Erstmals fand ein PRAEVENIRE Gipfelgespräch am Fuße der Rax statt. Im Rahmen der Leadership-Kampagne des Fördervereins „Kinder- und Jugendlichenrehabilitation in Österreich“ startete damit eine neue PRAEVENIRE Initiative, die sich für die Gesundheitsversorgung der Jüngsten in der Bevölkerung einsetzt.
Mag. Beate Krapfenbauer
PERISKOP-Redakteurin
Das PRAEVENIRE Gesundheitsforum (der Verein PRAEVENIRE — Gesellschaft zur Optimierung der Gesundheitsversorgung) möchte ein Wegweiser für die Zukunft der Gesundheitsversorgung sein, der aufzeigt, wie wir ein modernes, leistungsfähiges und solidarisches Gesundheitssystem für die österreichische Bevölkerung erhalten und entwickeln können. Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen ist dabei dem Förderverein Kinder- und Jugendlichenrehabilitation in Österreich sowie dem PRAEVENIRE Gesundheitsforum ein wichtiges gemeinsames Anliegen.
Deshalb wurde im Juni die neue PRAEVENIRE Initiative „Kinder- und Jugendgesundheit 2030“ gestartet. Die Auftaktveranstaltung fand mit dem PRAEVENIRE Gipfelgespräch erstmals am Fuße der Rax, im Parkhotel Hirschwang im gleichnamigen Nachbarort von Reichenau, statt. Für die über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aus ganz Österreich kamen, war bereits die Anreise zum an der niederösterreichisch-steirischen Grenze liegenden Bergmassiv ein „erhebendes“ Erlebnis. Entsprechend motiviert, konnte das dichte Tagungsprogramm am bislang heißesten Tag des Jahres erlebt und am Ende der Grundstein zu weiteren Aktivitäten gelegt werden. Von beiden Vereinen gemeinsam definiertes Ziel ist, dass nach der Auftaktveranstaltung die Essenzen in einem eigenen Kapitel des kommenden PRAEVENIRE Weißbuchs „Zukunft der Gesundheitsversorgung (Version 2021/22)“ gipfeln. Die im Weißbuch gesammelten und auf dem Expertenkonsens basierenden gesundheitspolitischen Handlungsempfehlungen von PRAEVENIRE werden im Herbst der Bundesregierung und relevanten Stakeholdern des Gesundheitswesens überreicht.
Doch der Reihe nach: Der Gründer und Obmann des Fördervereins Kinder- und Jugendlichenrehabilitation in Österreich Markus Wieser startete in das Tagungsprogramm mit der Begrüßung, in der er seine persönliche Motivation zur Gründung des Fördervereins darlegte: Als Vater wurde er im Zuge der Leukämieerkrankung seiner Tochter mit dem Mangel an kinder- und jugendgerechter rehabilitativer Versorgung konfrontiert: kaum vorhandene auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Infrastruktur, Intransparenz der Zuständigkeiten und fehlende (arbeits-)rechtliche und finanzielle Absicherung bei der Begleitung der Kinder durch die Eltern z. B. bei einem mehrwöchigen Reha-Aufenthalt. Als Eltern habe man im Fall einer akuten Erkrankung andere Sorgen, als sich auf den steinigen Wegen der Bürokratie und intransparenten Pfaden der Zuständigkeiten durchzumanövrieren. Seit der Gründung 2009 hat sein Verein maßgeblich zur Errichtung von spezialisierten Institutionen für Kinder- und Jugendlichenrehabilitation in Österreich beigetragen. Doch damit nicht genug. Wie wichtig die gemeinsame Initiative zur Optimierung der Gesundheitsversorgung der Jüngsten und Jungen in der Bevölkerung über kindergerechte Rehabilitation hinaus ist, konnte er in der hochkarätig besetzten einführenden Podiumsdiskussion mit Dr. Stephan Pernkopf, Landeshauptfrau-Stv. der Niederösterreichischen Landesregierung, Ulrike Königsberger-Ludwig, Landesrätin der Niederösterreichischen Landesregierung und Mag. Bernhard Wurzer, Generaldirektor der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) festmachen. Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen. Sie benötigen spezielle medizinische Betreuung und Versorgung und verdienen ein Gesundheitssystem, das ihre speziellen Bedürfnisse kennt und in der Versorgungspraxis bestmöglich berücksichtigt. In diesem Sinne müssen die optimale medizinische Versorgung, der kostenlose Zugang zu notwendigen Therapien sowie die arbeits- und sozialrechtliche Sicherung der Familien in Notsituationen in den Fokus genommen werden. Gerechte Ressourcenverteilung und eine Wahrung der Kinderrechte sind Teil dieses Anliegens.
