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Hirngesundheit 2030: Handlungsbedarf bei Demenzversorgung auf vielen Ebenen

© Manuela Egger-Moser

Hirngesundheit 2030: Handlungsbedarf bei Demenzversorgung auf vielen Ebenen

© Manuela Egger-Moser

Zum ersten Mal fand ein PRAEVENIRE Team Talk rund um das Thema Demenzversorgung in Österreich statt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Das Alpbacher Manifest fasst den Handlungsbedarf zur Optimierung der Versorgung von Menschen mit Demenz und deren An- und Zugehörigen zusammen.

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Mag. Renate Haiden, MSc.

Freie Redakteurin

Demenzielle Erkrankungen verlaufen in unterschiedlichen Stadien. Neben der Prävention sind eine zeitgerechte Diagnose und eine langfristige professionelle Begleitung durch ein multiprofessionelles Team die wichtigsten Komponenten, um möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Im richtigen Setting ist mit individualisierter Unterstützung und Förderung ein gutes Leben trotz der Erkrankung möglich. Voraussetzung dafür ist die aktive Mitarbeit der Betroffenen sowie die Unterstützung durch ein multiprofessionelles Team, das stadiengerecht auf die jeweiligen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten sowie deren An- und Zugehörigen eingeht. Benötigt wird neben der Entlastung auch eine punktgenaue Information, vor allem, um das Verständnis für das Verhalten der betroffenen Person bei den Betreuenden zu fördern. 

Nach wie vor ein Tabuthema

Univ.-Prof. Dr. Stefanie Auer, Leiterin des Zentrums für Demenzstudien an der Fakultät für Gesundheit und Medizin der Universität für Weiterbildung Krems präsentiert in ihrem Impulsstatement eine Reihe von Fakten, die durchaus nachdenklich machen: „Aktuell leben
weltweit 55 Mio. Menschen mit Demenz. Die Zahl der Menschen mit Demenz verdoppelt
sich alle 20 Jahre. Das heißt, dass jede Familie, wenn sie nicht schon betroffen ist, in kürzester Zeit direkt oder indirekt betroffen sein wird.“ Die neurodegenerative Erkrankung verläuft in Stadien. Das heißt, es kann oft viele Jahre dauern, bis die Diagnose gestellt wird. Die Therapie und das pflegerische Setting müssen laufend angepasst werden, denn die Bedürfnisse der Erkrankten ändern sich im Laufe der Zeit. „Betroffen sind in erster Linie Menschen ab dem 65. Lebensjahr. Unter dieser Altersgrenze gibt es lediglich acht Prozent Erkrankte, die im System völlig unterversorgt sind oder einen sehr langen Weg vor sich haben, bis die richtige Diagnose gestellt wird“, erklärt Auer. Aktuelle Daten der deutschen Alzheimergesellschaft zeigen, dass allein innerhalb der letzten beiden Jahre 100.000 Menschen unter 65 die Diagnose Demenz erhalten haben. 

Auer formuliert neuerlich die zentralen Forderungen, damit Erkrankte ein erfülltes Leben
führen können: „Eine zeitgerechte Diagnose, die stadienangepasste Begleitung und eine
multidisziplinäre Versorgung.“ Dazu gibt es nach Ansicht der Expertin viele Möglichkeiten, doch die größte Herausforderung ist es, diese in den praktischen Alltag zu bringen, denn
nach wie vor werden Erkrankte stigmatisiert, die medizinische und psychosoziale Versorgung ist nicht ausreichend und die Menschen mit Demenz, aber auch ihre An- und Zugehörigen werden in Einsamkeit und Isolation gedrängt. Dr. Andreas Krauter, MBA, ärztlicher Leiter der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) und Leiter des Fachbereichs Medizinischer Dienst, fordert neben der frühen Diagnose auch eine enge Zusammenarbeit mit Spezialambulanzen: „Die ÖGK ist an einer multiprofessionellen Versorgung sehr interessiert und wir würden eine entsprechende Unterstützung mit Ärztinnen und Ärzten auch gerne gemeinsam entwickeln. Bevor wir Konzepte erstellen, braucht es eine Analyse der Ressourcen, wo wir stehen und welche Angebote künftig im Hinblick auf die demografische Entwicklung tatsächlich erforderlich sind.“
Er kann sich vorstellen, das Thema bei einer Überarbeitung der Vorsorgeuntersuchung mit aufzunehmen, um die Früherkennung zu fördern. Mag. Martin Schaffenrath, Mitglied des Verwaltungsrates der ÖGK, sieht ebenfalls Potenziale bei der Vorsorgeuntersuchung, geht
aber darüber hinaus: „Wir müssen in Prävention investieren und dazu braucht es eine breite
Bewusstseinsbasis für die Erkrankung.“

