Die Coronapandemie hat nicht nur die Gesundheitssysteme weltweit erschüttert, sondern auch die EU und die staatlichen Grundfesten Österreichs einem juristischen Stresstest unterzogen. Wie krisenfest und „gesund“ Österreich aufgestellt ist, schildert Bundesministerin Mag. Karoline Edtstadler im PERISKOP-Exklusivinterview.
Rainald Edel, MBA
Periskop-Redakteur
Knapp vor Ausbruch der Pandemie, im Jänner 2020, wurde die Juristin zur Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt ernannt. Zudem ist sie seit Herbst 2018 Vizepräsidentin der Sportunion.
PERISKOP: Der Gesundheitsbereich ist in den EU-Bestimmungen überwiegend als
nationale Angelegenheit definiert und in Österreich zudem sehr föderal organisiert.
Dennoch gab es 2021 Überlegungen, mehr Kompetenz Richtung EU zu verschieben,
wogegen Sie sich dezidiert ausgesprochen haben. Wie tauglich ist die derzeitige Aufstellung im Gesundheitswesen?
EDTSTADLER: Österreich ist bekannt dafür, dass es das Subsidiaritätsprinzip sehr konsequent anwendet – das heißt, dass man Verwaltungsangelegenheiten jener Ebene überträgt, die
diese am besten regeln kann. Im Gegensatz zu einem zentralistisch organisierten Land, wie
Frankreich, bietet ein subsidiär und föderal aufgebauter Staat die Möglichkeit, besser auf
die Bedürfnisse in den jeweiligen Regionen eingehen zu können. Gerade im Bereich der
Gesundheit war dies in den letzten Jahren von Vorteil, da die Bundesländer hier individuell
und in Abhängigkeit der Kapazitäten und Bedürfnisse der Bevölkerung auf die jeweilige
Situation reagieren konnten. Dadurch sind wir auch, gemessen an anderen Staaten, gut
durch die Krise gekommen. Die Pandemie hat somit deutlich gezeigt, dass der Gesundheitsbereich Angelegenheit der Mitgliedsstaaten bleiben muss.
Wie wohnortnah muss Gesundheit angesiedelt sein?
De facto hat sich gezeigt, dass während der Pandemie viele Maßnahmen noch bürgernäher als in den Ländern organisiert wurden – nämlich in den Gemeinden. Dort sind die Probleme, aber auch die Lösungsansätze vorhanden – ich denke da an die Sicherstellung der Nahversorgung, die ärztliche Versorgung und generell die Gesundheitsversorgung bis zur Kinderbetreuung. Vor Ort kann man die Bedürfnisse und tatsächlichen Notwendigkeiten der Menschen einfach besser spüren. Gleichzeitig braucht es aber auch Mindestanforderungen, die vom Bund vorgegeben
werden müssen und einen entsprechenden Koordinierungs- und Abstimmungsprozess zwischen Bund, Bundesländern und Gemeinden. Das ist auch Thema bei den heurigen Finanzausgleichsverhandlungen.
Die Krisen der letzten Jahre haben an unterschiedlichsten Stellen Optimierungschancen
in der Konstruktion der europäischen Zusammenarbeit gezeigt, wie Medikamenten- und Medizinproduktelieferungen, die an Binnengrenzen zurückgehalten wurden,
Abhängigkeiten von außereuropäischen Rohstofflieferungen und begrenzten europäischen Produktionskapazitäten etc. Braucht es angesichts dessen eine Erneuerung des europäischen Gedankens?
Als Europaministerin stehe ich voll hinter dem europäischen Gedanken und ich glaube, wir
hätten ohne die EU die Pandemie und alle folgenden Krisen, die wir laufend zu bewältigen
haben, nicht so gut bewältigt. Der europäische Zusammenhalt in Krisen ist eine große Stärke der Europäischen Union. Schon Jean Monnet – Wegbereiter der europäischen Einigung – hat
einst gesagt, dass Europa in Krisen geschmiedet wird. Man muss vorausschicken, dass die
Pandemie uns alle unvorbereitet getroffen hat.
Aus heutiger Sicht würde ich die Anfangsphase als herausfordernd bezeichnen. Denn zu Beginn der Pandemie hat man von Seiten der Europäischen Union über Wochen nichts gehört – was ich in dieser Phase auch stark kritisiert habe. Im Vergleich zu den USA oder China hat die EU erst relativ spät begonnen z.B. Masken gemeinschaftlich zu beschaffen, um einen günstigeren Preis am Markt zu erzielen. Die EU ist aber in die Gänge gekommen – insbesondere bei der
gemeinsamen Beschaffung. Da konnten wir dann unsere Marktmacht ausspielen. Ich
glaube auch, dass das große Learning für die Zukunft genau darin besteht: Wenn man sich
gemeinsam organisiert und koordiniert, kann man mehr erreichen.
