Politische Entscheidungen und Weichenstellungen sind notwendig, um das Gesundheitssystem weiterzuentwickeln. PERISKOP sprach deshalb mit Nationalratspräsident Mag. Wolfgang Sobotka über den Corona-Impfstatus, die wohnortnahe Versorgung sowie vor welchen Herausforderungen das Gesundheitswesen aufgrund der Digitalisierung und der Energiekrise steht.
Carola Bachbauer, BA
Periskop-Redakteur
Die Gesundheitsversorgung ist eine der wichtigsten Aufgaben der Politik. Bereits in seiner Tätigkeit als Landesrat für Finanzen, Arbeitsmarkt, Gemeinden und Wohnbau in Niederösterreich beschäftigte sich Sobotka mit Themen wie dem Krankenhaus der Zukunft. Des Weiteren setzt sich der Nationalratspräsident seit vielen Jahren für die Digitalisierung und die damit verknüpften rechtlichen Rahmenbedingungen ein.
PERISKOP: Die Impfbereitschaft der Bevölkerung sinkt sowohl hinsichtlich der Grundimmunisierung als auch dem vierten Stich. Die Idee einer Impfpflicht ist gescheitert. Welche Konzepte sind seitens der Politik und explizit des Nationalrats notwendig, um der Bevölkerung die Impfung schmackhaft zu machen?
SOBOTKA: Die Tatsache, dass die Corona-Impfung am besten davor schützt, schwer zu erkranken, muss der Bevölkerung immer wieder kommuniziert werden. Deshalb erachte ich es als wichtig, dass Hausärztinnen und Hausärzte, Kommunen und Organisationen, die direkten Kontakt mit den Menschen haben, diesbezüglich eine wesentliche Aufklärungspflicht zukommt. Natürlich müssen auch die Mitglieder der Bundesregierung sowie des Nationalrates und alle Verantwortlichen versuchen, das Bewusstsein für den Schutz vor einer COVID-19-Erkrankung in öffentlichen Reden zu steigern. Wir wissen aber, das hat nicht denselben Effekt wie ein persönliches Gespräch mit einer Vertrauensperson aus dem Gesundheitsbereich. Auch wenn die Erwartungen in Österreich höher sind, im internationalen Vergleich haben wir eine durchaus gute Impfquote. Wir haben die Pandemie zwar nicht hinter uns gelassen, aber meiner Meinung nach haben wir sie ganz gut im Griff. Was uns jetzt gelingen muss, ist der Umstieg von politisch vorgegebenen Schutzmaßnahmen zur Eigenverantwortung der Einzelnen und des Einzelnen.
Durch den Rückgang der Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner und dem Trend zur Wahlarztordination sinkt der Grad der wohnortnahen Versorgung. Welche Anreize muss die öffentliche Hand setzen, um junge Medizinerinnen und Mediziner eine Kassenordination speziell in den ländlichen Regionen wieder interessant zu machen?
Das Erste, was man ändern muss, ist der Common Trunk in der medizinischen Ausbildung. Denn dieser hat sich nicht als der richtige Weg für angehende Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner gezeigt. Das zweite ist, dass eine Landpraxis durch das anfallende Arbeitspensum ziemlich herausfordernd ist. Dazu kommt für einige die mangelnde Attraktivität des ländlichen Raums. Es gibt also eine Vielzahl von Gründen, die dazu führt, dass wir hier große Herausforderungen zu stemmen haben.
Ich glaube, eine gute Antwort sind die Primärversorgungseinheiten, die zeigen, dass eine Praxis im niedergelassenen Bereich anders organisiert werden kann als die typische Einzelordination. Zudem sollten wir Pflegefachkräfte, Therapeutinnen und Therapeuten aus den Bereichen Physiotherapie, Ergotherapie und Psychotherapie in die Versorgung umfassender und wohnortnaher einbeziehen.
Gerade junge Medizinerinnen und Mediziner wollen vernetzter und teamorientierter arbeiten. Auch Patientinnen und Patienten profitieren von einem interdisziplinären Behandlungsansatz. Bis 2023 sollen deshalb österreichweit 75 Primärversorgungseinheiten entstehen. Derzeit gibt es konkret Pläne für knapp die Hälfte davon. Wie kann die Gründung von PVEs vorangetrieben werden, um den extramuralen Bereich zu stärken?
