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Freiheit ermöglicht Innovation

© Gerhard Gattinger

Freiheit ermöglicht Innovation

© Gerhard Gattinger

Die Menschheit steht vor enormen Heraus­forderungen, die apokalyptischen Reitern gleichen. Freiheit gewährleistet Wissenschaft und Innovation. Nur mit evidenz-basiertem Handeln sind globale Probleme wie Pandemien oder Klimaveränderung in den Griff zu bekommen, hieß es bei der PRAEVENIRE Eröffnungsveranstaltung „Wissenschaft für den Menschen“ in Alpbach. | von Wolfgang Wagner

Mit dem Industriellen, Ex-Finanzminister und Ex-Vizekanzler Dr. Hannes Androsch, dem Hämatologen, Onkologen und BioNTech-Mitbegründer Univ.-Prof. Dr. Christoph Huber, der Wiener Arbeitsmedizinerin Dr. Eva Höltl (Erste Bank) sowie Univ.-Prof. Dr. Georg Brasseur, Professor am Institut für Elektrische Messtechnik und Sensorik der TU-Graz hatten sich Keynote-Spea­ker von hohem Rang beim Praevenire Gesundheitsforum in Alpbach eingestellt. Ihre differenzierten und gleichwohl umfassenden Analysen zeigten deutlich: Um die Situation der Menschheit verbessern zu können, muss Forschung frei und mit ausreichender Unterstützung agieren können. Nur so lassen sich Innovationen als Ergebnis einer „Wissenschaft für den Menschen“ zum Wohle aller realisieren. „Die Pandemie hat uns Anfang vergangenes Jahr völlig über­rascht und — trotz aller Warnungen — gänzlich unvorbereitet getroffen. Wir haben diese Krise noch längst nicht überwunden“, sagte Androsch. Der deutsche Historiker Herfried Münkler hätte sogar bereits davon gesprochen, dass COVID-19 eventuell nur der Beginn eines Jahrhunderts der Pandemien sein könnte. „Hoffentlich hat er unrecht.“

Vertrauen setzt voraus, dass ein Risiko wahrgenommen wird.

Die ganze Welt betreffend

Androsch sieht Pandemie und andere aktuelle Herausforderungen als übernationale, globale Probleme, die einzelne Länder nicht mehr lösen können: „Die Pandemie ist ein globales Ereignis, das nicht national oder kontinental zu lösen ist, wie sich schon jetzt zeigt.“

Der Zeit ihre Forschung. Der Forschung ihre Freiheit. Und die notwendigen Mittel.

Der Unternehmer veranschaulichte die Situation mit einem Bild aus der Offenbarung des Johannes: „Die Pandemie, die sich entwickelt hat, ist einer von vier neuen apokalyptischen Reitern. Der zweite ist die Erderwärmung und die Klimaveränderung. Der dritte Reiter ist die Gefahr durch Cyberkriminalität und Cyberkriege. Der vierte apokalyptische Reiter ist die Migration, Flüchtende und Asylsuchende, die als politische Waffe verwendet werden — was wir mit Weißrussland erleben und womit wir mit Afghanistan rechnen müssen.“

Schließlich komme noch die gerade erst in Gang gekommene „Great Transformation“ des digitalen Wandels mit Big Data, Algorithmen, „Robotisierung“ von Produktionsschritten in der Industrie. Und schließlich sei da noch der weltweit registrierte enorme demografische Wandel: eine stark wachsende Bevölkerung in manchen Weltregionen, z. B. in Afrika, stünde schrumpfenden Gesellschaften gegenüber, was sich beispielsweise auch schon in Ländern wie China zeige.

Klimawandel ganz oben auf Prioritätenliste

Klimawandel und Erderwärmung stehen dabei ganz oben auf der Prioritätenliste der globalen Herausforderungen. „Wir stehen vor der Auf­gabe der Dekarbonisierung, der Reduktion oder des Stopps der Nutzung fossiler Energie­träger. Dass so etwas möglich ist, hat das Beispiel der Eindämmung der FCKW-Problematik innerhalb von 40 Jahren gezeigt. Da sind aber gewaltige Herausforderungen zu bewältigen. Diese Aufgaben sind nur global zu lösen.“

Innovationen in den Lebenswissenschaften werden von Risikokapital getragen.