Die Idealversion wäre, dass die Politik in die Zukunft schaut und wir schon jetzt Maßnahmen ergreifen, und Strukturen schaffen, die uns vor möglichen Krisen bewahren oder zumindest eine schnelle Reaktion zulassen. Der Vizepräsident der EU-Kommission und Kommissar für Interinstitutionelle Beziehungen und Vorausschau Maroš Šefčovič hat schon vor der Pandemie mit Strategic Foresight begonnen. Also mit der Frage, was braucht Europa um resilienter und selbständiger zu sein. Das betrifft beispielsweise den Bereich der Medikamentenproduktion, aber auch andere Technologien – denken Sie z.B. an den European Chips Act. Auch wenn wir uns im Moment wieder in einer Phase befinden, in der Krisenbewältigung gefragt ist, ist es der Politik und der Bevölkerung viel bewusster, dass wir mehr in die Zukunft denken müssen. Dieses Learning ist somit gelungen.
Im Gegensatz zu einem zentralistisch organisierten Land, wie Frankreich, bietet ein subsidiär und föderal aufgebauter Staat die Möglichkeit besser auf die Bedürfnisse in den jeweiligen Regionen eingehen zu können.
Karoline Edtstadler
Die dynamische Phase der Coronapandemie war eine legistische Herausforderung, da
sehr rasch Gesetze und Verordnungen erlassen werden mussten. Ist das österreichische Rechtssystem solchen Anforderungen gewachsen?
Es hat sich deutlich gezeigt, dass die Bundesverfassung krisenfest ist. Wir haben zu jedem Zeitpunkt den normalen Gesetzwerdungsprozess eingehalten und brauchten nicht wie andere Staaten Notverordnungsrechte für die Regierung. Gerade zu Beginn der Krise haben wir viele Gesetze einstimmig und sehr schnell beschlossen. Möglich wurde das, indem das Parlament kurzfristig reagiert hat und für Beschlussfassungen auch am Wochenende zusammengetreten ist. Dies hat sich bewährt und auch die Kontrolle hat funktioniert. Eine Vielzahl der vom Verfassungsgerichtshof geprüften Gesetze und Verordnungen waren verfassungs- und gesetzeskonform. Aber auch die Aufhebung verfassungswidriger Gesetze oder gesetzwidriger Verordnungen hat gezeigt, dass die Kontrolle der Einhaltung der Verfassung auch in außergewöhnlichen Zeiten, wie eben der Coronapandemie, funktioniert.
Manche Prüfungen erfolgten erst nach Ablauf eines zu prüfenden Gesetzes bzw. einer Verordnung. Ist hier ein rascheres Agieren wünschenswert?
Der Verfassungsgerichtshof hat international gesehen eine sehr kurze Erledigungsdauer. Im Schnitt dauert es knapp vier Monate, vom Antrag bis zur Zustellung eines Erkenntnisses.
Ein ordentlicher Prozess der Kontrolle muss auch Stellungsnahmen der betroffenen Parteien
ermöglichen. Zudem braucht es auch Zeit, sich einzulesen. Daher halte ich nichts davon ein
beschleunigtes Verfahren einzuführen, wenn die Erledigungszeiten ohnehin kurz sind. Natürlich,
wenn man Gesetze in einer Krise beschließt, die nur kurz in Geltung stehen, kann es zu
Überschneidungen kommen, aber das bleibt hoffentlich die Ausnahme. Als Verfassungsministerin spreche ich mich entschieden gegen eine Vorabkontrolle von Gesetzen und Verordnungen durch den Verfassungsgerichtshof aus, denn dadurch vermischt man die verschiedenen
Staatsgewalten. Darüber hinaus gibt es eine Vorabkontrolle im Rahmen der Begutachtung
sowie den Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt, der in meinem Resort angesiedelt ist.
Dieser wurde auch bei der Erstellung von diversen Corona-Gesetzesentwürfen eingebunden und steht auch in Normalzeiten zur Verfügung, um etwaige Anregungen zu geben, legistische Fehler aufzuzeigen und bei verfassungsrechtlichen Fragen zu unterstützen.
Ein großes Projekt der Bundesregierung, das 2023 umgesetzt werden soll, ist das Informationsfreiheitsgesetz. Welchen Mehrwert verspricht sich die Politik von diesem Gesetz?
