Aufgrund des stetigen technologischen Fortschrittes ist es mittlerweile möglich, mit Hilfe empfindlicher molekularbiologischer Analysemethoden, im Rahmen von sog. Liquid Biopsies DNA-Fragmente maligner Tumore– auch schon in frühen Stadien – im peripheren Blut nachzuweisen. Diese zirkulierende Tumor-DNA-Fragmente (ctDNA) stellen (gemeinsam mit CTCs) minimal- invasive multifunktionale Biomarker dar. Deren Potential Diagnosezeitpunkte zu verfrühen, Diagnosestellung und Therapeutic Target Selection zu unterstützen sowie das Ansprechen auf Therapien (bzw. Therapieresistenz) zu beurteilen, diskutierte eine hochkarätige Runde von Expertinnen und Experten bei einem PRAEVENIRE Gipfelgespräch. | von Christian Lenoble
In den vergangenen zehn Jahren wuchs die Zahl der jährlichen Krebsneuerkrankungen auf etwa 42.000 an. Dementsprechend steigt die Krebsprävalenz, sprich die Anzahl der mit Krebs lebenden Personen an einem bestimmten Stichtag, seit Jahren kontinuierlich an. Lebten 2009 noch 290.240 Personen mit einer Krebsdiagnose in Österreich, so waren es zu Jahresanfang 2020 bereits 375.749. Laut dem ersten Österreichischen Krebsreport (Initiative der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie, OeGHO, und der Österreichischen Krebshilfe, in enger Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Nationalen Krebsregister von Statistik Austria) wird sich der Trend fortsetzen. Die Prognose der Expertinnen und Experten: Ende 2030 werden rund fünf Prozent aller Österreicher an Krebs erkrankt sein. Im Jahr 2000 lag der Anteil bei „nur“ 2,4 Prozent der damaligen Bevölkerung. Der Hauptgrund dieser Entwicklung ist, dass es in Folge der demographischen Alterung sowie der steigenden Lebenserwartung immer mehr Personen in höherem Lebensalter gibt und die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, mit steigendem Lebensalter zunimmt.
Auch verstärktes Screening sowie verbesserte Diagnosemethoden tragen dazu bei, Krebserkrankungen vermehrt und frühzeitiger zu erkennen. Somit erhöht sich die Zahl der registrierten Neuerkrankungen. Nicht zuletzt verbessern sich aber auch die Überlebenswahrscheinlichkeiten, wodurch die Zahl der mit einer Krebserkrankung lebenden Personen weiter anwächst.
Tumor-DNA im Blut nachweisen
Steigende Inzidenzraten von Krebserkrankungen auf der einen Seite und der Fortschritt der Wissenschaft mit innovativen Therapien und diagnostischen Möglichkeiten auf der anderen stehen für beständige Veränderung – und stellen eine große Herausforderung für das gesamte Gesundheitsversorgungssystem dar. Zu den zentralen Themen gehört in diesem Konnex die fortschreitende Personalisierung bzw. Präzisierung in der Onkologie. Im Fokus steht aktuell eine Entwicklung, die laut Expertinnen und Experten innerhalb von fünf Jahren zu einem Standard in der Krebsbehandlung bzw. -nachsorge avancieren könnte. Die Rede ist von der zirkulierenden Tumor-DNA (ctDNA). So ist es mittlerweile mit Hilfe molekularbiologischer Analysemethoden möglich, DNA-Fragmente bösartiger Tumore im Blut nachzuweisen. Die Fragmente erweisen sich als wesentliche Indikatoren. Der ctDNA-Analyse wird im gesamten Bereich der Krebsversorgung großes Potenzial im Sinne einer Weiterentwicklung zur Präzisionsonkologie attestiert – von der Früherkennung über eine möglichst frühe Diagnosestellung, von der Unterstützung bei der Therapieauswahl und -kontrolle über post-chirurgische Follow-up-Untersuchungen, und von der Überwachung von Rezidiventwicklungen bis hin zum Erkennen beginnender Therapieresistenzen und genetischer Veränderungen des Tumors.
Für das PRAEVENIRE Gesundheitsforum, das seit seiner Gründung die Onkologie als eines der wesentlichsten Felder für die Sicherstellung der State-of-the-Art-Gesundheitsversorgung ansieht, ist die neue Technologie eine besondere Betrachtung Wert. Im Rahmen einer PRAEVENIRE Gipfelgesprächs diskutierte eine Expertenrunde das Potenzial von ctDNA-Anwendungen. Im Raum standen unter anderem die Fragen, was es braucht, um neuartige und innovative Technologien wie diese in die Regelanwendung zu überführen, welche Erwartungen damit verbunden sind und welche wissenschaftlichen Daten und Fakten zielführend an (politische) Entscheidungsträger kommuniziert werden sollen.