An sich könne die Menschheit Mittel und Wege finden, um weiter zu kommen. Androsch: „Dazu braucht es Wissenschaft und Forschung für den Menschen, für das Überleben der Menschheit insgesamt.“

Gerade SARS-CoV-2 hat gezeigt, dass auch binnen kürzester Zeit Fortschritte möglich sind. „Ein Erfolg in der Bewältigung der Coronakrise ist, dass so rasch Impfstoffe entwickelt werden konnten und es auch Medikamente geben wird. Das gibt uns Hoffnung.“ Dieser Erfolg sei auf der Grundlage jahrzehntelanger Forschungen möglich geworden und sollte Anlass dazu sein, dass der Bevölkerung der Wert von Wissenschaft, Forschung und Innovation mehr denn je bewusst werde. Für die Wissenschaft seien ausreichende Ressourcen staatlicherseits und aus anderen Quellen notwendig, „damit sie ihre Aufgabe in für sie nötiger Freiheit übernehmen kann.“ Erst so ließen sich Forschungsergebnisse zum Nutzen der Menschen in innovative Umsetzung bringen.

Im Zentrum: die Freiheit der Wissenschaft

Ohne Liberalität und ausreichende Unterstützung gibt es kein Umfeld, in dem die Wissen­schaft zum Wohle der Menschen florieren kann. Androsch: „Diese Freiheit ist die Voraussetzung für die notwendige Kreativität. Die Menschheitsgeschichte war immer schon maßgeblich von Entdeckungen, Entwicklungen und Erfindungen und deren praktischer Umsetzung gekennzeichnet.“ Ob „Homo faber“, „Homo inventoris“ oder „Homo innovationis“ — Er­finder- und Entdeckergeist habe die Menschheit voran gebracht. „Das hat es ermöglicht, dass die Zahl der Menschen von einer Milliarde im Jahr 1800 auf acht Milliarden gestiegen ist.“

In vieler Hinsicht seien die wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte in der Vergangenheit lange „Not und drohenden Gefahren“ geschuldet gewesen. „Erst sehr viel später ist man hier zu einer systematischen Forschung gekommen“, sagte Androsch. Der Mathematiker und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz habe in diesem Zusammenhang von der „Ars inveniendi“ gesprochen. Heute sei die Wissenschaft längst nicht mehr durch Zufallsfunde, sondern durch systematisches Arbeiten via Cyber-Techniken, Big Data, Algorithmen, Bio- und Nanotechnologien geprägt. Das gelte auch für den Bereich der pharmazeutischen Industrie.

Der „grüne Strom“ ist schon im Netz. Wenn Sie ein Gerät zusätzlich einschalten, schalten Sie ein Kohlekraftwerk zusätzlich ein.

Entscheidend sei aber die Ausrichtung auf eine „Human Centricity“, es gehe um „Human centered Innovation“. Immerhin könnten Wissenschaft und Forschung auch Janus-köpfig sein. „Das gilt für das Messer genauso wie für die Atomkraft“, erklärte der Industrielle. „Die Zukunft der Innovation liegt in der systematischen Forschung.“ Dazu seien aber auch Plattformen zum Wissensaustausch und zur Diskussion von Erkenntnissen unumgänglich, wie sie seit der Gründung der Royal Society (1662) in Großbritannien weltweit enorme Bedeutung erlangt haben.

Immer müsse der freie Austausch von Wissen und Ansichten gewährleistet sein, betonte Androsch: „Das österreichische Staatsgrundgesetz aus der kurzen liberalen Ära von 1867 hat deshalb in Artikel 17 stipuliert: ‚Die Wis­senschaft und ihre Lehre ist frei.‘ Es gilt zu verhindern, dass aus ideologischer Borniertheit das Gegenteil geschieht. Die Freiheit einzuschränken und die Mittel straff zu halten. Das ist die österreichische Situation, wenn ich das kurz zusammenfassen darf.“

Androsch stellte eine Abwandlung des Mot-tos der Wiener Secession aus dem Ende des 19. Jahrhunderts an den Schluss seiner Ausführungen: „Der Zeit ihre Forschung. Der Forschung ihre Freiheit, um uns eine bessere Welt zu ermöglichen. Und ihr dazu die notwendigen Mittel. Denn für Wunder muss man beten. Für Veränderung muss man arbeiten. Für neue Erkenntnisse und Innovation muss man forschen.“

