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Digitalisierung und Gesellschaft — über strukturelle Notwendigkeiten

© Peter Provaznik

Digitalisierung und Gesellschaft — über strukturelle Notwendigkeiten

© Peter Provaznik

Die Coronakrise hat die Bedeutung der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz für das Gesundheitswesen deutlich in den Vordergrund gerückt. Nationalratspräsident Mag. Wolfgang Sobotka plädierte bei den 6. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten im Sinne einer optimalen Patientinnen- und Patientenversorgung insbesondere für eine intensivere technologische Vernetzung und die Schaffung eines klaren gesetzlichen Rahmens im Umgang mit Digital Health. | von Lisa Türk, BA

Die Digitalisierung ist nichts Neues, sie begleitet und beschäftigt uns bereits seit den 1990er Jahren; mit der Künstlichen Intelligenz, kurz KI, setzen sich Wissenschafterinnen und Wissenschafter bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg auseinander. Der stetige Kerngedanke: Digital Health soll menschliche Expertise ergänzen, ärztliche Arbeit vereinfachen und unterstützen, keinesfalls jedoch ersetzen. Die Coronapandemie hat der Thematik der Digital Health im vergangenen Jahr eine neue Dimension verliehen: Unmittelbare, effiziente, insbesondere aber kontaktlose Kommunikations- und Behandlungswege haben signifikant an Bedeutung gewonnen und zu einem wahrlichen Entwicklungsschwung telemedizinischer Maßnahmen und Vorgehensweisen geführt — ohne konkreten politischen Auftrag auf Bundes- oder Landesebene, ohne Implementierung eines gesetzlichen Rahmens. Vielmehr haben die durch die Pandemie geforderte Reaktionsfähigkeit und Situationselastizität die Basis für den genannten Innovationsschwung gebildet, den es nun auch für die Zukunft mitzunehmen und allem voran umzusetzen gilt. „Natürlich birgt eine Krise immer spezielle neue Herausforderungen und zeigt, was gut oder eben weniger gut funktioniert. Vor allem aber bringt eine Krise jene Schwächen und Limitationen eines Systems zutage, die ihren Ursprung bereits in der Vergangenheit haben und demnach meist weit zurückliegen“, erläuterte Mag. Wolfgang Sobotka im Zuge seiner Keynote mit dem Titel „Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Gesellschaft“ bei den 6. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten Ende Mai 2021. Im Konkreten nahm er in diesem Zusammenhang Bezug auf die aktuell omnipräsente Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts, auf die ökonomische Vulnerabilität Österreichs und die veränderte Bedeutung der Globalisierung. Zusätzlich sei im vergangenen Jahr auf schmerzliche Weise deutlich geworden, welch niedrigen Stellenwert Europa für die Pharmaindustrie als Produktions- und Wirtschaftsstandort habe. Sobotka zufolge hat Österreich global und gesamtheitlich betrachtet dennoch eines der am besten funktionierenden Gesundheitssysteme: Dank unkonventioneller, flexibler und tatkräftiger Vorgehensweisen konnte Österreich die gesundheitliche Krise sowohl im Hinblick auf medizinische als auch soziale Herausforderungen sehr gut bewältigen. In Spitälern, Pflegeeinrichtungen und Test- sowie Impfstraßen wurden Verlässlichkeit und Funktionsfähigkeit des österreichischen Gesundheitssystems tagtäglich verdeutlicht. Allerdings haben sich auf der anderen Seite auch Defizite und Schwachstellen aufgetan. „Umso wichtiger ist es nun, basierend auf einer Analyse der gegebenen Situation, die notwendigen Optimierungsschritte abzuleiten und rasch umzusetzen“, urgierte der Nationalratspräsident.