Tumornachweis durch Liquid Biopsies
Einen Einblick in den aktuellen Status und die Entwicklungsperspektiven von ctDNA gab Ellen Heitzer, Leiterin des „Forschungsteam Heitzer“ am Diagnostik- & Forschungszentrum für Molekulare BioMedizin der MedUni Graz: „Zum Nachweis von Tumorzellen bzw. Tumor-DNA im Blut und anderen Körperflüssigkeiten kommen in der modernen Medizin sogenannte Liquid Biopsies zum Einsatz. Sie dienen sowohl der Früherkennung von Rezidiven nach einer Behandlung als auch der Überwachung des Behandlungserfolgs während der anti-tumoralen Therapie. Der ctDNA wird dabei ein besonderes Potenzial zugeschrieben.“ Besonders bei hochkomplexen, fortgeschrittenen Tumoren konnten laut Heitzer damit bereits große Erfolge in der Detektion neu entstandener Tumorklone und in der Adaptierung der therapeutischen Strategie erzielt werden. „Es gibt grundsätzlich noch eine Reihe offener Fragen die Biologie der DNA betreffend“, so Heitzer. Die größte Herausforderung in der Analyse der im Plasma zirkulierenden DNA sei die fehlerfreie Unterscheidung zwischen Tumor-DNA (ctDNA) und zirkulierender DNA, die von gesunden Zellen stammt. „Es ist daher wichtig, die Biologie der ctDNA exakt zu verstehen, damit die erlangten Erkenntnisse zu einer Krebsfrüherkennung anhand einer Liquid Biopsy genutzt werden können.“
Tumorerkennung mit Hilfe von KI
Eine wichtige Hilfestellung bei der Erkennung molekularer Krebsmuster liefern Technologien der künstlichen Intelligenz. „Die kombinierte Verwendung von klinischen und genetischen Datensätzen mittels Methoden wie Machine- Learning- Algorithmen könnte in Zukunft zur Krebsfrüherkennung aus Blut oder anderen Körperflüssigkeiten beitragen – und als nicht-invasives Screening Tool genützt werden“, betont Heitzer und zitiert dazu die Ergebnisse einer jüngsten Studie des amerikanischen Biotechnologie-Unternehmens Grail. Untersucht wurden rund 6.700 Krebspatienten. Zwei Drittel der Blutproben dienten als Trainingsmaterial für einen KI-Algorithmus, ein Drittel wurde genutzt, um zu erproben, ob das Programm tatsächlich Krebs im Blut erkennen kann. Die Erkennungsrate lag zwischen 18 und 93 Prozent. „Es hat sich, wie in anderen Studien auch, gezeigt, dass sich der ctDNA-Test für manche Tumorentitäten sehr gut, für andere schlecht bis gar nicht eignet.
Das liegt vor allem daran, dass verschiedene Tumortypen unterschiedliche Freisetzungsraten von DNA haben“, fasst Heitzer zusammen. Ihre Conclusio: Das Potenzial ist enorm, aber es gibt noch eine Reihe von Herausforderungen und Studien, um den klinischen Nutzen für die Patienten einwandfrei belegen zu können.