Jahrzehntelange Forschung und „Project Lightspeed“

Selten haben Wissenschafter so schnell welt­­weit so viel Beachtung gefunden wie beispielsweise Univ.-Prof. Dr. Christoph Huber, Univ.-Prof. Dr. Ugur Sahin und seine Frau Univ.-Doz. Dr. Özlem Türeci als Gründer des Mainzer Biotech-Unternehmens BioNTech, das nun binnen Rekordzeit einen hochwirksamen COVID-19-Impfstoff auf Basis der mRNA-Technologie entwickelt hat. „Die Umsetzung von Wissenschaft in Überleben“, lautete der Titel seines Vortrages. Das Motto: „Wenn die richtigen Menschen mit der richtigen Leidenschaft zusammenkommen und unterstützt werden, kann etwas entstehen, das der Menschheit tatsächlich hilft.“

Dazu gehören allerdings viele Talente. „Ich bin ein Hybrid. Ich bin Mediziner und ich bin Universitätslehrer mit großer Begeisterung“, sagte Huber. Aber mit „sehr viel besseren Partnerinnen und Partnern“ sei es ihm gelungen, innovative Unternehmen aus der Universität auszugründen und neue Produkte damit zu den Menschen zu bekommen.

„Innovationen verändern das Leben“, betonte der aus Tirol stammende Hämatologe und Onkologe mit langjähriger Wirkungsstätte Mainz in Deutschland. Leider sei das oft vielen Menschen nicht bewusst — oder nicht mehr bewusst. „Ich nenne das Beispiel der Pocken. Dieses Virus hat Menschenpopulationen dezimiert. Es ist ausgerottet. Aber das ist vergessen worden. Die größte geschichtliche Entwicklung der Medizin ist die Impfung. Impfungen sind wissenschaftlich bestens begründet. Sie haben dazu geführt, dass nicht mehr eines von vier Kindern stirbt oder verstümmelt wird. Und wir haben das vergessen. Das ist nicht gut!“

Umbruch in der Arzneimittelentwicklung

Forschungstätigkeit und Strukturen haben sich laut Huber in den vergangenen 20 Jahren wesentlich gewandelt. „Die landläufige Sicht kommt noch aus der Zeit der ‚Arzneimittel-Schmiede Deutschland‘. Das war Big Pharma. Das ist nicht mehr so.“

Aktuell sei die Situation bereits ganz anders. „Heute kommt die Mehrheit der First-in-Class-Medikamente, die einen medizinischen Bedarf stillen und Menschen retten, nicht mehr aus Big Pharma. Sie kommen aus den Universitäten und kleinen oder mittleren Biotech-Unternehmen. Dieser Trend ist in den USA bereits voll da mit 80 Prozent. In Deutschland ist das noch nicht so. Das zeigt den enormen Entwicklungsrückstand, der Europa gefangen hält“, sagte Huber.

Die Gründe dafür lägen, so der BioNTech-Gründer, wahrscheinlich im kulturellen Grundverständnis: „Die Europäerinnen und Europäer sind nicht kühn. Sie sind nicht so risikofreudig wie die kühnen Nachfahren jener Menschen, die vor 500 Jahren in Schiffen ins Unbekannte aufgebrochen sind. Das kann nicht verordnet werden. Das muss von unten kommen, kann aber von oben begünstigt werden.“

Mangelndes Risikokapital

Ein treibender Faktor für die Innovation auf dem Biotech-Sektor sei jedenfalls auch privates Risikokapital. Huber: „Innovationen in den Lebenswissenschaften werden von Risiko­kapital getragen. Der Staat kann hier nur helfen und Rahmenbedingungen optimieren. Wir sprechen pro Biotech-Medikament von ein bis drei Mrd. Euro. Das übersteigt die Möglichkeiten des Staates. Aber Risikokapital ist da, nur nicht in Europa. Der Unterschied zwischen Europa und den USA: Es gibt mehr Menschen in Europa. Aber in den USA gibt es mehr als sieben Mal so viel Risikokapital pro Kopf.“

Freilich, Huber und zahlreichen Mitstreiterinnen und Mitstreitern gelang es, in Deutschland — vor allem um die Universität Mainz — ein Cluster von Biotech-Ausgründungen zu schaffen. Das ging von Exzellenz-Forschungen zur Immunologie an universitären Stellen über Translationszentren (z. B. TRON), Spitzentechnologie-Cluster bis hin zu produzierenden Pharmaunternehmen (z. B. Immugenics und Ganymed 2001, BioNTech 2009).

