Im Dezember 2020 HOB DER VERFASSUNGSGERICHTSHOF DAS VERBOT DER HILFELEISTUNG BEIM SUIZID AUF. In der gesetzlichen Neuregelung, dem Sterbeverfügungsgesetz, das mit Jahresbeginn 2022 in Kraft trat, ist ein Ausbau der Finanzierung der Hospiz- und Palliativversorgung vorgesehen. Welche Leistungen die Palliativmedizin und -versorgung erbringen, ist der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. | von Rainald Edel, MBA
Viele Mythen, Halbwissen, Furcht und Ablehnung ranken sich um die Palliative Care. Aufgaben und Definition dieser Fachrichtung sind der breiten Bevölkerung kaum bekannt. „Die Palliativmedizin befasst sich zwar mit unheilbaren Krankheiten, gibt jedoch keine Prognose über die noch zu erwartende Lebenszeit.“ Es kann sein, dass man mit einer palliativen Erkrankung noch zehn oder zwanzig Jahre lebt, oder dass das Leben schon in wenigen Wochen endet“, erklärt Univ.-Prof, Priv.-Doz. DDr. Eva Katharina Masel, MSc im Gespräch mit PERISKOP. Die Palliativmedizin oder — wie man diesen Bereich heute umfassender bezeichnet – die Palliative Care zielt darauf ab, unabhängig von der Prognose zu jedem Zeitpunkt einer schweren Erkrankung Wohlbefinden zu ermöglichen. Eva Katharina Masel hat im Jänner 2022 die Professur für Palliativmedizin an der MedUni Wien übernommen und leitet die Klinische Abteilung für Palliativmedizin an der Universitätsklinik für Innere Medizin von MedUni Wien und AKH Wien. Die WHO definierte die Palliative Care als „einen Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patientinnen und Patienten und ihren Familien, die mit Problemen, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art“. In Österreich wird Palliative Care sowohl in stationären Einrichtungen oder Ambulanzen als auch in Form von mobilen Diensten angeboten. Während Palliativstationen außerhalb von Akutkrankenanstalten, zum Beispiel als Hospize in Pflegeanstalten, Patientinnen und Patienten bis zum Tod begleiten, ist es das Ziel von Palliativstationen in Krankenhäusern, Betroffene so weit zu unterstützen, dass eine Entlassung nach Hause möglich ist.
Zuweisung nicht klar geregelt
Aus historischen Gründen kommen immer noch vorwiegend Personen mit onkologischen Erkrankungen auf die Palliativstation. Im Rahmen von Krebserkrankungen, gerade wenn diese fortgeschritten sind, entstehen Symptome,
wie Schmerzen, Schwäche, Kachexie oder Muskelverlust. Zusehends zeichnet sich aber bei Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen, wie chronischer Niereninsuffizienz, COPD, Herzinsuffizienz, neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen aufgrund einer ebenfalls sehr hohen Symptomlast ein steigender Bedarf an palliativer Betreuung ab. „Die Heterogenität der Erkrankungen ist gleichzeitig auch die Schwierigkeit, da nicht klar geregelt ist, wann die Palliativmedizin eingebunden werden soll“, schildert Masel. Oft sei dies erst dann der Fall, wenn
man in der Behandlung nicht mehr weiterwisse. Dadurch werden Betroffene erst sehr spät an die Palliativstation übermittelt. Dabei zeigt die internationale Literatur deutlich, dass eine early Palliative Care empfehlenswert wäre. „Es gibt in der Praxis derzeit keine genauen Leitlinien, wann ein palliatives Konsil anzufordern ist. Dadurch kommt es auch vor, dass wir in Fällen, in denen es nicht angezeigt ist, angefordert werden, in Fällen hingegen, in denen es hilfreich wäre, nicht oder erst sehr spät hinzugezogen werden“, erklärt Masel. Die Guideline der European Society for Medical Oncology (ESMO) sieht vor, dass bei Diagnose einer unheilbaren Erkrankung eine Erstvorstellung einem Palliativteam gegenüber erfolgen sollte — eine Regelung die Masel auch im klinischen Alltag für praktikabel und umsetzbar hält.
