Österreich steht vor einer modernen demographischen Herausforderung. Die kontinuierlich älter werdende Bevölkerung, verbunden mit dem unaufhaltsamen medizinischen Fortschritt, tragen zur Kostensteigerung im Gesundheitssystem bei. Der gemeinnützige Verein PRAEVENIRE versammelte in einem Gipfelgespräch eine erste Runde an Experten und Stakeholdern, um zum Start der Initiative „Kostendämpfungspfade nutzen“ erste Lösungsansätze und Ideen auf den Tisch zu bringen. In weiteren Gesprächen sollen die verschiedenen Standpunkte auf den Tisch gebracht werden. | von Andreas Schmallegger, BA
Durch die COVID-19 Pandemie rückten im Jahr 2020 die Kapazitäten und die Grenzen der Spitalsversorgung und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Rampenlicht. Mehr als zwei Jahre später begleitet uns die Pandemie immer noch und hat stark zu dem Personalmangel in der Gesundheitsversorgung beigetragen, welcher den Themenkomplex mittlerweile dominiert. Angesichts der Entwicklungen muss darüber nachgedacht werden, wie das gute österreichische Gesundheitssystem langfristig ohne Qualitätsverlust finanzierbar bleiben kann. Mit ihrem reichhaltigen professionellen Erfahrungsschatz ausgestattet, lieferten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gesprächsrunde wertvolle Inputs zu dem Ziel, das österreichische Gesundheitssystem im Interesse der Patientinnen und Patienten zukunftssicher zu gestalten. Der Beschaffung generell, von innovativen und hochpreisigen Produkten und der Basisversorgung kommt dabei das Hauptaugenmerk zu. Dazu Dr. Hans Jörg Schelling, Präsident von PRAEVENIRE: „Der Punkt ist, die möglichen Kostendämpfungspotentiale für die perfekte Versorgung der Menschen in Österreich einzusetzen.“ Die Gespräche und das Modellieren von konstruktiven Reformen für das österreichische Gesundheitssystem werden über das nächste Jahr 2023 weitergeführt werden, um der Politik mit Herbst 2023 ein finales Konzept mit Handlungsempfehlungen zu präsentieren.
Krankenanstalten im Wandel
Auf struktureller Ebene wird der medizinisch-technologische und wissenschaftliche
Fortschritt dafür sorgen, dass die Verweildauer von Patientinnen und Patienten in Spitälern
stark abnimmt, während die Anzahl ambulanter Behandlungen stark zunehmen wird. Für
Spitäler gibt es aber bis heute wenig finanziellen Anreiz, den Aufwand ambulanter Eingriffe, welche den stationären Bereich deutlich entlasten können, zu steigern. Weiters werden
in den Krankenanstalten im Bereich der Pflege verschiedene Versorgungsaufgaben übernommen, welche eigentlich von anderen Bereichen übernommen werden sollten. Hier braucht es neue fachliche Kooperationsformen zur Unterstützung des niedergelassenen Bereichs als auch der Pflegebereiche. Identifiziert wird auch ein gewisser Hang zu Überversorgung im
Krankenhausbereich, wo man sich „durch den Einsatz von Evidenz durchaus von manchen
liebgewonnen Eingriffen lösen könnte, ohne dass es zu einer Verschlechterung der Versorgung führt“, wie es Dr. Gerald Bachinger, Leiter der niederösterreichischen Patienten- und Pflegeanwaltschaft, formulierte. Pionierarbeit in diesem Bereich leistet beispielsweise das Kooperationsprojekt „Gemeinsam gut entscheiden/Choosing wisely“. Auch Dr. Wilhelm Marhold, Gynäkologe und Krankenhausmanager, sieht für Spitäler grundlegenden strukturellen Reformbedarf. Nicht mehr bettenfixiert denken, sondern „strategisch den Fortschritt wirtschaftlich und strukturell in den Spitälern abholen und den stationären Bereich enorm engagiert, kreativ, neu aufstellen“ ist für ihn das Gebot der Stunde. Dazu zählen: Teilstationäre Aufnahmen, multidisziplinär betriebene Stationen, aber auch Einrichtungen für Optimierungen zu belohnen. Unabhängig vom Thema Kosten wird der ambulante Bereich allgemein als der für strukturelle Reformen wichtigste gesehen. „Ambulantisierung ist das Feld, in dem wir uns treffen müssen. In der Versorgungskette und was die Versorgungsqualität betrifft, sehe ich da großes Potential“, hält Dr. Arno Melitopulos, Bereichsleiter der ÖGK, fest, verweist auf Potentiale an den Schnittstellen der Bereiche und als ein Beispiel auf die Ambulantisierung medikamentöser Therapien.