mRNA-Technologie

Genau in dieses Bild passt die Entwicklung der mRNA-Technologie für Impfstoffe. Die Forschungen dauerten im Grunde Jahre bis Jahrzehnte, zum geeigneten Zeitpunkt klappte es schließlich. Huber: „Ein paar hundert Wissenschafterinnen und Wissenschafter weltweit sagten sich: ‚Wir wollen es versuchen‘.“

Die Basis dafür stellten 30 Jahre wissenschaftlicher Arbeit dar, wie man mRNA als Anleitung für die Produktion eines oder mehrerer Antigene in Zellen hineinbringt. „Die erste Hürde ist es, die Zielzelle zu erreichen. Für Impfstoffe ist das die Antigen-präsentierende Zelle. mRNA wird von Antigen-präsentierenden Zellen ohne jede Modifikation aufgenommen. Das haben wir entdeckt. Wir waren darüber sehr überrascht“, sagte Huber.

Das zweite Problem: mRNA ist extrem instabil. „Sie wird innerhalb von Nanosekunden zerstört“, schilderte der Wissenschafter und Unternehmensgründer. Bei BioNTech fand man einen Ausweg. „Wir haben die Stabilität der mRNA um drei bis vier Zehnerpotenzen gesteigert. Und dann kann man sie in Lipid-Nanopartikel verpacken. Damit geht sie sehr leicht in Zielzellen hinein.“

Die ganze Technologie zielte zunächst auf Krebsvakzine ab. Ugur Sahin und sein Team schufen Uridinie mRNA (uRNA). „uRNA ist sehr gut im Auslösen einer Immunantwort durch zytotoxische T-Zellen“, schilderte Huber.

Die zweite Variante wurde an der Universität von Pennsylvania erforscht und etabliert: Nukleosid-modifizierte mRNA (modRNA). „Sie macht eine sehr starke Antikörper-Antwort. Das Patent haben wir vor vielen Jahren für eine hohe zweistellige Millionensumme gekauft. Es wird von uns und von Moderna verwendet“, sagte der Wissenschafter. Das Produkt führe zu keinen genetischen Veränderungen, es sei ein „Retortenimpfstoff“, den man einfach herstellen könne.

Die modRNA wurde die Basis für die COVID-19-Impfstoffentwicklung, die erst mit dem Anbrechen der Krise in den Fokus rückte. Vorteile der mRNA-Technologie: selektive Aufnahme der mRNA in die Zielzellen, keine Integration in die DNA, keine Adjuvantien notwendig, schnelle Produzierbarkeit, Auslösung sowohl von Antikörper- als auch von T-Zell-Antwort.

Bei den Krebsimpfstoffen verfolgt man bei BioNTech gemeinsam mit Partnern zwei Strategien:

- mRNA-Immuntherapie mit einem Impfstoff aus für jede Tumorart vier bis fünf (shared) Antigenen (charakteristisch für die jeweilige Krebserkrankung)

- Voll individualisierte mRNA-Vakzine aus rund 20 Tumorantigenen, die aus Gewebeproben des einzelnen Patienten identifiziert worden sind.

Mit der vorproduzierten mRNA-Vakzine gibt es — so Huber — Daten aus einer klinischen Studie mit Hautkrebspatientinnen und -patienten: „Damit impften wir Patienten mit Melanomen im Endstadium. Fast die Hälfte dieser eigentlich sonst nicht mehr behandelbaren Menschen zeigt eine Rückbildung ihrer Erkrankung. Das war noch nie dagewesen.“

Mit der individualisierten Vakzine konnte man ähnliches zeigen. Huber: „Patientinnen und Patienten, die ständig Rezidive bekamen, haben keine Rezidive mehr.“

Atemberaubende Geschwindigkeit

Eine völlig neue Dimension bekam die Entwicklung mit der COVID-19-Pandemie. „Project Lightspeed“ brachte den von BioNTech und Pfizer gemeinsam entwickelten SARS-CoV-2-Impfstoff auf der Basis der mRNA-Technologie.

Am 12. Jänner 2020 war die Gensequenz der Viren publiziert worden. Schon Mitte Jänner wurde bei BioNTech das gesamte Projekt gestartet. Mitte März wurde die Kooperation mit Fosun und Pfizer bekannt gegeben. Ende April startete die Phase-1/2-Studie mit vier Impfstoffformaten. Bereits Ende Juli begann man mit der großen Zulassungsstudie für die Vakzine. Am 8. November 2021 wurden die Daten über Wirksamkeit und Verträglichkeit publiziert.

