Mit Beginn des Jahres 2022 hat Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Clodi die zweijährige Periode seiner Präsidentschaft in der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG) angetreten. Mit PERISKOP sprach er über diabetesbezogene Brennpunktthemen, über die FORDERUNGEN DER ÖDG AN DIE GESUNDHEITSPOLITIK und über die Chancen, die sich durch zukunftsweisende Strategien ergeben können. Im Fokus: Bewusstseinsbildung, Diabetes-Früherkennung und Versorgungsoptimierung betroffener Patientinnen und Patienten. | von Lisa Türk, BA
Abgesehen von den individuellen Einzelschicksalen, gehen die weltweit zunehmenden Diabeteserkrankungen mit enormen gesamtgesellschaftlichen, volkswirtschaftlichen und gesundheitssystemischen Zusatzbelastungen einher. Schätzungen zufolge sind österreichweit etwa 800.000 Menschen von Diabetes betroffen — Prädiabetikerinnen und -diabetiker noch nicht mit einberechnet. Laut aktueller Prognosen ist von einer weiteren rapiden Zunahme der Betroffenenzahlen auszugehen — sofern der aktuelle Trend nicht gestoppt wird.
PERISKOP: Die derzeitigen Entwicklungen verdeutlichen einen akuten Handlungsbedarf im Bereich der Diabeteserkrankungen. Welche Schwerpunkte plant die ÖGD in diesem Kontext zu setzen bzw. weiterzuführen?
Clodi: Zunächst ist es von zentraler Bedeutung, die Wahrnehmung der schädigenden Effekte der Hyperglykämie in den Fokus zu rücken — nicht nur bei Patientinnen und Patienten, sondern auch bei Kolleginnen und Kollegen. Im Sinne des Patientenwohls ist es entscheidend, die HbA1c-Werte, also die Durchschnittsblutzuckerwerte, möglichst niedrig und Komplikationen hintan zu halten. Ebenso wesentlich ist das Vorantreiben der Bestimmung des HbA1c-Wertes, einer langjährigen Forderung der ÖDG, die im letzten Jahr endlich seitens Österreichischer Gesundheitskasse (ÖGK) umgesetzt wurde. Neben diesen beiden Aspekten ist es zudem entscheidend, die Barrieren in der Verschreibung vieler Diabetesmedikamente herabzusetzen oder gänzlich fallen zu lassen. Wenn jemand von Diabetes oder Prädiabetes betroffen ist, sollte die Möglichkeit der Gabe antidiabetischer Medikamente nicht von diversen Grenzwerten abhängig sein. Im Vordergrund steht das Bestreben, die Blutzuckersituation einer Patientin, eines Patienten nicht in den pathophysiologischen Bereich entgleiten zu lassen.
Wir müssen die Wahrnehmung der toxischen Effekte eines erhöhten Glukosespiegels in den Fokus rücken — bei Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten.
Martin Clodi
Diabetes ist weltweit zu einer Zivilisationskrankheit geworden. Aus einer internationalen Perspektive betrachtet Diabetes ist weltweit zu einer Zivilisationskrankheit geworden. Aus einer internationalen Perspektive betrachtet – welche Gründe hat diese Entwicklung?
Diese Tendenzen lassen sich anhand publizierter Daten der amerikanischen Gesundheitsbehörde illustrieren. Davon ausgehend ist die Prävalenz von Diabetes mellitus Typ 2 in den vergangenen 20 Jahren um 50 Prozent gestiegen, im Konkreten von 9,9 auf 14,9 Prozent der Gesamtbevölkerung in den USA. Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Betont sei zunächst, dass einer Diabeteserkrankung eine starke genetische Komponente zugrunde liegt. Hat ein Elternteil Diabetes, so besteht für das Kind eine 40-prozentige Wahrscheinlichkeit, ebenfalls daran zu erkranken. Sind beide Elternteile betroffen, liegt die Wahrscheinlichkeit für den Nachwuchs bei 70 Prozent. Neben den weiteren Hauptrisikoparametern — das sind Gewichtszunahme und Bewegungsmangel — sind auch überalternde Gesellschaften ein wesentlicher Aspekt.