Gemeinsam Lösung erarbeiten
Anders als beispielsweise bei einem Tumorboard ist bei einem Palliativkonsil die betroffene Patientin, der Patient in den Entscheidungsprozess aktiv eingebunden. Je nach Situation können auch die Angehörigen daran teilnehmen. Seitens der Palliativabteilung besteht das Palliativteam eines Konzils optimalerweise aus einem Mitglied des Medizin- und Pflegeteams. Den Beginn jeder Erstvorstellung markiert ein schematischer Fragebogen, bei dem die betroffene
Person nach Schmerz, Appetitlosigkeit, Bettlägerigkeit, psychischer Situation, sozialer Situation, Atemnot, Übelkeit und Erbrechen befragt wird. Dann wird analysiert, ob die Person für die Übernahme auf eine Palliativstation geeignet ist. „Nur rund zehn bis 20 Prozent aller Menschen, die in Österreich versterben — jährlich rund 90.000 Menschen pro Jahr — brauchen eine spezialisierte Palliativversorgung auf einer Palliativstation. Bei anderen in Frage kommenden Personen reicht eine konsiliarische Betreuung. Dazu suchen wir die jeweilige Station auf, empfehlen zu setzende Maßnahmen, die weitere Betreuung jedoch findet auf der Station der jeweiligen Fachabteilung statt“, schildert Masel. Diese konsiliarische Versorgung ist ihrer Meinung nach wichtig für die medizinische Zukunft. Durch die Überalterung der Gesellschaft steige der Bedarf an Personal, das Patientinnen und Patienten in einem palliativen
Setting betreuen kann. Allerdings könne man nicht jede schwerkranke Person auf eine Palliativstation verlegen. „Die Palliativstation ist für sehr komplexe Situationen reserviert, wenn die Symptome sehr herausfordernd sind oder viele Beschwerden auf einmal auftreten“, erklärt die Palliativmedizinerin. Die dritte Versorgungsform, die am AKH Wien angeboten werde, ist die Palliativambulanz. Internationale Daten legen nahe, dass es mehr Zuweisungen gibt, wenn
man die palliative Versorgung als supportive Medizin bezeichnet. „Auch unsere Ambulanz wurde in ‚Ambulanz für supportive Krebstherapie umbenannt‘ – auch wenn wir dort Menschen mit nicht-onkologischen Erkrankungen behandeln“, erklärt Masel. Einen sehr wichtigen Bereich der Arbeit auf der Station und der Ambulanz nehmen die sogenannten „end-of-life-discussions“ ein. Es sei wichtig, diese Gespräche — sofern gewünscht — rechtzeitig mit den Betroffenen zu führen.
„Darin werden mit ihnen gemeinsam ihre Ziele für die Zeit, die noch verbleibt, festgelegt. Es wird ihnen dabei geholfen, ihr Lebensende in privater wie medizinischer Hinsicht bestmöglich zu planen und zu gestalten“, so Masel. Die Betroffenen werden darüber aufgeklärt, welche Möglichkeiten der Schmerzkontrolle oder der Symptomverbesserung bei anderen Beschwerden vorhanden sind, wie sie mithilfe einer Patientenverfügung und/oder einer Vorsorgevollmacht
selbst bestimmen können, in welchem Rahmen lebensverlängernde Maßnahmen getroffen werden oder welche sozialrechtlichen Leistungen sie in Anspruch nehmen können. „Wir erleben immer wieder, dass Therapien, die keine Aussicht auf Erfolg mehr haben, fortgesetzt werden, da Patientinnen und Patienten einen Therapiewunsch haben, ohne dass den Patientinnen und Patienten klar ist, dass selbst eine erfolgreiche Therapie häufig nur sehr wenig an Zeitgewinn bedeutet. Viele Betroffene machen die Therapie auch, um ihre Angehörigen zu beruhigen, die auf Therapie drängen, da es sehr herausfordernd ist, miteinander über das Lebensende zu sprechen“, schildert Masel. Dabei geht es den Patientinnen und Patienten oft besser und sie leben einige Monate länger, wenn die belastenden Therapien wegfallen. „Auch in diesen Fällen helfen wir den Personen in unserer Betreuung, entsprechende Gespräche mit den Angehörigen zu führen“, so Masel.
Die Palliative Care zielt darauf ab, unabhängig von der Prognose zu jedem Zeitpunkt einer schweren Erkrankung Wohlbefinden zu ermöglichen.