Vielfältiges Arzneimittelwesen
Denkt man über Kosten nach, ist die Beschaffung häufig erster Fokus. Ausgehend von der
Überlegung, durch gebündelte Beschaffung kostendämpfende Potenziale heben zu können,
wurde vor allem das Thema Medikamente intensiv diskutiert. Die Standpunkte zur bestmöglichen Form der Anschaffung gehen naturgemäß auseinander. Angedacht ist einerseits eine bundesweit einheitliche Beschaffung, unter einheitlichen Auflagen und einheitlichen
Kriterien für Arzneimittel, entlang des Modells der Bundesbeschaffungsgesellschaft. Andererseits bestehen 12 etablierte Einkaufsgesellschaften in Österreich, die laut Rechnungshofbericht für Klinik Salzburg und Innsbruck sehr gute ähnliche Konditionen aufweisen.
Für die intramuralen Pharmazeutinnen und Pharmazeuten hat sich hingegen das etablierte
System der elf Einkaufsgesellschaften gerade während der COVID-19 Pandemie bewährt.
Auch bewährt hat sich die punktuelle Eigenproduktion von Heilmitteln und Arzneien, Kostenersparnisse inklusive. Diese Kompetenz und Kapazitäten der Anstaltsapotheken könnte
verstärkt für Capacity Building in der Ausbildung genutzt werden.
Ein generelles Verhandlungsargument kann möglicherweise sein, den jetzt schon traditionell schnellen Marktzugang für neue Medikamente weiter zu beschleunigen. Natürlich muss es hier einen ordentlich strukturierten Prozess dafür geben. Medikamente, die eine Innovation sind, können trotz eines hohen Preises langfristig Kosten sparen, das können zukünftig HTAs beweisen. Starken Verbesserungsbedarf ortet man in der Vernetzung der Befundung: „Was würde ich machen, wenn ich Gesundheitsministerin wäre? Ich würde ein durchgängiges EDV-System für intra- und extramural kaufen, damit ein reibungsloser Datenfluss möglich ist“, so
Mag. pharm. Gunda Gittler, a.H.P.h, Leiterin der Anstaltsapotheke im Krankenhaus der
Barmherzigen Brüder Linz. Wie zeitgemäßes Arbeiten in dieser Form funktionieren kann,
zeigt ein Pilotprojekt des Tumorzentrums Oberösterreich, in welchem elf Kliniken und
Fach- und niedergelassene Ärztinnen und Ärzte eng zusammenarbeiten, um den Menschen aus der Region spitzenmedizinische onkologische Versorgung in Wohnortnähe zu garantieren.
Zeitgemäßer Umgang mit Daten gewünscht
Das Thema vernetzte Daten bleibt nicht nur im Gesundheitsbereich höchst aktuell, ist in
diesem aber nochmals delikater. Für keinen der anwesenden Expertinnen und Experten führt allerdings ein Weg an schnellem, unkomplizierten Datenaustausch im Gesundheitsbereich vorbei. Nicht nur mangelnde Vernetzung, auch mangelndes Vertrauen zwischen Einrichtungen führten immer wieder zu unnötigerweise mehrfach durchgeführten Untersuchungen und Befunden. Hier ist das Potential für Kostendämpfungen durch moderne Abläufe offensichtlich. Ein weiterer Aspekt: Bis heute gibt es in Österreich außerhalb von PVE-Zentren keine Pflicht zur Codierung
von Diagnosedaten im niedergelassenen Bereich. Dafür und für mehr Qualitätssicherung
plädiert Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik
der AK NÖ: „Wenn man von einem kleinen Spital oder einer Ortschaft in ein Krankenhaus geflogen wird, werden Krankenbilder, Laborwerte, die erst vor einer Stunde erhoben
wurden, nochmal gemacht, weil einander die Einrichtungen nicht vertrauen. Wir haben ein
echtes Qualitätsproblem.“ Gemeinsame Register werden auch für die Beschaffung von Medikamenten gewünscht. Besonders bei neuen, innovativen Medikamenten mit dementsprechend hohen Kosten wird mehr gemeinsame Abstimmung gewünscht. Mag. pharm. Gernot Idinger weist anhand des Best-Practice-Modells des CAR–T-Netzwerks auf die Wichtigkeit der gemeinsamen Abstimmung für die Beschaffung von kostenintensiven
