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Gesundheitskompetenz und Prävention im Fokus

© Peter Provaznik

Gesundheitskompetenz und Prävention im Fokus

© Peter Provaznik

Bei den 4. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten stand im 4. Block das Thema „Gesundheitskompetenz & Prävention“ im Mittelpunkt. Dazu referierte der Gesundheitsexperte Dr. Kai Kolpatzik vomdeutschen aok-Bundesverband in seiner Keynote zum Thema „Bedeutung von Prävention und Gesundheitsförderung im Zusammenhang mit Gesundheitskompetenz“.| von Mag. Dren Elezi, MA

Eine gute Gesundheitskompetenz trägt dazu bei, dass Menschen im Alltag gesund leben, ihre Gesundheit erhalten und sich im Krankheitsfall die richtige Hilfe holen. Sie ist auch der Schlüssel zu einer hohen Lebensqualität. Um diese besondere Rolle der Gesundheitskompetenz und Prävention zu veranschaulichen, zeigte Dr. Kai Kolpatzik, MPH, EMPH vom Allgemeine Ortskrankenkasse-Bundesverband, Abteilung Prävention der Geschäftsführungseinheit Versorgung zu Beginn seiner Keynote aufsehenerregende Zahlen aus dem Nationalen Aktionsplan zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. „Mehr als die Hälfte, nämlich über 54 Prozent, der Befragten weist eine eingeschränkte und nur 7 Prozent eine sehr gute Gesundheitskompetenz auf.“ Viele Menschen stehen demzufolge vor der Herausforderung, gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und zu nutzen, um beispielsweise bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen die passende Hilfe ausfindig zu machen. Die unzulängliche Gesundheitskompetenz ist nicht nur für den einzelnen Menschen eine Herausforderung, weil sie ihn daran hindert, sich gut um seine Gesundheit zu kümmern. Der Mangel an Gesundheitskompetenz stellt auch eine gesellschaftliche Herausforderung dar, denn die Gesundheitskompetenz ist erforderlich, um dem Zuwachs an Entscheidungsmöglichkeiten und den gestiegenen Anforderungen in modernen Gesellschaften entsprechen zu können.

Mehr als die Hälfte, nämlich über 54 Prozent der Befragten, weist eine eingeschränkte und nur 7 Prozent eine sehr gute Gesundheitskompetenz auf.

Ursachen der niedrigen Gesundheits­kompetenz

Anhand eines theoretischen Modells von Prof. Don Nutbeam aus dem Jahr 2000 erläuterte Kolpatzik den Zusammenhang zwischen Gesundheitskompetenz und Literalität. „Dieses Modell unterscheidet drei Bereiche: Die funktionale, interaktive und kritische Gesundheitskompetenz. Die funktionale meint Grundfertigkeiten im Lesen und Schreiben und schriftliche Fähigkeiten zum Verstehen von Gesundheits­informationen. Die interaktive setzt sich mit kommunikativen und sozialen Fähigkeiten auf höherer Ebene auseinander, die benötigt werden, um Informationen mit anderen zu extrahieren und zu diskutieren. Von der krit­ischen Gesundheitskompetenz wird gesprochen, wenn es um fortgeschrittene kognitive und soziale Fähigkeiten geht, die es ermöglichen, Informationen kritisch zu analysieren und fundierte Entscheidungen zu treffen.“

Die Notwendigkeit der Verknüpfung der Bereiche Gesundheit und Bildung bestätigen auch die weiteren von Kolpatzik präsentierten Daten. Laut Kolpatzik können „6,2 Mio. Menschen bzw. 12,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben.“ Zudem lässt sich feststellen, dass über 62 Prozent der Bevölkerung mit einem niedrigen Bildungsgrad über eine problematische bzw. inadäquate Health Literacy verfügen. Zum Vergleich: In Österreich betrifft das knapp 970.000 Menschen, die unzureichend lesen und schreiben können. Menschen mit niedrigem Bildungsgrad finden es doppelt so häufig schwierig, mit gesundheitsbezogenen Informationen umzugehen, wie Menschen mit einem hohen Bildungsgrad. Knapp 50 Prozent der deutschen Bevölkerung mit einem mittleren oder hohen Bildungsgrad weisen hingegen eine exzellente oder ausreichende Gesundheitskompetenz auf. Hinzu kommt, dass der Großteil der Betroffenen mit funktionalem Analphabetismus zwar berufstätig sei, aufgrund der Einschränkungen jedoch nur geringe Chancen habe, sich ohne Förderungsmaßnahmen im Berufsleben weiterzuentwickeln. „Zwei von drei Personen bzw. 62,3 Prozent sind erwerbstätig, allerdings mit Herausforderungen konfrontiert, wenn sie sich etwa beruflich weiterentwickeln möchten, da sie dafür lesen, schreiben und rechnen müssen und daher meist auch nur geringfügigen Tätigkeiten nachgehen. Hinzu kommt, dass knapp 13 Prozent arbeitslos sind.“