Mit insgesamt 140.000 Geburten war 1963 in Österreich das geburtenstärkste Jahr, fünf bis zehn Jahre danach lag die Geburtenrate nur noch bei 80.000 — bis einschließlich heute. Die Babyboomer-Generation ist heute 58 oder 59, in zehn Jahren 68 oder 69 Jahre alt. An dieser Stelle möchte ich erneut einen Vergleich mit den USA anführen, deren geburtenstärkste Jahrgänge etwa fünf Jahre früher als in Österreich zu verzeichnen sind. Anhand amerikanischer Daten wird nun ersichtlich, dass 29,5 Prozent aller Personen über 65 an Diabetes mellitus Typ 2 leiden. Im Vergleich dazu: Über 45 Jahren liegt der Prozentsatz bei 18,5 Prozent. Das sind — auch versorgungstechnisch und gesundheitssystemisch betrachtet — dramatische Zahlen und Entwicklungen, die auch auf Österreich, das den USA zeitlich ein paar Jahre hinten nach ist, zukommen.
Sie haben es bereits eingangs angesprochen — was verbirgt sich hinter dem Begriff der Glukosetoxizität und was bedeutet er für das Verständnis der diversen Begleit- und Folgeerkrankungen?
Mit dem Begriff der Toxizität ist immer etwas Schädigendes assoziiert — im Falle von Diabetes gilt die erhöhte Glukose als direkt schädigendes, toxisches Agens für viele Zellen, Zellorganellen und Organe im menschlichen Körper. Das bedeutet nicht, dass jede Patientin und jeder Patient, die oder der länger erhöhte Glukosewerte hat, automatisch Schäden entwickelt. Hier greifen viele Faktoren ineinander — das beginnt bei der Genetik, geht über die Ernährung und reicht bis hin zur Bewegung. Fakt ist allerdings, dass eine kontinuierliche Glukoseerhöhung toxisch sein kann und diese Glukosetoxizität daher zu vermeiden ist. Es geht darum, die Patientinnen und Patienten mit Diabetes weg vom pathophysiologischen in einen physiologischen Bereich des Glukosestoffwechsels, das bedeutet in einen normalen HbA1c-Bereich, zu bringen. Darauf muss der Fokus liegen.
Sie haben auch die Leitung der Abteilung für Innere Medizin am Konventhospital der Barmherzigen Brüder in Linz inne. Im Rahmen einer Studie haben Sie untersucht, wie viele der dort aufgenommenen Patientinnen und Patienten, die nicht wegen Diabetes aufgenommen wurden, davon auch betroffen waren/sind. Was haben Ihre Analysen ergeben?
Über einen Zeitraum von drei Monaten hinweg haben wir im Zuge aller internen stationären Aufnahmen den HbA1c-Wert der Patientinnen und Patienten bestimmt — eine Standardvorgehensweise, die meines Erachtens in jedem Krankenhaus, jedem niedergelassenen Labor erfolgen sollte. Wir haben festgestellt, dass bei 25 Prozent der Patientinnen und Patienten ein Diabetes mellitus Typ 2 bereits bekannt war, die Erkrankung bei 2 Prozent im Zuge unseres Screening frisch diagnostiziert wurde, dass bei 7 Prozent bereits ein Prädiabetes bekannt war und dass bei 11 Prozent die Diagnose Prädiabetes manifest wurde. Insgesamt hatten wir es also innerhalb der drei Monate bei über 50 Prozent der Patientinnen und Patienten mit (Prä-)Diabeteserkrankungen zu tun. In diesem Kontext sei auch erwähnt, dass 50 Prozent aller Patientinnen, Patienten mit einem akuten oder subakuten Myokardinfarkt an einer Glukosestoffwechselstörung leiden, bei Patientinnen, Patienten mit Herzinsuffizienz sind es 80 Prozent, bei Personen, die von einem Schlaganfall betroffen waren, 30 bis 70 Prozent. Bei 30 Prozent der Dialysepatientinnen und -patienten geht der Dialyse ein Diabetes oder Prädiabetes voraus. Die Ergebnisse unserer Analysen bestätigen demnach erneut die toxische Wirkung der Glukose.