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion wurde in vier Keynotes je ein wichtiges Problemfeld umrissen. Auf dieser Basis arbeiteten die teilnehmenden Expertinnen und Experten in den korrespondierenden vier Arbeitsgruppen Lösungsvorschläge aus.
Thema 1: Kinder- und Jugendrehabilitation
Als Einführung zum Thema hielten Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Grieshofer, ärztlicher Leiter der Kinderreha Judendorf-Straßengel und Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Sperl, Rektor der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg, der auch die Ergebnisse aus der späteren Arbeitsgruppe präsentierte, ihre Keynotes. Während es in der Kinder- und Jugendlichenrehabilitation in den letzten Jahren durchaus Fortschritte gegeben hat, besteht dennoch weiterhin Optimierungspotenzial, das aktiv realisiert werden sollte. Das dringlichste Problem in der Kinder- und Jugendrehabilitation stellt die Regelung zu Begleitpersonen dar. Für sie fehlt eine rechtliche (z. B. Freistellung von der Arbeit) und finanzielle Absicherung während des oft wochenlang dauernden Reha-Aufenthalts. Kriterien der Familienorientierung sind klar hinterlegt, jetzt braucht es solche auch für die Begleitperson. Dazu müssen die Zuständigkeiten klar geregelt sein und Leistungsprofile für Zahler, Versicherer, Träger etc. in Expertengruppen und spezifisch für jede medizinische Indikation erstellt werden. Für die Nachsorge müssen Bund und Länder für eine österreichweit einheitliche Erhebung des Bedarfs zusammenarbeiten. Weiters ist eine Resilienzstrategie zu erstellen, um für kommende Krisen gerüstet zu sein. Für alle Maßnahmen gilt, einen strikten Zeitplan aufzusetzen, um die nächsten Schritte frühzeitig setzen und das Ziel möglichst vor 2030 erreichen zu können.
Thema 2: Sicherstellung pädiatrischer Grundversorgung
Das zweite Thema, präsentiert von Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall, Präsidentin der Österreichichen Gesellschaft für Kinder und Jugendheilkunde (ÖGKJ), war der Sicherstellung pädiatrischer Grundversorgung gewidmet. Die Regelversorgung mit Pädiaterinnen und Pädiatern in Österreich steht — zumindest im kassenärztlichen Setting — zunehmend unter Druck. So waren laut einer Studie 2019 im österreichischen Schnitt zwölf Prozent der Planstellen unbesetzt. Dies stellt laut ÖGKJ keinen vorübergehenden Engpass dar, mit einer Verschärfung dieses Umstandes ist in bestimmten Regionen konstant zu rechnen. Zusätzlich liegt in manchen Regionen der Anteil der über 55-jährigen Pädiaterinnen und Pädiater bei über 60 Prozent. Die Lösungsmodelle stellte die Arbeitsgruppe unter zwei Prämissen: „Akutbedarf“ und „Erweiterung der Arbeitsmodelle“. Der im Kassenarztbereich bestehende Akutbedarf könne durch Aufhebung der Deckelung erreicht werden, die eine Anstellung einer zweiten Ärztin bzw. eines zweiten Arztes ermöglicht. Damit könnten eine höhere Anzahl an Kindern und Jugendlichen betreut werden. Die Erweiterung parallel angebotener kassenärztlicher Arbeitsmodelle könnte durch Zusammenarbeit in Gruppenpraxen, durch Einbindung in PVE etc. erfolgen. Für welches Modell entschieden wird, sollte von der jeweiligen Region flexibel gewählt werden können. Und: Mehrere Modelle sollten nebeneinander möglich sein. Weitere Lösungsvorschläge: Förderung der Lehrpraxis, Mitarbeit bei Arztpraxen nach der Facharztausbildung für ein Jahr und ein Modell, um Pädiatrie-Erfahrung in verschiedenen Gesundheitseinrichtungen sammeln zu können. Die Durchlässigkeit zwischen intramuralem und extramuralem Bereich sollte optimiert werden, damit für Pädiaterinnen und Pädiater die Spitalsarbeit und eine Praxis-Mitbetreuung (vor allem am Land ein wesentlicher Punkt) besser möglich ist. Zur Deckung der Versorgung sollte auch das Potenzial anderer Berufsgruppen (Apotheke, Gesundheitspflege, Therapeutinnen und Therapeuten etc.) mitgedacht werden. Als mittel- und langfristiges Ziel zur Sicherstellung der pädiatrischen Grundversorgung wird die Aufhebung föderalistischer „Grenzen“ und damit einhergehend die Finanzierung aus einer Hand gesehen. Denn vorrangig soll sein, dass Kinder und Jugendliche bestmöglich betreut werden und nicht wo sie betreut werden (stationär oder ambulant).
