Die COVID-19-Pandemie zeigte bislang keine Saisonalität, sondern setzt sich mit immer neuen Varianten fort. Im Rahmen der Open Alm, dem traditionellen Höhepunkt der PRAEVENIRE Gesundheitsgespräche in Alpbach, diskutierte eine hochkarätige Expertenrunde aus dem Gesundheitsbereich unter dem Titel „COVID-19-Potenzial ausschöpfen, jetzt impfen für den Herbst!“ welche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung für den Herbst zu ergreifen sind und wie es mit der Impfung, als wirksamstes Präventionsinstrum, weitergeht.
Rainald Edel, MBA
Periskop-Redakteur
Die Ausgangslage für den heurigen Herbst unterscheidet sich deutlich von der Situation vor zwei Jahren. Dank der raschen Entwicklung wirkungsstarker Impfstoffe gegen COVID-19, sind wir in der Lage, uns gegen das Virus zu rüsten und zu schützen. Diese Chance gelte es zu nutzen, so der einhellige Tenor der Expertinnen du Experten am Podium. Entsprechend den Empfehlungen des Nationalen Impfgremiums (NIG) senkt die COVID-19-Impfung auf individueller Ebene mit den derzeit verfügbaren COVID-19-Impfstoffen nachweislich das Risiko, schwer an COVID-19 zu erkranken oder zu versterben. Während die Personengruppe 65 Jahre und älter zu 82,6 Prozent gemäß der Empfehlung des NIG geimpft ist, liegt die Impfquote bei den unter 15-Jährigen bei mageren 9,7 Prozent. Auch der Rest der Bevölkerung (15 bis 64 Jahre) liegt mit 61,9 Prozent noch weit von der angestrebten Impfquote von über 80 Prozent entfernt. (Stand August 2022).
Einfache, klare Kommunikation Richtung Bevölkerung gefordert
„Wir haben vor Kurzem mit der Aufhebung der Quarantäne ein großes Stück der Verantwortung in der Pandemiebekämpfung an die Bevölkerung weitergegeben“, erklärte die Vorarlberger Gesundheitslandesrätin Martina Rüscher, MBA, MSC, in ihrer Videobotschaft zur Open Alm. Daher sei es für die Politik umso wichtiger, einfach, klar und verständlich zu kommunizieren. „Im Rahmen der COVID-19-Impfung sollten wir nichts versprechen, was wir nicht halten können, aber auch sehr klar und selbstbewusst für die Impfung eintreten. Der Virus ist da und wird auch nicht mehr weggehen. Jeder und jede kann sich schützen – man kann Maske tragen, Abstand halten, Händehygiene betreiben, ein Medikament einnehmen, insbesondere, wenn man zur vulnerablen Gruppe zählt und positiv getestet ist – und man kann sich impfen lassen“, so Rüscher. Es gäbe eine breite Auswahlmöglichkeit an Impfstoff en und jede bzw. jeder könne ihren bzw. seinen individuellen Impfschutz verbessern.
Diese Einschätzung teilt auch Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, MPH, Leitung Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation, Donau-Universität Krems. „Die Pandemie ist ganz sicher gekommen, um zu bleiben – wir werden damit leben müssen. Die große Frage ist, mit welcher Virusmutation wir es in Zukunft zu tun haben werden“ und wies weiters besonders auf die wellenförmigen Ausbrüche hin: „Es wird immer wieder Wellen geben. Bleibt Omikron, haben wir wahrscheinlich Glück. Kommt eine andere Mutation, sieht die Situation völlig anders aus.“ Omikron und seine Untervarianten seien weniger krankmachend, aber viel ansteckender.
Breite Auswahl an wirksamen Impfstoffen
„Die COVID-Impfstoffe zählen zu den am besten untersuchten Medikamenten weltweit, deren Nebenwirkungen besser und schneller als bei jedem anderen Impfstoff bekannt wurden. Es gibt daher fast keine Gründe, jemanden nicht zu impfen“, erklärte der Infektiologe Univ.-Prof. Dr. Florian Thalhammer, Präsident Österreichische Gesellschaft für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin. Woran es laut Thalhammer hingegen krankt: „Wir haben zu wenig Eigenverantwortung.“ Dagegen sollte man „immunisieren“. Die österreichischen Empfehlungen seien glasklar, so der Infektiologe: „Wir sprechen von einer Grundimmunisierung mit drei Teilimpfungen. Eine Infektion ist ein immunologisches Ereignis, zählt aber nicht zur Impfung.“ Der ‚vierte Stich‘ ist für alle Altersgruppen ab dem 12. Lebensjahr vom NIG empfohlen. Die Wirksamkeit sei mit 95 Prozent zudem extrem hoch.
Wissenschaftliche Hochleistung
Die Sichtweise der europäischen Zulassungsbehörde EMA schildert di Dr. Christa Wirthumer-Hoche, Leitung Medizinmarktaufsicht, Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit und Mitglied des EMA-Boards. „Dass die COVID-19-Impfung so rasch entwickelt wurde und ausreichend Daten zur Zulassung vorgelegt werden konnten, ist eine wirklich gigantische Leistung“, so Wirthumer-Hoche. „Die internationale Zusammenarbeit war besonders dynamisch und gut und fand in Regelmäßigkeit statt.“ Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe verschiedener COVID-19-Vakzine: mRNA-Impfstoff e (Pfizer/BioNTech, Moderna), Vektor-Impfstoff e (AstraZeneca), Protein-basierte (Novavax) – zuletzt wurde auch ein Ganzvirus-Totimpfstoff (Valneva) in der EU zugelassen. Es gibt also bereits große Auswahl. Das ist aber nicht das Ende. Es wird weiter geforscht. Wirthumer-Hoche merkte an, dass es nun eine Frage der zukünftigen Entwicklung sei, welche Mutation komme und entsprechend passe sich auch die Forschung an. Es wird kombinierte Impfstoffe, COVID-19 und Influenza geben, das alles sei in Entwicklung.