Aufklärung dringend erforderlich

Eine internationale Befragung in 155 Ländern zeigt, dass das Wissen über Demenz verbesserungswürdig ist: „95 Prozent der Befragten haben Angst zu erkranken, etwa die Hälfte
meint, der Lebensstil sei ausschlaggebend dafür und zwei von drei sind überzeugt, dass mit
zunehmendem Alter eine Demenz ohnehin nicht ausbleibt“, gibt Auer Einblick. Noch erschreckender ist, dass auch innerhalb der Gesundheitsberufe der Informationsstand mangelhaft ist: „Nach Angaben des World Alzheimer Report 2019 glauben mehr als 62 Prozent der Personen im Gesundheitswesen weltweit, dass Demenz ein Teil des normalen Alterungsprozesses ist“, so Auer. Umgekehrt gehen 40 Prozent der Befragten davon aus, dass Gesundheitsdienstleister – selbst, wenn sie etwa beim Arztbesuch auf etwaige Symptome angesprochen werden – das Thema ignorieren. Daher ist es nicht verwunderlich, dass nur etwa 20 bis 30 Prozent angeben auch eine diagnostizierte Demenzerkrankung zu haben. Ein Blick in die heimischen Pflegeheime zeigt, dass die internationalen Zahlen nur um wenige Prozent übertroffen werden: „54 Prozent aller Heimbewohnerinnen und -bewohner haben eine Diagnose, obwohl bei einschlägigen Tests bis zu 85 Prozent eine kognitive Einschränkung aufweisen“, ergänzt Auer.

Univ.-Prof. Dr. Peter Dal-Bianco, Präsident der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft warnt
aber vor einer allzu schnellen Diagnose, denn: „Vergesslichkeit kann mitunter auch eine reversible Störung sein. Es ist lediglich ein Symptom, das seine Ursachen zum Beispiel in Stoffwechselstörungen, Depressionen oder einem Flüssigkeitsmangel sowie Nebenwirkungen einer Medikamenteneinnahme haben kann. Viele Menschen sprechen beim Arztbesuch dennoch ungern dieses Symptom an, weil sie Angst vor einer Diagnose haben.“ Der Experte fordert daher auch ein neues, weniger abschreckendes Wording in Richtung Prävention und „Hirngesundheit“. Er appelliert auch dringend an Ärztinnen und Ärzte, nicht voreilig von Demenz zu sprechen: „Diese Krankheit ist ein Kontinuum, bei der mit einem Arztbesuch keine Schlüsse gezogen werden dürfen. Es braucht die ausführliche Anamnese, einen Status und die Beobachtung im Zeitverlauf.“ Univ.-Prof. Dr. Erika Zelko, PhD, Leitung des Instituts für Allgemeinmedizin an der Johannes Kepler Universität Linz ergänzt: „Die gesellschaftliche Awareness ist wichtig, aber in erster Linie müssen Ärztinnen und Ärzte sensibilisiert werden, um in der Früherkennung aktiv werden zu können.“

Multiprofessionelle Versorgung

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die Aufklärung der Gesellschaft ist dringend
notwendig. Eine differenzierte Betrachtung der Bedürfnisse, eine stadien- und geschlechterspezifische Beratung sowie ein abgestimmtes Casemanagement auch schon vor der Diagnose sind unumgänglich. Dass dazu die Abstimmung zahlreicher Berufsgruppen erforderlich wäre, liegt ebenfalls auf der Hand, daher werden multidisziplinäre Konzepte gefordert. Coping-Strategien müssen sich mit der Erkrankung mit entwickeln, dazu braucht es
professionelle Begleitung in allen Stadien. Die Forderungen sind nicht neu, bereits die österreichische Demenzstrategie „Gut leben mit Demenz“ aus dem Jahr 2015 geht auf diese
Punkte ein. Sie wurde im Auftrag des Sozialministeriums unter Einbeziehung eines breiten
Kreises an Stakeholdern und betroffenen Personen sowie deren An- und Zugehörigen
entwickelt. Deutlich wurde bereits damals, dass nicht nur professionelle Pflege- und Betreuungskräfte vor neuen Aufgaben stehen, sondern das unmittelbare Lebensumfeld der Menschen vorbereitet sein muss: Polizei, Handel, Gemeinden oder die unmittelbare Nachbarschaft können zu einem guten Leben mit Demenz beitragen. „Es soll sichergestellt werden, dass trotz der vorhandenen Beeinträchtigungen die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen so weit wie möglich gewährleistet ist. Damit wir dorthin kommen, müssen in einem ersten Schritt jedoch Ängste und Vorurteile in der Gesellschaft abgebaut werden“, sieht Auer den Weg zu mehr Verständnis geebnet. Zu den vielen praktischen Handlungsfeldern muss das
Forschungsfeld rund um Demenz gestärkt werden, das derzeit noch kaum Unterstützung findet. Ein Demenzqualitätsregister ist in Arbeit, auch Qualitätsindikatoren für validierte Tests und Interventionen sollen abgebildet werden.