Ich glaube, das ist ein Prozess, der von unten getragen werden muss. Sie sagen selbst, die Ärztinnen und Ärzte wollen mehr Teamarbeit. Ich merke es immer wieder, dass Ordinationen geteilt werden, um die Öffnungszeiten besser anzupassen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu koordinieren. Ich glaube, dort braucht es die Initiative vor Ort, die kann aus der medizinischen, der betroffenen Seite oder von der Gemeinde kommen.
Medizin und Medizintechnik entwickeln sich rasch weiter. Wie sollte das Spital der Zukunft aussehen?
Es wird meiner Meinung nach immer eine medizinische, pflegerische Spezialbehandlung in einem stationären Setting notwendig sein. Wir werden uns aber auch mit anderen Formen der Behandlung, sprich telemedizinischen Behandlungen und anderen Strukturen auseinandersetzen müssen. Es werden sich wohl in zunehmendem Maße Primärversorgungseinheiten und Vorsorgezentren etablieren müssen. Ich halte eher weniger von großen Krankenhäusern mit einer hohen Bettenanzahl und vielen Abteilungen als Erstanlaufstelle. Kleine Einheiten sind viel wendiger und damit erfolgreicher. In einem großen Haus hat man zu viele Führungs- und Zwischenebenen. Der Betrieb muss aber in Managementfragen schnell sein. Dies darf durch Hierarchien, Kontrollen und Berichtslegungen nicht zusätzlich erschwert werden. Was es sicherlich braucht, ist eine Qualitätssicherung, dass man sieht, wie erfolgreich ein medizinischer Eingriff ist, und zwar in Hinsicht auf die Patientenentwicklung, nicht nur im Entlassungsmoment, sondern auch in einem halben Jahr. Außerdem muss man sich mit den enormen Belastungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auseinandersetzen. Wir haben das bei COVID-19 gesehen. Da braucht es mehr Supervision, um mit diesen Herausforderungen fertig zu werden. Das ist in Österreich noch nicht in diesem Ausmaß vorhanden, wie wir uns das wünschen würden. Da sehe ich Aufholbedarf.
Eine Stärkung und Ausweitung der ambulanten Behandlung hätte große Auswirkung auf die benötigte stationäre Bettenkapazität. Ist das derzeitige LKF-System, das die tagesklinischen und ambulanten Behandlungen nicht berücksichtig, noch zeitgemäß?
Wir müssen bei der Versorgungsstruktur aufpassen, dass nicht zu viele Player am Markt sind. Denn die Leistungsabrechnung über LKF- oder LDF-Punkte birgt die Gefahr, dass Patientinnen und Patienten mit hohen Abrechnungspunkten begehrt sind, hingegen solche mit hohem Kostenaufwand und geringer Punkteanzahl im System unsachgemäß verschoben werden. Ich habe seinerzeit in Niederösterreich die Situation dadurch entschärft, dass alle stationäre Gesundheitsanbieter aus einer Organisation kommen. Wenn wir zudem die Finanzierungsströme besser regulieren, dann würden wir die Patientinnen und Patienten dort behandeln, wo es für sie – somit schlussendlich auch für die Kostenseite – am effizientesten ist.
Expertinnen und Experten sind sich einig, dass komplizierte Behandlungen und Eingriffe nur an ausgewiesenen Zentren erfolgen können, die über die notwendigen Erfahrungen verfügen. Welche Schritte zur Forcierung der Zentrumsmedizin sollen gesetzt werden?
Wir brauchen nicht in jeder Region Vollversorger mit wenig Erfahrung. Stattdessen ist es notwendig, spezialisierte Versorgungseinheiten mit multidisziplinären Teams zu etablieren, in denen Patientinnen und Patienten umfassend und individuell betreut werden können und somit die Qualität und Patientensicherheit gewährleistet ist. Die Maßzahlen für die Qualität eines solchen Expertisezentrums müssen die Erfahrung und die Häufigkeit von Eingriffen sein.
Welche Auswirkungen hat die derzeitige Energiekrise auf das österreichische Gesundheitssystem? Gerade wenn man an den großen Strom-, Heiz- und Kühlbedarf der Krankenhäuser denkt.
In Österreich sind wir in der Lage, den Energiebedarf der Häuser zu decken. Sie sind mit Notstromaggregaten ausgerüstet, sodass sie auch in schwierigen Zeiten funktionieren. Ich glaube, es ist bei Neubauten unerlässlich, darauf zu achten, dass sie energiefit sind. Wo dies noch nicht der Fall ist, muss man nachrüsten. Niederösterreich hat seinerzeit ein großes Bauprogramm durchgeführt, um diese Nachrüstung zu gewährleisten.