Eva Katharina Masel
Multiprofessionelle Behandlung unter einem Dach
„Die Angst vor Schmerz, Atemnot und dem Dahinsiechen ist die am häufigsten geäußerte Sorge in Bezug auf das Lebensende“, erklärt Masel. In der Palliativmedizin gibt es das sogenannte Total-Pain-Konzept, das in den 1960er Jahren von der Begründerin der Palliativmedizin Cicely Saunders im Kontext von Menschen mit terminalen Krebserkrankungen geprägt wurde und seit damals zentraler Bestandteil von Palliative Care ist. Total Pain, der umfassende Schmerz, bedeutet nach Saunders: „Körperliche, emotionale und soziale Schmerzen und das spirituelle Bedürfnis nach Sicherheit, Sinn und Selbstwert“. Häufig werde in der Therapie von Patientinnen und Patienten die Schmerzkomponente nicht so genau beziehungsweise nur kausal betrachtet, da andere Behandlungsziele vorrangiger sind. „In der Palliative Care schauen wir uns die Schmerzkomponente sehr genau an und versuchen Lösungen zu finden, die für das Wohl der Patientinnen und Patienten optimal sind. In vielen Fällen sind Antineuropathika die richtige Wahl, da eine Nervenschmerzkomponente vorhanden ist. Gerade Menschen unter einer Chemotherapie leiden oft unter einer Polyneurophatie, Antriebsstörung etc. Auch hier beschäftigen wir uns eingehend mit der Situation und versuchen, die beste Therapie zu finden, die diese Nebenwirkungen der Krebsbehandlung verbessert“, schildert Masel. Aufräumen müsse man, so Masel, auch mit Vorurteilen gegenüber Morphinen in der Behandlung von Schmerz. Hier bestünde oftmals auch seitens Angehöriger die Befürchtung, dass die Patientin, der Patient noch zusätzlich in eine Abhängigkeit geraten könne. Dabei könne man die modernen Schmerztherapeutika auf Morphinbasis auch langfristig anwenden, da sie gut wirken und keine Abhängigkeit erzeugen. „Anders als Heroin oder andere Morphine, die Suchtkranke zu sich nehmen, die sehr schnell vom Körper aufgenommen werden und die das Belohnungszentrum im Gehirn ansprechen, werde der Wirkstoff bei verzögert wirksamen Morphinpräparaten langsam im Körper angeflutet, um einen schmerzstillenden Spiegel zu erreichen. Viele Schmerzen im palliativen Setting bedürfen zudem einer multimodalen Behandlung — also nicht nur einer medikamentösen, sondern auch einer physikalischen, ergotherapeutischen und psychologischen Therapie. „Wir haben bei uns an der Station eine eigene Physiotherapeutin, einen Ergotherapeuten, einen Psychologen und Psychotherapeuten , eine Diätologin, ehrenamtliche Mitarbeitende und bei Bedarf Seelsorgende für unterschiedliche Konfessionen. Wir haben sogar eine Sterbeamme — ein ganz neues Berufsbild —, die Menschen abseits der medizinischen Hilfe auf ihr Ableben vorbereitet.
Der multiprofessionelle Ansatz und die intensive Betreuung sind Gründe, weshalb sich Menschen auf einer Palliativstation oft sehr rasch viel besser fühlen als zuvor auf der Fachstation. „Im Gegensatz zur Regelversorgung, bei der die Patientin, der Patient kaum zu Wort kommt, nimmt man sich in der Palliativ Care deutlich mehr Zeit und versucht dem Narrativ der Patientin, des Patienten zu folgen. Das helfe auch oft dabei, die eigentliche Ursache für den Wunsch nach einem raschen Ableben der Patientinnen und Patienten zu klären und entsprechende Maßnahmen zu finden, die ihnen ihre Situation erleichtert.
Wissen um Palliative Care verbessern
„Bei der palliativen Sedierung und dem assistierten Suizid wird in der öffentlichen Diskussion oft einiges vermischt“, erklärt Masel. Oft begegne man dem Vorwurf, dass man auf der Palliativstation die Menschen künstlich am Leben
erhalte, sie dabei ohnehin nur sediere und die Schmerzmitteldosierung so lange nach oben schraube, bis der Exitus eintrete. „Das ist aber nicht das Ziel der Palliative Care. Die oberste Maxime lautet: wir wollen den Tod weder beschleunigen noch verzögern“, so Masel. Zudem sei durch die end-of-life-discussions mit den Patientinnen und Patienten klar abgesprochen, welche Maßnahmen noch gesetzt werden sollen. Allenfalls vermeiden möchte man eine Situation, in der sich die zu betreuenden Personen hilflos und ausgeliefert fühlen.
Mit Sorge erfüllt Masel die derzeitige Situation, in der einerseits die Sterbeverfügung rechtlich verankert wurde, andererseits die Palliativ- und Hospizversorgung noch nicht ausreichend ausgebaut ist, um Betroffenen rasch eine palliative Unterstützung anbieten zu können. „Hier gilt es, einen Wettbewerb der Möglichkeiten zu verhindern. Denn
sonst droht eine Situation, in der Patientinnen und Patienten ihre Auswahl nach der schnelleren Verfügbarkeit einer Lösung treffen“, warnt Masel, die zudem betont, dass die Autonomie der Entscheidung ein wichtiges demokratisches Gut ist. Um betroffenen Personen tatsächlich eine Auswahl in der Entscheidung zu bieten, müsse man vermitteln, dass Palliativbetreuung nicht heißt, dass man die Menschen zum Leben überreden möchte. Auch mit Stereotypen und
falschen Vorstellungen über die Situation auf einer Palliativstation müsse man daher rasch aufräumen. „Es besteht auch noch viel Aufholbedarf in der Vermittlung an die Bevölkerung, wenn es darum geht, das Fach der Palliativmedizin
attraktiver zu machen“, appelliert Masel. Ein Weg sei auch, die Fachrichtung und die Station — wie bereits im Falle der Ambulanz – in „supportive Medizin“ umzubenennen, um den Menschen auf diese Weise die Scheu davor zu nehmen, eine solche Form der Unterstützung anzunehmen.(c) Ludwig Schedl