Die ÖDG hat im vergangenen Jahr die PRAEVENIRE Initiative Diabetes 2030 unterstützt. Die zentrale Forderung nach einer flächendeckenden Kostenübernahme der HbA1c-Wert-Bestimmung durch die ÖGK wurde bereits erreicht. Was braucht es, um diesen Erfolg im Sinne einer optimalen Diabetesversorgung nun verwerten zu kö
Hier sind zwei wesentliche Schritte zu nennen. Zum einen geht es darum, die Bedeutung der nun gegebenen Möglichkeit einer routinemäßigen HbA1c-Wert-Messung publik zu machen und die Wahrnehmung in puncto Risiken, die mit Diabetes einhergehen, zu stärken — bei allen Gesundheitsberufsgruppen, die mit Diabetes in Berührung kommen. Zum anderen geht es darum, die zahlreichen Patientinnen und Patienten, die im Rahmen dieser neuen Möglichkeit eine frische Diagnose erhalten, optimal in ein (Langzeit-) Betreuungssetting, bestehend aus medizinischer Unterstützung, Hilfe bei Lebensstilmodifikationen, aus Bewegungstherapien und Optionen zur Gewichtsreduktion, einzugliedern. Alles in allem wird die flächendeckend finanzierte Bestimmung des HbA1c-Wertes wohl einen zusätzlichen Drive mit sich bringen und einen sehr positiven Effekt auf die Gesundheitssituation in Österreich haben.
Auch dieses Jahr wird die ÖDG im Zuge der Initiative Diabetes 2030 eine inhaltliche Führungsrolle einnehmen. Welche Optimierungspotenziale, Botschaften und Forderungen stehen auf der Agenda?
Eine Grundforderung der ÖDG ist seit eh und je, den Fokus auf Prävention, Früherkennung bzw. Lebensstilmodifikationen bei Prädiabetes zu richten und sich dafür die entsprechende Zeit, die auch honoriert werden muss, zu nehmen. Wie bereits im Kontext der Glukosetoxizität erwähnt, wissen wir aus epidemiologischen Daten, dass ein klarer linearer Zusammenhang zwischen dem Anstieg des HbA1c-Wertes und etwa kardiovaskulären Ereignissen besteht. Zwischen einem Wert von 5,4 und 5,9 erhöht sich das genannte Risiko bereits um 30 Prozent, es schnellt demnach relativ rasch nach oben. Diese direkte Korrelation, dieses Risiko verdeutlicht die Bedeutung eines raschen Handlungsbedarfs — eine Botschaft, die wir intensiver, beispielsweise in Form von Awarenesskampagnen, vermitteln müssen, sodass sowohl Kolleginnen und Kollegen als auch Patientinnen und Patienten noch stärker ins Tun kommen.
Die geöffnete Verschreibungsoption innovativer anti-diabetischer Medikamente resultiert langfristig in einem Rückgang an Komplikationen und einer gesamtsystemischen Entlastung.
Martin Clodi
Den niederschwelligen Zugang zur Diabetesversorgung sehe ich grundsätzlich im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung gegeben und demnach primär im niedergelassenen Bereich bzw. in Primärversorgungseinheiten (PVE) angesiedelt. In diesem Zusammenhang ist es ganz wesentlich, die multiprofessionelle Behandlung und Betreuung von Diabetespatientinnen und -patienten zu fördern. In puncto Versorgungsoptimierung erachte ich insbesondere die weitere Errichtung von niederschwellig zugänglichen spezialisierten Diabeteszentren als zielführend. Ein solches wurde in Wien Favoriten bereits umgesetzt, ein weiteres Zentrum entsteht gerade in Innsbruck. Diese Zentren wiederum sollten in jeder Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern an ein diabetesfokussiertes Krankenhaus angegliedert sein.Auch die verstärkte Nutzung der Digitalisierung und die Implementierung von Telekonzilen — inklusive entsprechender Honorierung — sind zentrale Aspekte, die die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen zusätzlich erleichtern. Zugunsten der Umsetzung eines Diabetesregisters und -passes, welche in die ELGA integriert sein sollten, braucht es eine zwingende, an die Leistungshonorierung gekoppelte Codierung der Diagnosen — und es sind neben Diabetes meist mehrere, die man auf diese Weise einfangen könnte — im niedergelassenen Bereich. Abschließen möchte ich mit einer weiteren ganz wesentlichen Forderung: dem niederschwelligen Zugang zu neuen Medikamenten, sobald die Diagnose Diabetes gestellt ist. Damit verbunden sind die Notwendigkeit der Eröffnung der Verschreibungsmöglichkeiten und der Bewusstmachung der positiven Effekte, die damit einhergehen. Denn die Option, innovative und wirksame Diabetesmedikamente zu verschreiben, resultiert auf lange Frist nicht nur in einem Rückgang an Komorbiditäten und Komplikationen, sondern auch in einer ökonomischen Entlastung des gesamten Gesundheitssystems