Digitale Verschränkung

Optimierungspotenzial besteht laut Wolfgang Sobotka besonders im Bereich der inhaltlichen und strukturellen Organisation der Digitalisierung. „Wir befinden uns diesbezüglich aktuell in einer unterentwickelten Situation ohne entsprechende Infrastruktur. Es ist geradezu eine Bedingung, hier und jetzt entsprechende Strukturen aufzubauen und rasch zu implementieren, um auf die nächste Krise, die — in welcher Form auch immer — bestimmt kommen wird, adäquat vorbereitet zu sein“, betonte Sobotka. Insbesondere nahm er hier auf notwendige Verbesserung im Hinblick auf die Intensivierung digitaler Verschränkungen an den kommunikativen Schnittstellen, wie etwa zwischen dem niedergelassenen und dem klinischen Bereich oder zwischen den einzelnen Sozialversicherungsorganisationen Bezug: „Hier mangelt es vor allem an der Vernetzung der Daten sowie an einer gemeinsamen und einheitlichen Struktur. Wenn die einzelnen Akteure ihre eigenen Datenstrukturen und Datenaufbereitungssysteme aufbauen, ihre eigenen Datenwelten schaffen und keine digitalen Verschränkungen stattfinden, so geschieht dies zulasten der Forschung und in weiterer und ganz wesentlicher Folge zulasten der Versorgung von Patientinnen und Patienten. Hier braucht es dringend neue Impulse, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken“, so Sobotka. Auch seien einzelne Organisationen nach wie vor gezwungen, Daten zu kaufen, da Wissen und Technik im Zusammenhang mit einer adäquaten Datengenerierung, -sam­m­lung und -analyse noch immer fehlten. Die digitale Verschränkung und Vernetzung stellen dahingehend einen Mehrwert für alle am Gesundheitsprozess beteiligten Akteure dar. „Ich hoffe, dass die Telemedizin, bedingt durch die gegebenen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Monate, zu etwas Alltäglichem wird. Diesen Aufschwung, diesen Innovationsfortschritt im Alltag zu implementieren und zu etwas Selbstverständlichem zu machen, das wäre der nächste Schritt“, erklärte der Nationalratspräsident. Insbesondere im Bereich der Datengenerierung und -analyse mittels Künstlicher Intelligenz liegt seines Erachtens eine große Chance, die Digitalisierung nachhaltig voranzutreiben und die Systeme in weiterer Folge zu entlasten.

Es benötigt eine Vernetzung der Daten und gemeinsame, einheitliche Strukturen.

Optimierung im Datenzugriff

Der verbesserte Zugriff auf Daten bringt schlussendlich auch eine zielgerichtetere Gestaltung proaktiver Herangehensweisen und präventiver Maßnahmen mit sich — allenfalls ein Vorteil im Hinblick auf Zeit-, Kosten- und letztlich Behandlungseffizienz. Zusätzlich können Digitalisierung und Künstliche Intelligenz auch bei der Früherkennung von Krankheitsbildern eine wesentliche Hilfestellung bieten: „Anhand entsprechender Datensätze früh zu detektieren, an welchen Stellen gesellschaftliche Krankheitsentwicklungen, wie etwa Adipositas, stattfinden, ist gesamtgesellschaftlich und gesamtgesundheitlich gesehen allenfalls systementlastend“, hob Sobotka hervor. Im niedergelassenen Bereich gehe es z. B. jedoch nicht nur um Prävention oder Früherkennung, sondern vor allem auch um den kontinuierlichen Kontakt und die Kommunikation zwischen Ärztinnen, Ärzten und Patientinnen, Patienten. Kontakt und Kommunikation könnten mittels telemedizinischer Möglichkeiten allenfalls intensiviert werden und einen Beitrag dazu leisten, beispielsweise die postoperative Krankheitslast für Betroffene rasch und effizient zu minimieren. „Ziel ist es jedenfalls, den Forschungseinrichtungen mittels optimiertem Zugriff auf konzentrierte und gebündelte Daten neue Impulse zu geben und die Option zu bieten, interuniversitär, interaktiv und international miteinander zusammenzuarbeiten und sich untereinander effizient und über kurze Wege auszutauschen“, resümierte Sobotka, demzufolge es diesbezüglich jedoch noch „sehr viel zu tun gibt“. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Daten unter dem Prätext europäischer Datenschutzrichtlinien sei selbstverständlich unausweichlich, dürfe jedoch keinesfalls davon abhalten, anonymisierte und pseudonymisierte Informationen für die Forschung zugänglich zu machen.

