stippler. „In Österreich kümmert sich kaum jemand um Prävention. Wir könnten vielzählige chirurgische Eingriffe verhindern, wenn die Menschen von Kindheit an lernen, ihre Muskeln richtig, also auf Basis von Kraft-Ausdauer-Training, zu pflegen.“ Dabei sei es gar nicht notwendig, vier Mal die Woche schwere Gewichte zu stemmen: „Vor allem Menschen ab 50 empfehle ich zwei Mal wöchentliches Kraft-Ausdauer-Training, bei dem auf ausreichende Wiederholungskreisläufe geachtet wird. Der Effekt wird nach drei bis vier Monaten sichtbar und spürbar sein“, will Stippler auch all jene motivieren, die sportlich bisher nicht aktiv waren. „Es ist nie zu spät für den ersten Schritt.“

Orthopäde Andreas Stippler setzt auf cleveres Muskeltraining.

Orthopädische Versorgung der Zukunft

Österreichs Bevölkerung wird immer älter. Im Hinblick auf die gesunden Lebensjahre besteht jedoch Aufholbedarf — ein Umstand, durch den die konservative Orthopädie zukünftig stark an Bedeutung gewinnen wird. Dänemark setzt beispielsweise längst konservative Akzente, um chirurgische Eingriffe möglichst zu vermeiden: Das Programm GLA:D vermittelt Menschen mit einer Knie- oder Hüftarthrose therapeutische Übungen, die die Lebensqualität nachweislich verbessern und OPs verhindern sollen. Das neuromuskuläre Trainingsprogramm für Knie bzw. Hüfte findet sich heute neben Dänemark vor allem auch in China, Kanada und Australien wieder und wird mittlerweile auch in der Schweiz erfolgreich praktiziert. GLA:D steht für „Good Life with OsteoArthritis in Denmark“ und will betroffene Patientinnen und Patienten stärken, ihre Hüft- bzw. Knieprobleme selbst unter Kontrolle statt unters Messer zu bekommen. Einer Studie zufolge sollen zwei von drei Personen mit einer Kniearthrose nach zwei Trainingsjahren auf einen geplanten operativen Eingriff verzichten können.

Bewegungsrezept für Österreich

Das Thema Prävention wird in Österreich nach wie vor stiefmütterlich betrachtet. Es mangelt an einer gesetzlichen Grundlage für effiziente Präventivkonzepte. Das erfahren nicht nur die Patientinnen und Patienten, die sich im Zuge der österreichischen Reparaturmedizin oft schon in einem hohen Leidenszustand wiederfinden, sondern hat auch drastische volkswirtschaftliche Auswirkungen zur Folge. „Von Kindheit an werden wir gezwungen zu sitzen — völlig ungeachtet dessen, welche negativen Auswirkungen Sitzen auf den gesamten Stütz- und Bewegungsapparat hat“, erklärt Orthopäde Stippler. „Wir müssen es schaffen, das Thema Bewegung wegzukriegen von assoziierten Bildern wie Schweiß und Plage und wieder mehr Freude, auch Anreize in die Köpfe der Menschen bekommen“, weiß Stippler. Ein „Rezept auf Bewegung“ könnte Abhilfe schaffen und ein neues Bewusstsein herstellen. „Ich finde die Idee eines Bewegungsrezepts vielversprechend. Wir müssen die Aktivierung der Menschen in den Fokus rücken, was vor allem auch mentale Arbeit bedeutet. In Österreich behandeln wir immer die Folgen und nicht die Ursachen. Das wird uns langfristig zu viel Geld kosten“, ist Stippler überzeugt. Doch wie wird Motivation zum Automatismus? Wie schaffen es Bewegungsmuffel, die tägliche kleine Bewegungsdosis wie den täglichen Griff zur Zahnbürste zu routinieren?