Geschlechterunterschiede machen sich kaum bemerkbar. Männer seien von einer geringeren Literalität zwar etwas stärker betroffen als Frauen, die Ergebnisse der Studie zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland zeigen aber, dass diese Geschlechterunterschiede äußerst gering sind. Bemerkenswerte Unterschiede gäbe es laut Kolpatzik vor allem bei Menschen mit Migrationshintergrund, da sie im Vergleich zu denjenigen ohne Migrationshintergrund eine geringere Gesundheitskompetenz aufweisen. Fast 18 Prozent von ihnen verfügen über eine inadäquate, 53 Prozent über eine problematische Gesundheitskompetenz.

Auch das Alter der Bevölkerung spielt eine große Rolle bei der Gesundheitskompetenz, denn je älter die Bevölkerung, desto geringer die exzellente bzw. umso höher scheint die problematische und inadäquate Health Literacy. „Vor allem ältere Menschen zählen daher zu den Gruppen, für die der Umgang mit Gesundheits­informationen zu einer Herausforderung wird. Zwei Drittel der älteren Bevölkerung in Deutschland hat eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz und nur drei von 100 Menschen, die 65 Jahre oder älter sind, sehen es nicht als Problem, gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und umzusetzen“, kommentierte der Präventions- und Gesundheitsexperte die Zahlen.

Fortschritte bei funktionalem Analphabetismus

v. l.: Nadja Mader (Moderatorin), Gerald Bachinger, Jacqueline Jürs, Hans Bachitsch, Peter Nowak, Peter Stippl, Katharina Obrovsky, Caroline Krammer, Kai Kolpatzik, Jürgen M. Pelikan, Martin Kocher | © Peter Provaznik

In den letzten Jahren konnten aber auch Fortschritte erzielt werden, denn laut einer LEO-Studie der Universität Hamburg hat sich der funktionale Analphabetismus in Deutschland in den letzten Jahren deutlich verringert: „Vor acht Jahren gab es in Deutschland noch 7,5 Mio. Menschen mit funktionalem Analphabetismus. Acht Jahre später waren es bereits 1,3 Mio. Menschen weniger, die davon betroffen waren. Der Anteil der Menschen in Deutschland, die nicht richtig lesen und schreiben können, hat sich in den vergangenen acht Jahren um fast ein Fünftel verringert. Ein Mix aus Maßnahmen hat dazu geführt, dass ein entsprechend hoher Rückgang festzustellen ist.“ Wie es dazu kommen konnte schildert Kai Kolpatzik wie folgt: „In Deutschland haben sich Bund und Länder im Jahr 2016 zum Ziel gesetzt, die Lese- und Schreibfähigkeiten von Erwachsenen in Deutschland deutlich zu verbessern und eine Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung (AlphaDekade) ausgerufen und beworben. Auf diese Weise erhielten etwa Erwachsene mehr Angebote als zuvor und wurden dadurch beim Erlernen von Lesen und Schreiben unterstützt. Eine Reihe von Aktivitäten, die laut Kolpatzik nicht ruhen dürfen.

Wir haben uns Faktenboxen angesehen, […] und als wissenschaftlich fundierte Entscheidungsgrundlage zum Thema Nah­r­ungsergänz­ungsmittel, Eierstockkrebs-Früherkennung, Impfen, Masern, Mumps, Röteln etc. zur Verfügung gestellt.

Gesundheitskompetenz wichtig für Prävention

Wenn über Prävention gesprochen wird, nimmt die Gesundheitskompetenz in der Diskussion einen besonderen Stellenwert ein, denn „hier spielen Faktoren wie das Bewerten und Verstehen von Informationen aber auch die Anwendung von angeeignetem Wissen eine wichtige Rolle. Es geht aber vor allem auch um die grundlegenden Fähigkeiten, um überhaupt erst den Zugang zu Informationen zu ermöglichen.“, so Kolpatzik.