Klinischer Nutzen
Wie vielversprechend manche Ergebnisse bereits sind, erläutert Lungenkrebsspezialist Dr. Maximilian Hochmair, Leiter der pneumoonkologischen Ambulanz und Tagesklinik, Abteilung für Innere Medizin und Pneumologie der Klinik Floridsdorf: „Besonders spannend ist eine jüngste Untersuchung zur Bedeutung der Bestimmung der zirkulierenden Tumor-DNA für das Monitoring, also für die Behandlungskontrolle. Die Studie zeigt, dass bei Patienten mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom in einem frühen Krankheitsstadium mittels einer hochsensitiven Liquid Biopsy ein Wiederaufflammen der Krebserkrankung bereits viele Monate vor einem klinisch erkennbaren Fortschreiten der Erkrankung erkannt werden kann.“ Dadurch könne natürlich wesentlich früher therapeutisch interveniert werden. „Dies könnte einen echten Paradigmenwechsel in der Diagnostik und Therapie des Lungenkarzinoms darstellen.“
„Wir haben mit ctDNA eine Chance, Tumore ohne großen Aufwand und mit hoher Genauigkeit frühzeitig zu detektieren. Das steht ebenso fest wie der Umstand, dass es bis zur klinischen routinemäßigen Praxis noch viele Herausforderungen zu meistern gibt“, meinte im Rahmen einer Videobotschaft an die Teilnehmer des Gipfelgesprächs Univ.-Prof. Dr. Philipp Jost, Leiter der klinischen Abteilung für Onkologie am LKH-Univ. Klinikum Graz und Professor für Onkologie an der Medizinischen Universität Graz. Als wesentliche offene Frage bleibe zum Beispiel, wie man mit dem Ergebnis der ctDNA-Tests konkret umgehen soll und welche Schlüsse für den Patienten – keine Therapie bzw. Intensivierung oder Modifikation der Behandlung – gezogen werden sollen. Das Ausloten des klinischen Nutzens als wichtige Herausforderung betont ebenfalls Assoz.-Prof. Dr. Christoph Grimm, Leiter der Gynäkologischen Onkologie an der MedUni Wien und AKH sowie Präsident Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie der OEGGG (AGO). „Wir haben viel Forschungserfahrung, aber noch wenig bis keine Anwendung in der klinischen Praxis. Man kann kurz gefasst von vielversprechenden Ansätzen sprechen“, so Grimm. Von einem wissenschaftlich breiten Portfolio, bei dem nicht zuletzt die angesprochene Clinical Utility in den Fokus gerückt wird, berichtet auch Priv.-Doz. Dr. Lukas Weiß, Oberarzt der Onkologischen Ambulanz am Uniklinikum Salzburg: „Es ist schließlich die entscheidende Frage zu wissen, was man mit den aus ctDNA-Test gewonnenen Daten macht. Das gilt in erster Linie für den Patienten, aber natürlich auch, was die Finanzierung der Diagnostik betrifft.“ Laut Weiß gelte es ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die dank ctDNA-Test verbesserte Diagnostik dabei hilft, Therapiekosten einzusparen.
Bedeutung der Finanzierung
„Dort wo ctDNA-Analysen bereits heute State of the Art sind, etwa im Bereich Bronchialkarzinome, muss die Finanzierung rasch österreichweit einheitlich geregelt werden. Wir können im Sinne unseres solidarischen Systems nicht zulassen, dass hier eine Schere aufgeht zwischen jenen, die sich das privat leisten können und jenem Teil der Bevölkerung, der das nicht kann“, sagt Univ.-Prof. Dr. Michael Gnant von der MedUni Wien. Ein Weg zur Anerkennung von ctDNA im Gesundheitssystem sieht Gnant darin, dass sich die Technologen und Onkologen in Österreich darauf verständigen und mit einer Stimme kommunizieren, in welchen Indikationen und Anwendungen diese Technologie heute wo steht: „Wo ist der Einsatz von ctDNA-Analysen heute bereits State of the Art, in welchen Bereichen erwarten wir diese Entwicklung in absehbarer Zeit und welche Potenziale der Technik sind aktuell noch Zukunftsmusik? Diese Fragen müssen wir so klar wie möglich beantworten können, bevor wir mit Finanzierungsforderungen an die politischen Entscheidungsträger herantreten.“
Wie komplex Finanzierungsverhandlungen selbst dann noch sein können, weiß Mag. Martin Schaffenrath aus seiner Erfahrung als Mitglied des Verwaltungsrates der ÖGK: „Umso wichtiger ist es, klar zu kommunizieren, wo die medizinischen Experten diese Technologie heute bereits als State of the Art der Versorgung definieren. Unser klares Ziel ist es, für unsere Versicherten weiterhin die bestmögliche Versorgung bereitzustellen und das Gesundheitssystem als Ganzes im globalen Spitzenfeld für die Menschen in Österreich zu halten. Dazu benötigt es die gute Zusammenarbeit zwischen Experten und System, zu dem Diskussionen wie diese beitragen.“ Einig sind sich die Experten, dass ohne entsprechende Finanzierung Strukturen verloren gehen und die Forschung über kurz oder lang ins Ausland abwandern würde. Auch das kann, so Christoph Grimm und Michael Gnant, ein politisches Argument sein, nach dem Motto: „Österreich muss auf diesem Gebiet Research Leader bleiben, anstatt zum Follower degradiert zu werden.“