Onlinedienstanbieter und Tech-Giganten drängen verstärkt in den Gesundheitsbereich. Warum ist ein öffentliches Gesundheitssystem in 20 Jahren noch relevant? Welche Herausforderungen und Chancen stellen sich dem derzeitigen österreichischen Gesundheitssystem?
Es wird in 20 oder auch in 40 Jahren genauso relevant sein wie heute. Eine Behandlung lässt sich nicht durch online zur Verfügung gestellte Informationen ersetzten. Ich glaube, dass die digitalen Möglichkeiten der Telemedizin es erleichtern, nicht notwendige Arztbesuche zu reduzieren. Ein Beispiel: Wenn ich verkühlt bin, mache ich ein Foto von meinem Rachen und schicke es meiner Hausärztin oder meinem Hausarzt. Dieser verordnet mir dann die entsprechende Medizin. Mit der Telemedizin erspare ich mir auf diesem Weg eine Autofahrt und der Hausarzt erspart sich eine Visite. Solche Vorteile zu nutzen, ist ein Gebot der Stunde. Mit der elektronischen Verschreibung und Krankschreibung hat sich bereits sehr viel geändert. Die Einführung der e-card hat eine digitale Welt für die Bürgerinnen und Bürger eröffnet, die einerseits die gewünschte digitale Identität abbilden kann und andererseits hat man damit einen datenschutzrechtlich sicheren Austausch von Gesundheitsdaten ermöglicht. So ist zum Beispiel die Digitalisierung im operativen Bereich nicht mehr wegzudenken. Gerade hier stellt die gesicherte Übermittlung von Gesundheitsdaten eine große Erleichterung für Patientinnen und Patienten als auch deren Behandelnden dar.
Während staatliche Gesundheitsanbieter strenge Regeln befolgen müssen, agieren private Anbieter vor allem im Internet nahezu in einem rechtsfreien Raum. Welche Maßnahmen müssen EU und Bundesregierung ergreifen, um diesbezüglich Chancengleichheit zu ermöglichen?
Es ist ein allgemeines Problem, dass viele Plattformen wie Online-Medien aussehen und agieren. Während klassische Informationsangebote über einen verantwortlichen Herausgeber und eine Chefredaktion verfügen, haben Onlineanbieter das nicht. Daher muss es unser Ziel sein zu verhindern, dass falsche Botschaften überhaupt in den weltweiten digitalen Raum kommen. Ich sage nur Hände weg von anonymen Plattformen mit Gesundheitsinformationen. Hände weg von Plattformen, wo man nicht weiß, wer diese Information zur Verfügung stellt und wie valide sie ist. Bei digitalen Gesundheitsangeboten gibt es internationale Levels, wo man sich als Bereitsteller von Informationen einem Screening unterziehen muss. Sicherlich ist das Level-Playing-Field weiterzuentwickeln. Es ist wichtig, dass es ein Regelwerk für faire Verhältnisse in diesen Bereichen gibt. Aber da würde ich stark auf eine Lizenzierung bzw. ein Audit setzen.
Der Wunsch der Bevölkerung, dass Gesundheitspersonal und politisch Mandatare greifbar und vor Ort sind, ist in letzter Zeit immer klarer zum Ausdruck gekommen. Wie kann man mehr persönlichen Kontakt und Austausch ermöglichen und die Bürgernähe als Qualitätskriterium implementieren?
Der direkte Kontakt wird nur gehen, indem wir in den Gesundheitszentren die Wertschätzung den Patientinnen und Patienten gegenüber zum Ausdruck bringen. Das heißt, dass wir sie nicht als Nummer behandeln, die aufgerufen wird, sondern ihnen als Persönlichkeit den Respekt entgegenbringen, den sie verdienen. Das zweite ist, dass man Räume schaffen muss, wo dieses Vertrauen, was ja herrscht, in einen wechselseitigen Diskurs gebracht wird. Das können Gesundheitstage oder Fitnesswochen sein. Geschickte Bürgermeisterinnen bzw. Bürgermeister wissen das zu organisieren. Wichtig ist, dass die Bevölkerung das Vertrauen zu den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und zu den medizinischen, pflegerischen, rehabilitativen und therapeutischen Einheiten hat.
Abonnieren Sie PERISKOP gleich online und lesen Sie alle Artikel in voller Länge.