Morgen, ja morgen, fang ich ein neues Leben an

Und wenn nicht morgen, dann übermorgen, oder zumindest irgendwann: Prokrastination, die liebe Aufschieberitis, verfolgt uns seit jeher und wird uns als ungemütliches Beiwagerl wohl auch noch in ferner Zukunft begleiten. Auch der innere Schweinehund schläft nicht und wird möglicherweise erst dann besänftigt, wenn das Gesundheitssystem in seiner Ganzheitlichkeit einen neuen Schwung erfährt. Stippler skizziert dazu ein weiteres Zukunftsbild: „Wir wissen, dass wir um 70 Prozent weniger Diabeteskranke hätten, wenn die Lifte erst im dritten Stock beginnen würden.“ Ein Minuspunkt für die barrierefreie Gestaltung der öffentlichen Landschaft, ein Pluspunkt für die Erhaltung der Gesundheit. Heute gilt es zu klären, wie die Vorteile präventiver Modelle sowie jene der konservativen Orthopädie zukünftig besser in die Versorgung integriert werden können, ohne dabei ausschließlich in die Privatmedizin abzudriften.

In Ös­terreich behandeln wir immer die Folgen und nicht die Ursachen.

Wie können wir jetzt  in Zeiten von Homeworking und Homeschooling  am leichtesten in Bewegung bleiben?

Wichtig ist, zwischen all dem vielen Sitzen ausreichend Sitzpausen einzulegen, um überhaupt erst in die Bewegung zu kommen. Leicht dosiertes Zwischendurch-Training darf und soll Freude machen. Dabei geht es nicht ausschließlich um Kraft, sondern vor allem um das Zusammenspiel von Kraft und Ausdauer. Zwölf bis 16 Wiederholungen machen für Ihren Körper weitaus mehr Sinn, als kurze Zirkel, die den Muskel zu sehr belasten. Ein Zirkel von insgesamt 20 Minuten ist optimal.

Warum sind ausreichende Wiederholungszirkel so wichtig?

Unsere Wirbelsäule leistet den ganzen Tag über Großartiges. Sie trägt und stützt uns, und das über viele Stunden. Diesen Mechanismus unterstützen wir am ehesten dann, wenn wir den Schwerpunkt auf Ausdauer, auf vermehrte Wiederholungen setzen und nicht auf punktuelle Kraft. Betrachten Sie Ihre Muskeln als Ihre eigene Hausapotheke, als Teamplayer, die sich als Ihr Partner, nicht als Ihr Gegner verstehen.

Welche Botschaft haben Sie für Menschen, die sich aufgrund von Corona derzeit zurückhalten, was Vorsorgeuntersuchungen oder Abklärungstermine betrifft?

Menschen versuchen jetzt eher, Schmerzen zu tolerieren, mit ihnen umzugehen, weil die Angst vor dem Arztbesuch größer ist. Doch Corona darf uns nicht davon abhalten, uns auch im präventiven Sinne um unsere Gesundheit zu kümmern. Zudem müssen wir jetzt nichts erdulden, aus einer Angst oder Verunsicherung heraus. Sie machen nichts falsch, wenn Sie sich trotz COVID-19 um Ihren Körper kümmern.

Interessant ist zu beobachten, dass sich auch die  Mechanismen des Lockdowns verändert haben: Beim ersten Lockdown wurde noch verstärkt mit Angst gearbeitet. Mittlerweile steht die Selbstverantwortung im Zentrum. Ähnlich verhält es sich beim Thema Gesundheitsprävention, also auch abseits der COVID-19-Diskussion: Die Menschen werden eher in die Richtung sensibilisiert, dass es nicht der Staat ist, der alles für sie richtet, sondern dass ich es für mich selbst richten muss. Die Gesellschaft ist damit noch nicht vertraut, aber diese Richtung werden wir langfristig verfolgen müssen.

In Ihrem Buch „Kluge Muskeln“ beschreiben Sie, wie man mit schlau trainierten Muskeln sein Leben um viele Jahre verjüngen kann. Was ist Ihr Erfolgsrezept?

In Bewegung kommen. Nicht in die Starre abdriften — trotz Corona. Gleich heute — smart — beginnen. Es ist nie zu spät für den ersten Schritt.

© Peter Provaznik

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