„Bei der Krankheitsbewältigung und der Prävention ist das Verständnis etwas besser im Vergleich zur Gesundheits­förderung. Hier werden die Anforderungen im Bereich der Gesundheitsförderung als besonders schwierig eingeschätzt. Über 60 Prozent der Befragten finden es daher schwierig, gesundheitsrelevante Informationen zu finden bzw. zu verstehen, zu beurteilen und auf die eigene Lebenssituation anzu­wenden“, betonte Kolpatzik. Je nach Bereich zeigt die von Kolpatzik präsentierte Gesamtstudie beim Thema der Krankheitsbewältigung, der Prävention und Gesundheitsförderung unterschiedliche Health Literacy-Niveaus: 57 Prozent der Befragten verfügen beim Thema Krankheitsbewälti­g­ung über ein exzellentes bzw. ausreichendes Health Literacy-Niveau. Ähnliches ist auch bei der Prävention festzustellen, wo knapp 52 Prozent ein exzellentes bzw. ausreichendes Health Literacy-Niveau aufweisen. Bei der Frage der Gesundheitsförderung weisen etwa 40 Prozent ein solches Niveau auf, hingegen 40 Prozent eine problematische und knapp 20 Prozent sogar eine inadäquate Gesundheitskompetenz.

Faktenboxen zur Visualisierung von Informationen

Mit dem Ziel, Informationen effektiver zu verbreiten als es bislang geschehen ist und die Bevölkerung zielführend zu informieren, wurde von Seiten des AOK-Bundesverbands nach neuen Wegen gesucht: „Wir haben uns Faktenboxen angesehen, die in den USA für die Medikamenteneinnahme verwendet werden und solche Faktenboxen als wissenschaftlich fundierte Entscheidungsgrundlage zum Thema Nahrungsergänzungsmittel, Eierstockkrebs-Früherkennung, Impfen, Masern, Mumps, Röteln etc. zur Verfügung gestellt“, so Kolpatzik. Nutzen und Risiken können dadurch visualisiert und besser abgewogen werden und auf dieser Grundlage persönlich richtige Entscheidung besser getroffen werden. Ziel war es, diese Faktenboxen laienverständlich, mit der Visualisierung von Risiken und digital zur Verfügung zu stellen. „Ein Weg den wir auch vor dem Hintergrund der geringen Literalität eingeschlagen haben. Diese Faktenboxen sind zudem von der Sozialversicherung in Österreich übernommen worden und liefern unter dem Titel „Faktenbox. Informiert entscheiden! einfach veranschaulichtes gesichertes Wissen und verständliche Texte.“

Laut Kolpatzik gehen „die nächste Schritte in Richtung Bewegtbild, ein Bereich der weiter optimiert wird und mit dem eine größere Anzahl an Menschen mit geringem Literat erreicht werden kann, die Schwierigkeiten mit dem Konsum, der Wahrnehmung und Aufnahme von Informationen haben.“ Abschließend gab er einen Ausblick auf zukünftige Bereiche: „Der nächste Bereich, in den wir vorstoßen möchten, betrifft den Kompetenzbereich der Digital Health Literacy.“

Bioxbox Dr. med. Kai Kolpatzik, MPH, EMPH, ist Arzt und Gesundheitswissenschaftler und arbeitete als Assistenzarzt in der Chirurgie in Krankenhäusern in Freiburg und am Bodensee. Stationen in der Gesundheitswissenschaft waren die Universität Bielefeld — mit Abschluss Master of Public Health und European Master of Public Health — und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf, bevor er 2004 seine Tätigkeit im AOK-Bundesverband aufnahm. Seit 2009 leitet er die Abteilung Prävention im AOK-Bundesverband. Er ist Mitherausgeber des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz in Deutschland. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf der Prävention und Gesundheitsförderung, Gesundheitskompetenz, Gesundheitskommunikation sowie digitalen Gesundheit.
PRAEVENIRE Initiative Gesundheit 2030 Block 4 | Gesundheitskompetenz & Prävention Programm im Rahmen der PRAEVENIRE Gesundheitstage 2019 KEYNOTES
  • Der HLS-EU Survey: wichtigste Ergebnisse für Österreich und Europa Univ.-Prof. Dr. Jürgen M. Pelikan | Competence Centre for Health Promotion in Hospitals and Health Care der GÖG