„Zusammengefasst kann man sagen: Es ist ein Segen, dass wir diese Impfstoff e haben. Wir müssen alles unternehmen, um möglichst viele Menschen, die sich bereits grundimmunisieren haben lassen, davon zu überzeugen, sich auch einen vierten Stich zu holen und darin bestenfalls noch die Sinnhaftigkeit erkennen“, appelliert Wirthumer-Hoche.
Hausarztpraxen als Informationsdrehscheibe
Die Expertenrunde verwies immer wieder stark auf die Eigenverantwortung der Bevölkerung. Dabei spiele objektive Beratung, vor allem durch Hausärztinnen und Hausärzte, eine wichtige Rolle. Wie viele Berufskolleginnen und -kollegen in Österreich ist auch Dr. Erwin Rebhandl, Allgemeinmediziner und Präsident AM PLUS – Initiative für Allgemeinmedizin und Gesundheit, in seiner Praxis, der PVE in Haslach an der Mühl, nahezu täglich mit Fragen der Bevölkerung zur Impfung, zu den Impfstoff en und deren Wirkmechanismen konfrontiert. Die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten ist in der Hausarztpraxis von größter Bedeutung: Die Impfung sei eine persönliche Entscheidung. Er betonte die Wichtigkeit der mittlerweile großen Auswahl: „Wir sind froh, dass es nun auch einen Protein-basierten Impfstoff gibt. Diese Option kann man jenen Personen anbieten, die bei mrna- und Vektorimpfstoff en – aus welchen Gründen auch immer – noch Bedenken hat ten. Darunter sind auch viele junge Menschen, wie die Zahlen zeigen“, so Rebhandl.
Der Proteinimpfstoff ist in der EU ab einem Alter von 12 Jahren zugelassen und auch als Auffrischungsimpfung für Erwachsene ab 18 Jahren. „Die wirklichen Impfskeptikerinnen und-skeptiker wird man durch die vorhandenen Impfstoff Optionen aber auch nicht überzeugen. Doch diese Gruppe wird geringer, sodass ich schon glaube, dass wir die Impfquote noch etwas steigern können“, schilderte der Allgemeinmediziner. Auch beim immer wieder sehr kontroversiell diskutierten Thema „Long COVID“ gibt eine aktuelle Studie Grund zur Erleichterung, denn die Anzahl von tatsächlich diagnostizierten Long COVID Erkrankten sei im einstelligen Prozentbereich angesiedelt. „Bei in der Hausarztpraxis auftretenden Verdachtsfällen verbirgt sich hinter der Vermutung von Long COVID nicht selten eine andere Erkrankung, beispielsweise eine Depression, die sich in den vorangegangenen Monaten entwickelt hat.“, schildert Rebhandl.
Niederschwelliger Impfzugang ist entscheidender Faktor
„Die Haltung der ÖGK ist eindeutig: Impfen ist eine ganz wesentliche Präventionsleistung in einem Gesundheitssystem, für die sich die Sozialversicherung verantwortlich sieht“, betonte Andreas Huss, MBA, Obmann Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK). Zwar wäre rein rechtlich gesehen der Bund zuständig, jedoch habe die ÖGK hier bereits früh die Gesamtverantwortung übernommen. Was man in der Pandemie gesehen habe, ist, dass das Thema Impfen in der Vergangenheit generell stiefmütterlich behandelt wurde, was sich auch in der eher niedrigen Impfrate niedergeschlagen habe. Während sich beispielsweise in Finnland 70 Prozent der Bevölkerung regelmäßig gegen Grippe impfen lassen, läge man in Österreich bei 38 Prozent. Daher nütze es nichts, über das Impfen nur zu reden, sondern es bedürfe eines niederschwelligen, möglichst kostenlosen Erwachsenenimpfprogrammes, wie es das für Kinder und Jugendliche bis zum 15. Lebensjahr bereits gibt. Daher hat die ÖGK beschlossen, 2023 erstmals die Grippeimpfung nur um den Preis der Rezeptgebühr (für jene, die davon befreit sind, sogar kostenlos) anzubieten.
Stärkere Gesundheitskompetenz hilft gegen Mythen
Was es in Österreich brauche, so Gerald Gartlehner am Schluss der Diskussion, sei nicht nur evidenzbasierte Medizin, sondern auch evidenzbasierte Information für die Bevölkerung, um die Gesundheitskompetenz zu stärken wie beispielsweise in Norwegen. Im Norden hätten Mythen nur wenig Propaganda, da bereits das Grundwissen über den eigenen Gesundheitsstatus entsprechend gefördert wäre. Gesundheitskompetenz bedeutet, wie kompetent jemand sei, gesundheitliche Entscheidungen treffen zu können, beispielsweise bei einer Impfung. Die letzten EU-Studien haben gezeigt, dass Österreich bei der Gesundheitskompetenz im unteren Viertel liegt. Hier gäbe es noch einen großen Aufholbedarf, so Gartlehner. Der Präsident der Ärztekammer Tirol, Dr. Stefan Kastner, der als Zuhörer an der Open Alm teilnahm, warf einen skeptischen Blick in die Zukunft: „Ab September beginnen die ersten digitalen Impfpässe auszulaufen – was dann?“ Als Vorzeigemodell sei Israel heranzuholen, dort konnte durch eine massive Durchimpfung in kurzer Zeitspanne eine weitere Welle verhindert werden. „Diese Möglichkeit sollten wir aber jetzt entscheiden und zu kommunizieren © GAT TINGER beginnen“, so Kastner.
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