Pfizer sei hier ein sehr guter Partner gewesen, betonte Huber: „Das ist ein Weltführer, der extrem gut in großen klinischen Studien und in der Produktion von Impfstoffen ist. Es handelt sich um einen 50:50-Deal. Wir haben bis heute alle Patente. Und es sind bereits mehr als eine Milliarde Probandinnen und Probanden, die zu 90 und mehr Prozent für eine gute Zeit geschützt sind.“

Wissenschaft umsetzen!

Freilich, es kommt auf die Umsetzung und die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Nutzen der Menschen an. Dabei sollte immer auf Werte und Bedürfnisse des Einzelnen und von Personengruppen geachtet werden, betonte Eva Höltl, Leiterin des Gesundheitszentrums der Erste Bank und Spitzenrepräsentantin der Initiative „Österreich impft“ in ihrem Statement „Coronapandemie — Pandemie bewältigen“.

„Wir haben die Impfung. Wir hätten die Möglichkeit, das hinter uns zu bringen. Es gibt aber noch viele, die zögern“, erklärte die Arbeitsmedizinerin.

Rücksichtnahme auf Einstellungen und Werte der Menschen sei wohl entscheidend, um die Akzeptanz für wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Umsetzung zu gewährleisten. Höltl zitierte aus einer Umfrage der Universität Wien zu wissenschaftsbezogenem Populismus: Ein Viertel der Bevölkerung sei demnach der Meinung, dass man sich eher auf „gesunden Menschenverstand und weniger auf wissenschaftliche Studien verlassen sollte.“ Etwa 30 Prozent der Bevölkerung nehme an, Wissenschaft würde in der Medizin mit der Industrie „packeln“. Eine Umfrage unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen (16 bis 29 Jahre) hätte in Österreich auch eine starke sozioökonomische Schichtung bezüglich der Einstellung zur COVID-19-Impfung ergeben. In den Personengruppen mit geringerem Ausbildungsniveau hätten sich zum Teil bis zu 40 Prozent „ausgewiesene Impfgegner“ befunden.

Auf der anderen Seite, so die Expertin: „Österreichs Jugend vertraut dem Gesundheitssystem viel mehr als der Regierung. Sie vertraut vor allem ihrer Hausärztin bzw. ihrem Hausarzt.“

Man sollte jedenfalls nicht den Fehler machen, eine „Entweder-Oder“-Argumentation zu betreiben („Entweder man lebt alternativ oder man glaubt an die Schulmedizin“). Vielmehr sollte man beispielsweise die Impfung als Maßnahme mit einem zusätzlichen Wert zu anderen Schutzmaßnahmen propagieren. „Das kann nur funktionieren, wenn wir Respekt vor Menschen haben, die skeptisch sind und vielleicht länger brauchen“, sagte Höltl mit Hinblick auf Impf­skeptikerinnen und -skeptiker. Durch vielfältige Maßnahmen sei es in ihrem Unternehmen gelungen, in allen Gruppen der Beschäftigten eine Durchimpfungsrate gegen COVID-19 von „deutlich mehr als 80 Prozent“ zu erreichen.

Die Tücken der Energiewende

Ein durchaus beunruhigender Verdacht: Die Gesellschaft in den westlichen Industriestaaten — womöglich aber auch bereits in anderen Ländern — könnte meinen, die Umstellung des Kraftfahrzeugverkehrs von Benzin/Diesel auf e-Mobilität stelle schon die Lösung für die Energiewende dar. Weit gefehlt, wie sich aus dem Keynote-Vortrag von Georg Brasseur (TU-Graz) ergab.Einige Zahlen: 2019 betrug der Gesamt-Primärenergieverbrauch der Welt 162.200 Terawattstunden. Davon waren nur 16,7 Prozent (27.000 TWh) Strom. „Interessanterweise waren es auch in den entwickelten OECD-Ländern nur 17,2 Prozent, die auf Strom entfielen“, sagte der Experte.

Das Problem, so Brasseur: „Weltweit kommen rund zwei Drittel des Stroms (63 Prozent) aus fossilen Quellen (OECD: 54 Prozent; Anm.).“ Diese Anteile müssten aber schnell reduziert werden.

Noch schlechter sieht es mit der Gesamtbilanz aus, was die CO2-armen Energiequellen betrifft: 33,1 Prozent des Energieangebotes kommen vom Öl, 27 Prozent macht die Kohle aus, 24,3 Prozent Gas. Wasserkraft umfasst nur 6,4 Prozent, Windenergie ist weit abgeschlagen mit 2,2 Prozent, die Solarenergie liegt bei 1,1 Prozent (Atomkraft: 4,3 Prozent). „Wind und Sonne sind nur zu 3,3 Prozent vertreten. Und das soll die Welt retten?“, meinte der Wissenschafter.