  • Bedeutung von Prävention und Gesund­heits­förderung im Zusammenhang mit Gesundheitskompetenz Dr. Kai Kolpatzik, MPH, EMPH | AOK-Bundesverband, Abteilung Prävention der Geschäftsführungseinheit Versorgung

  • Wie bringt man die Bevölkerung dazu, Prävention zu machen? Univ.-Prof. Dr. Martin Kocher | Direktor des Instituts für Höhere Studien (IHS)

  • Prävention in der Sozialversicherung Mag. Caroline Krammer | Referentin für sozialversicherungsrechtliche und gesundheitspolitische Grundlagenarbeit in der Abteilung Sozialversicherung der Arbeiterkammer Wien

  • Gesundheitsbewusstsein der Kinder und Jugendlichen Katharina Obrovsky, BEd | Volksschullehrerin in Wien

PODIUMSDISKUSSION
  • Dr. Gerald Bachinger | NÖ Patienten- und Pflegeanwalt und Sprecher der Patientenanwälte Österreichs

  • Mag. pharm. Hans Bachitsch | Apothekerverband und Inhaber der Kreis Apotheke, Villach

  • Dr. Jacqueline Jürs | Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung

  • Dr. Kai Kolpatzik, MPH, EMPH | AOK-Bundesverband, Abteilung Prävention der Geschäftsführungseinheit Versorgung

  • Mag. Caroline Krammer | Referentin für sozialversicherungsrechtliche und gesundheitspolitische Grundlagenarbeit in der Abteilung Sozialversicherung der Arbeiterkammer Wien

  • Mag. Dr. Peter Nowak | Leiter der Abteilung Gesundheit und Gesellschaft, GÖG

  • Katharina Obrovsky, BEd | Volkschullehrerin in Wien

  • Univ.-Prof. Dr. Jürgen M. Pelikan | Competence Centre for Health Promotion in Hospitals and Health Care der GÖG

  • Dr. Peter Stippl | Präsident des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie


Stimmen aus der Podiumsdiskussion „Wir sollen diese Hochkomplexität bei Aufklärungsunterlagen vermindern und Inhalte verständlicher vermitteln. Informationen kommen den Menschen nicht entgegen, wenn sie zwar rechtlich gut abgesichert sind, aber bei den Patientinnen und Patienten als Information nicht ankommen.“ Dr. Gerald Bachinger | NÖ Patienten- und Pflegeanwalt und Sprecher der Patientenanwälte Österreichs „Apothekerinnen und Apotheker nehmen eine Schlüsselfunktion ein, da wir einen sehr niederschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem haben, indem jeder Mensch zur Apotheke gehen kann und eine kompetente Beratung erhält. Wichtig ist auch, dass die Patientinnen und Patienten verstehen, was die Ärztinnen und Ärzte ihnen sagen, und auch hier helfen wir täglich, weil sie oft nicht wissen, was sie einnehmen und wie die Medikamente wirken. Hier kommt den Apothekerinnen und Apothekern eine wichtige Rolle zu, um die Kompetenz der Patientinnen und Patienten zu stärken.“ Mag. pharm. Hans Bachitsch | Apothekerverband und Inhaber der Kreis Apotheke, Villach „Es gibt verschiedene Wege hin zu einer guten Gesundheitskompetenz. Vor allem bei Kindern stellt sich die schwierige Frage, wie erreiche ich die Eltern. Informationen gibt es ausreichend, aber wenn die Menschen die Information nicht hören, sehen oder verstehen, stehen wir vor einer großen Herausforderung. Es stellt sich auch die Frage, wie Informationen so gestaltet werden können, dass sie alle wichtigen Inhalte verständliche und kompakt enthalten und juristisch abgesichert sind.“ Dr. Jacqueline Jürs | Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung „Die Ausbildung der Kindergartenpädagoginnen und -pädagogen ist ein ganz entscheidender Punkt bei der Gesundheitskompetenz von Kindern. Diese Phase zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr ist für die Zukunft der Kinder sehr entscheidend und müssen wir mitbedenken, wenn wir die Gesundheitskompetenz stärken wollen. Auch die Ausbildung, ausreichend Bewegung, gesunde Ernährung sind wesentliche Punkte, an denen  wir bereits sehr früh ansetzen müssen. Wichtig ist auch, dass eine Durchgängigkeit geschaffen wird und die Bemühungen nicht mit der vierten Klasse Volksschule aufhören.“ Dr. Hans Jörg Schelling | PRAEVENIRE Präsident

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