Wir leben in einer Informationsgesellschaft. Jeder will Informationen und hat ein Recht darauf. Der Anspruch einer Gesellschaft im 21. Jahrhundert ist sicher ein anderer als 1925, als das Amtsgeheimnis eingeführt wurde (Art 20 Abs. 3 B-VG). Der Weg vom Amtsgeheimnis hin zu einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Zugang zu Information ist nicht bloß eine Verfassungsänderung, sondern ein tiefgreifender Paradigmenwechsel. Der Wechsel muss vor allem in den Köpfen stattfinden. Auch wenn immer wieder moniert wird, dass die Umsetzung dieses Gesetzes so lange dauert, echte Veränderung braucht Dialog mit den Betroffenen, damit diese auch das Gesetz akzeptieren und in der Folge effektiv umsetzen können. Diesbezüglich sind wir entscheidende Schritte vorangekommen. Es gab zum Begutachtungsentwurf über 200 Stellungnahmen. Ich habe unzählige Gespräche mit den kritischen Stimmen geführt, zuletzt
etwa auch gemeinsam mit Vizekanzler Werner Kogler. Mittlerweile sind wir in der Phase, in der es auszuloten gilt, welche Anpassungen des Begutachtungsentwurfes es noch braucht, um
mit zumindest einer Oppositionspartei eine Verfassungsmehrheit zu erzielen.
Sport ist für die Gesundheit einer Gesellschaft extrem wichtig — physisch wie psychisch.
Karoline Edtstadler
Als problematisch hat sich während der Hochphase der Pandemie bei vielen Regierungen das Zusammenwirken von Wissenschaft und Politik und den daraus abzuleitenden politischen Handlungsdimensionen herausgestellt. Ist hier für zukünftige Krisen an eine bessere Abstimmung und mehr Transparenz, wie es zu Entscheidungen kommt, gedacht?
Die Freiheit der Wissenschaft ist ein besonders hohes Gut. Die Politik braucht die Wissenschaft und umgekehrt. Die Politik muss oft rasch entscheiden und braucht dazu Erkenntnisse der Wissenschaft. Umso wichtiger ist daher der Dialog, damit man weiß, was die Wissenschaft beizutragen hat. Wie in der Phase der Pandemie, wo man in enger Abstimmung mit der Wissenschaft, von Berechnungsmodellen bis zur Erforschung von Impfstoffen, konstruktiv zusammengearbeitet hat. Aber auch abseits dieser besonderen Situation bedingen die beiden einander. So hat beispielsweise Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der EVP im Europäischen Parlament, 2019 das Ziel ausgerufen, Krebs heilbar zu machen. Das kann nur mit einer entsprechenden Unterstützung der Forschung durch die Politik funktionieren. Politische Zielsetzung hat daher auch einen Einfluss darauf, in welche Richtung die Wissenschaft forscht.
Neben Ihrer politischen Funktion als Mitglied der Bundesregierung sind Sie seit 2018 auch Vizepräsidentin der Sportunion. Welche Rahmenbedingungen und Maßnahmen müssten gesetzt werden, um mehr Menschen — insbesondere Kinder und Jugendliche — für aktive Bewegung zu begeistern?
Sport und Sportvereine haben einen wichtigen Stellenwert in unserer Gesellschaft und erfüllen
viele sehr wichtige aber auch unterschiedliche Funktionen, weit über die reine Sportausübung hinaus. So sind Sportvereine auch immer Orte der Begegnung, des Zusammenkommens und
des sozialen Engagements. Ein wichtiger Aspekt vor allem am Land – ich komme aus einer ländlichen Gemeinde sieben Kilometer außerhalb von Salzburg und kenne das aus meiner eigenen Erfahrung. Ich habe mich als Schülerin und Studentin immer in diversen Vereinen engagiert. Da ist es nicht nur um das Fußballspiel, den Judo-Wettkampf oder wie in meinem Fall den Ballettunterricht gegangen, sondern auch darum, Sportfeste auszurichten, für die gemeinsam gebacken und gekocht wurde und mit deren Erlöse Ausflüge organisiert worden sind. Ich habe schon damals erlebt, dass die Sportunion ein ganz wichtige Organisation ist, weil sie die Menschen zusammenbringt. Gerade durch die Pandemie haben wir noch deutlicher als
bisher gesehen, dass Sport und das Miteinander für die Gesundheit einer Gesellschaft extrem
wichtig sind – physisch wie psychisch. Denn der Sport ist auch ein Mittel gegen die Einsamkeit
– beispielsweise das Seniorenturnen aber auch sonst ein Weg mit anderen, neuen Menschen in
Kontakt zu kommen. Sport hält fit und gesund. Zugleich sind Sportorganisationen auch ein
Wegbereiter für den Spitzensport, wo junge Talente entdeckt und gefördert werden. Nur so
könne wir im Bereich des Skifahrens, Tanzens oder des Handballs und in vielen anderen Bereichen Weltklasseleistungen erbringen. Deshalb habe ich mich auch, als ich gefragt wurde, sofort bereit erklärt diese Funktion zu übernehmen. Mittlerweile wurde der Vorstand auch für eine weitere Periode bestätigt, so dass ich mich auch weiterhin hier engagieren darf. Ich muss auch dazusagen, es macht sehr viel Spaß! Wenn man immer in der Politik ist, dann freut man sich, wenn es mal weniger um Politik geht.
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