Ich hoffe, dass die Telemedizin zu etwas Alltäglichem wird.

Rechtlicher Rahmen

Auf dem Weg in Richtung effiziente Datengenerierung, -nutzung und -auswertung gilt es laut dem Nationalratspräsidenten in jedem Fall, „die Scheu vor dem Umgang mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz abzulegen“. Hier ist eine inhaltlich vertiefende Auseinandersetzung im Bildungswesen voranzutreiben, um bereits Kindern in der Schule so früh wie möglich das Themenfeld der Informatik näherzubringen und in weiterer Folge eine langjährige Expertise und Vertrautheit mit diesem Bereich heranzubilden.

Aus rechtlicher Perspektive betrachtet, steht man im Kontext von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz laut Sobotka „vor komplett neuen Herausforderungen“ — einerseits auf europäischer Ebene, andererseits auch in Österreich. Denn sowohl national als auch international benötigt es dringend einen bis dato nicht gegebenen gesetzlichen Rahmen für den Umgang mit neuen digitalen Entwicklungen. Digital Health und die verdichtete Überprüfung von Krankheitsbildern gehen zudem stets auch mit einer Auseinandersetzung mit ethischen Aspekten einher. Gerade hier braucht es klare gesetzliche Regelungen zu erlaubten Heran- und Vorgehensweisen. „Was wir diesbezüglich digitalmedizinisch dürfen und was nicht, gilt es in ethischen Überlegungen eindeutig und vor allem einheitlich festzusetzen“, so Sobotka. Abgesehen davon plädierte er im rechtlichen Kontext für einen neuen Zugang, eine neue Anpassungsstrategie im Hinblick auf Gesetze: „Die Technik entwickelt sich mit enormer Geschwindigkeit. Die Konsequenz? Rechtliche Überlegungen von gestern könnten heute schon wieder obsolet sein. Hier wird von der Politik gefordert, flexible Formen der Gesetzschreibung für das 21. Jahrhundert zu eruieren und zu implementieren. Wir müssen jetzt wendiger und situationselastischer denn je sein, um den Akteuren der Künstlichen Intelligenz mehr Anwendungsoptionen zu verschaffen und die dadurch entstehenden Chancen im Gesundheitswesen adäquat und nachhaltig zu nutzen“, schlussfolgerte der Nationalratspräsident. Aus diesem Grund gelte es, den gesetzlichen Rahmen künftig keinesfalls zu eng zu setzen, sondern stets dynamisch und am Puls der Zeit zu bleiben.

Digitalisierungsschwung mitnehmen

Der Trigger Corona hat einen wahrlichen Digitalisierungsfortschritt im österreichischen Gesundheitssystem in die Wege geleitet, der in den letzten Jahren nicht für möglich gehalten wurde und den es nun wahr- und mitzunehmen gilt — und zwar noch bevor die Krise abklingt und wieder Normalität einkehrt, die Erinnerungen verblassen und die Bereitschaft zu Veränderungen wieder nachlässt. „Ich sehe PRAEVENIRE hier als treibende Kraft, wenn es darum geht, neue Denkanstöße zu setzen, Bisheriges gegebenenfalls zu hinterfragen, den Horizont zu erweitern und stets neue, richtungsweisende Impulse zu geben. Jetzt gilt es, die Notwendigkeiten nicht nur zu erkennen und wahrzunehmen, sondern sie auch tatsächlich umzusetzen. Die Politik ist jedenfalls offen dafür“, resümierte Sobotka abschließend. Nun liegt es an den Politikerinnen und Politikern, das gesammelte Wissen über die neue digitale Welt in den politischen Diskurs einzubringen, in eine rechtliche Form zu gießen und Zug um Zug in die Realität überzuführen. Stets unter der Prämisse des obersten Ziels der Digitalisierung: die Schaffung eines nachhaltig krisenfitten österreichischen Gesundheitssystems, das die hochstehende, effektive und effiziente Versorgung von Patientinnen und Patienten sicherstellt und stets in den Mittelpunkt rückt. 

© Peter Provaznik

© Institut Frühwald & Partner

Sonderbeilage, Die Presse, Erscheinungstermin 5. Juni 2021

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