Arzneimitteln hin: „Gerade bei den Superinnovationen ist die klare und transparente Kommunikation der Stakeholder essentiell“ und unterstreicht ebenso die Bedeutung von Real-World Daten zum Einsatz von Medikamenten aus der Praxis. Notwendig für die effiziente Beschaffung als auch Anwendung von Medikamenten ist allerdings auch Prozessmanagement, welches den gesamten Ablauf von Behandlungen betrachtet. Dr. Edgar Starz, Leiter des KAGes
Services – Einkauf: „Wenn man sich auf ein Produkt fokussiert, ergibt sich oft, dass A billiger ist als B, deswegen nehmen wir A. Betrachte ich dann aber den ganzen Prozess, ergibt sich am Ende, dass das gleiche rauskommt. Da ist es mir lieber, dass ich in der Beschaffung die Wahlfreiheit habe: Das ist ein Asset.“ Dem Thema Daten kommt auch in Bezug auf ihre Anwendung in der Praxis größte Bedeutung zu. Gewünscht ist auch hier flächendeckende Vernetzung und Austausch – auch, weil unter dem Aspekt der Kostendämpfung Daten zu Medikamenten erheblicher Wert zukommen würde. Grundlage für Forschung als auch Zulassung von Medikamenten sind überwiegend Daten aus im Ausland erhobenen Studien, welche nicht beliebig übertragbar sind. Real-World Daten sind für die Wissenschaft mehr als hilfreich, für Entscheidungen in der Beschaffung sehr wichtig, und für Medikamente produzierende Firmen äußerst wertvoll. Hier könnte, wären einheimische Daten vorhanden, weitaus zielgerichteter geforscht, eingekauft und verhandelt werden als bisher. Ebenso wären diese Daten und daraus
gewonnene Erkenntnisse gesundheitspolitisch von hohem Interesse.
Was den Einsatz vorhandener Mittel betrifft, so ist Standardisierung immer wieder Stichwort.
Im Bereich der Beschaffung bereits in Bezug auf (Anforderungs-)Register erwähnt, muss dieser auch in der Entscheidung über die bestmögliche Versorgung mehr Bedeutung zukommen.
„Heutzutage ist die Herausforderung, dass eine Standardisierung notwendig ist. Ich erlebe,
dass Arten der Finanzierung da auch noch Fehlanreize bringen, wo ambulante Versorgung
Sinn ergeben würde, aber nur stationäre eine auskömmliche Vergütung bringt“, fasst Florian
Friedersdorf, Verwaltungsdirektor und kaufmännischer Geschäftsführer der Rudolfinerhaus Privatklinik seine Erfahrungen zusammen.
Vernachlässigtes Potential in der Prävention
Wenig (budgetäre) Aufmerksamkeit kommt in Österreich dem Thema Prävention zu, obwohl
davon ausgegangen wird, dass durch präventive Maßnahmen am effektivsten Kosten
gesenkt werden können. Vorsorge wirkt direkt und indirekt sehr stark auf Krankenanstalten
zurück. Ein klassisches Beispiel dafür ist eine multiprofessionelle, multidisziplinäre und
patientenorientierte Diabetesversorgung, die erwiesenermaßen der in Österreich vergleichsweise hohen Amputationsrate entgegenwirken könnte. Aus dem Bereich der Onkologie ist als Beispiel der frühe Einsatz von Screening-Programmen zu erwähnen, welche die Rate an
Krebsoperationen senken. Eine Steigerung des nationalen Aufwandes für Prävention dient
somit nicht nur der Früherkennung, sondern trägt direkt dazu bei, langfristig hochpreisige Kosten in der stationären Versorgung zu dämpfen, indem man sie nicht entstehen lässt.
Mit dem Thema Prävention endete das erste PRAEVENIRE-Gipfelgespräch zum Thema
Kostendämpfungspfade. Die Gespräche und das Modellieren von konstruktiven Reformen
für das österreichische Gesundheitssystem werden über das nächste Jahr weitergeführt
werden, um der Politik mit Herbst 2022 ein finales Konzept mit Handlungsempfehlungen
zu präsentieren.
März 2023
GG Kostendämpfungspfade
Di, 7. März | 16:00 -18:00 Uhr
Mai 2023
8. PRAEVENIRE Gesundheitstage in Seitenstetten
GG Kostendämpfungspfade
Di. 23. Mai | 09:00 -11:00 Uhr
Juli 2023
PRAEVENIRE Gesundheitsgespräche Alpbach 2023
GG Kostendämpfungspfade
Fr. 07. Juli | 10:30 -12:30 Uhr
Oktober 2023
GG Kostendämpfungspfade
Di. 10. Okt. | 16:00 -18:00 Uhr
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