„Demenz ist in der Hausarztpraxis ein Alltagsthema, mit dem wir ständig konfrontiert sind.
Eine einzelne Hausärztin bzw. ein einzelner Hausarzt benötigt Fachdisziplinen wie Neurologinnen und Neurologen sowie Psychiaterinnen und Psychiater für die Abklärung, das
kann dann schon mehrere Wochen in Anspruch nehmen. In der Einzelpraxis ist es ungleich
schwieriger als in einem Primärversorgungszentrum, weil hier schon multiprofessionell
gearbeitet wird. Die Möglichkeiten der Früherkennung und der Langzeitbetreuung sind
damit größer“, beschreibt Dr. Erwin Rebhandl, Allgemeinmediziner im PVE Haslach. Er ist
auch überzeugt, dass das Zuhören wichtig ist, denn wenn Patientinnen und Patienten einmal
mit einem Symptom nicht gehört werden, dann kommen sie damit nicht mehr wieder.
Das unterstützt auch Mag. Julia Commenda, Projektkoordination Gesundheitsförderung Primärversorgung in Haslach an der Mühl: „Es ist wichtig, auf die Menschen direkt zuzugehen
und den persönlichen Kontakt zu suchen.“ 

Warum eine Diagnose wichtig ist

Helga Rohra, Demenzaktivistin und selbst Betroffene, fordert öffentlichkeitswirksame Kampagnen zur Entstigmatisierung: „Es braucht eine klare Aussage von der Ärztin bzw.
vom Arzt, aber auch eine Therapeutin oder ein Therapeut bzw. eine Psychologin oder ein
Psychologe muss beigezogen werden, um jene Menschen aufzufangen, die sich mit der Diagnose alleingelassen fühlen und buchstäblich zusammenbrechen.“ Dieses psychosoziale Case Management wird in Ländern wie Irland oder Großbritannien bereits angeboten, denn nicht jeder Mensch kann diese Diagnose annehmen und findet im persönlichen Umfeld den
erforderlichen Halt. „Das ist aber eine wichtige Voraussetzung für ein möglichst langes,
selbstbestimmtes Leben. Auch wenn Demenz nicht heilbar ist, so können informierte Patientinnen und Patienten viel dazu beitragen, den Verlauf zu verlangsamen“, weiß Rohra. Es
erfordert aktuell noch viel Insider-Wissen, um das Angebot, das größer ist, als man vielleicht
denkt, auch zu finden und zu nutzen. Es reicht mittlerweile vom demenzfreundlichen Gottesdienst, der demenzfreundlichen Kulturführung, der demenzfreundlichen Bibliothek bis
hin zu demenzfreundlichen Apotheken oder Polizeidienststellen.

„Es ist in der Politik schon angekommen, dass bei demenziellen Erkrankungen die Gesundheit und soziale Themen stark verwoben sind. Es gibt flächendeckende Demenz-Servicestellen und wir unterstützen auch die Selbsthilfe in diesem Bereich. Wir wollen das Casemanagement weiter ausbauen, doch noch fehlt uns dazu das evidenzbasierte Datenmaterial“, betont Andreas Huss, MBA, Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse.

Pflegende Angehörige sind oft Expertinnen und Experten in der Organisation des Alltags
rund um die Menschen mit Demenz, doch scheuen sie sich davor, Unterstützungs- und
Informationsangebote in Anspruch zu nehmen. „Es ist niemandem zu verdenken, in dieser
Situation selbst Angst zu haben und vielleicht das Thema dadurch auch zu tabuisieren. Dennoch ist es wichtig den Schritt zur Diagnose zu gehen, denn nur dann erhält man auch die passenden Unterstützungsleistungen zuerkannt“, sagt Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger. Zelko und Mag. Sabine Röhrenbacher vom
Bundesverband Selbsthilfe (BVSHOE) sind sich einig, dass bei allen geplanten Maßnahmen
die Betroffenen eingebunden werden müssen und auf die Angehörigen nicht vergessen werden darf.

PRAEVENIRE Gipfelgespräche auf der Alpbacher Schafalm v.l.:

  • Andreas Krauter

  • Erwin Rebhandl

  • Andreas Huss

  • Erika Zelko

  • Stefanie Auer

  • Sabine Röhrenbacher

  • Johannes Oberndorfer

  • Martin Schaffenrath

Digital dazugeschaltet:

  • Julia Commenda

  • Peter Dal-Bianco

  • Birgit Meinhard-Schiebel

  • Helga Rohra

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