Wenn aber rund 85 Prozent des Energieaufkommens insgesamt aus fossilen Quellen kommen, kann eine Energiewende demnach nur durch überlegte und gleichermaßen einschneidende Maßnahmen erzielt werden. „Diese 85 Prozent bedeuten, dass wir ‚verbrennen‘. Wir verbrennen Kohle, Gas, Öl mit einem Wirkungsgrad von 20, 30, 40 Prozent, wenn es hoch hergeht. Momentan ist es aber so, dass der Strom noch immer zu zwei Drittel aus fossilen Quellen kommt, in der OECD zu 54 Prozent. Der ‚grüne Strom‘ ist schon im Netz. Immer wenn Sie einen Stromverbraucher zusätzlich einschalten, schalten Sie auch ein Kohlekraftwerk ein, leider. Der Strom, den wir haben, wird also viel zuwenig sein. Der, den wir haben, ist bereits im System.“ Ohne eine massive Ausdehnung elektrischer Energieversorgung aus „grünen“ Quellen werde es nicht abgehen, wobei noch viele andere Faktoren zu berücksichtigen seien.

Weder die Netz- noch die Produktionskapazitäten würden derzeit und in naher Zukunft für eine echte Energiewende ausreichen. Sie könne nur durch Senkung des Primärenergiebedarfs und CO2-Reduktion erfolgen. Strom müsse zu einem möglichst hohen Anteil aus erneuerbaren, CO2-armen Quellen kommen.

Die Kernpunkte, so der Wissenschafter:

1. Europa ist und wird nicht Energie-autonom werden können.

2. Nur wenn der Primärenergieeinsatz reduziert wird, kann die Energiewende gelingen.

3. Europas fossiler Primärenergiebedarf (Öl, Gas, Kohle) lässt sich nicht mit Strom transportieren.

4. Europa braucht neben Strom unbedingt grüne speicherbare Energieträger.

5. Elektrizität ist die für Europa wichtigste Energieform. Aber das volatile Angebot (Wind-/Solarenergie) ist nicht mit dem Strombedarf synchronisiert.

6. Strom kann großtechnisch nicht gespeichert werden. Zur Netzstabilität müssen aber 
15 Prozent der elektrischen Energie in speicherbarer Form vorliegen.

Die Energiewende ist somit eine echte Herkulesaufgabe. Brasseur: „Das Optimierungsproblem lässt sich anhand wissenschaftlich fundierter Fakten lösen und sollte von ideo­logischen wie politischen Meinungen unbe­einflusst sein.“ 

Sonderbeilage Tiroler Tageszeitung, Erscheinungstermin 10. September 2021

Sonderbeilage Kurier, Erscheinungstermin 16. September 2021

Die Expertinnen und Experten diskutierten bei der PRAEVENIRE Eröffnungsveranstaltung in Alpbach zum Thema Wissenschaft für den Menschen.

„Die rasche Entwicklung gleich mehrerer sicherer und wirksamer COVID-19-Schutzimpfungen ist eine der bemerkenswertesten wissenschaftlichen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte. Bei einem doch erheblichen Anteil der österreichischen Bevölkerung wird diese Pionierleistung dennoch nur argwöhnisch bis ablehnend wahrgenommen. Falschinformationen und Gerüchte verbreiten sich in der neuen sozialen Medienlandschaft so rasant wie noch nie, der Rückzug in mediale Echokammern macht es zeitgleich fast unmöglich, manche Menschen überhaupt noch zu erreichen. Eine entscheidende Rolle in diesem Dilemma spielen die niedergelassenen Vertrauensärztinnen und Vertrauensärzte. Sie kennen ihre Patientinnen und Patienten am besten und ihr Wort hat in medizinischen Fragen Gewicht. Daher ist es ein Fehler, in der Impfstrategie niedergelassene Ärztinnen und Ärzte auszuklammern. Spätestens bei den kommenden Impfungen über das initiale Schema hinaus muss hier korrigiert werden — damit der wissenschaftliche Fortschritt auch bei den Menschen ankommt.“ MR Dr. Johannes Steinhart | Vizepräsident der Österreichischen Ärzte­kammer und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte

© Gerhard Gattinger (2), Apa

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