Thema 3: Gesundheitskompetenz
Das dritte Thema, das von Kinder- und Sportarzt Dr. Holger Förster dargestellt wurde, widmete sich der Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen. Die Gesundheitsbildung dieser Personengruppe in Österreich gibt Grund zur Sorge: In einer internationalen Vergleichsstudie schnitt Österreich bedenklich schlecht ab. Health Literacy ist aber eine wesentliche Voraussetzung, um eigenverantwortlich die richtigen Gesundheitsentscheidungen zu treffen und ein maßgeblicher Faktor für die aktive Inanspruchnahme von Präventionsangeboten; Gesundheitswissen und Prävention sind wesentliche Grundsteine für möglichst gesundes Altern und haben in diesem Sinne auch massive Auswirkungen auf die kommenden Belastungen der Regelversorgung für das System. In dieser Arbeitsgruppe wurde der Begriff „GesundheitsVERziehung“ entwickelt, der aufzeigt, dass Kinder und Jugendliche ein intrinsisch gut ausgeprägtes Gesundheitsgefühl haben. Im Laufe der Erziehung wird das allerdings eingedämmt, beispielsweise im Schulbereich, in welchem die Bewegung eingegrenzt und „Stillsitzen“ gelehrt wird. Grundlegend wäre daher, die Bewusstseinsbildung für Gesundheitskompetenz-Agenden auf drei Säulen zu stützen: Erstens sollte bereits im Zuge der Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen sowie von den relevanten Gesundheitsberufen bei der Awareness um die Wichtigkeit von Health Literacy angesetzt werden. Denn erst ausgestattet mit umfassendem Gesundheitswissen, können das Wissen und die Wertigkeit einer gesunden Lebensführung vermittelt werden. Einstimmig sprachen sich die Arbeitsgruppenteilnehmerinnen und -teilnehmer für ein Schulfach Gesundheitskompetenz aus. Zweitens haben Eltern mit dem Mutter-Kind-Pass ein wichtiges Tool in der Hand. Allerdings müsste die bisherig bestehende Finanzierung (z. B. kostenfreie Impfungen) ausgedehnt werden, sodass die Bereitschaft für Vorsorge nicht sinkt. Unbedingt zu ändern ist die Bezeichnung auf „Eltern-Kind-Pass“. Drittens sind die Gemeinden gefordert, ihren Beitrag zu leisten, indem sie Freiräume für Bewegung in der Natur schaffen (Wohnbau, Infrastruktur), das Konzept der Großfamilie neu für sich entdecken (Wissenserhalt über die Generationen) und ihre Funktion als soziale Drehscheibe verstärken. Alle genannten Lösungsvorschläge brauchen ein Messinstrument, um Erfolge nachweisen und evaluieren zu können. Im Hinblick auf Studien und Datengenerierung sind Universitäten und Fachhochschulen gefordert.
Thema 4: Coronafolgen
Das vierte Thema bildete das aktuelle Feld der Folgen der Pandemie ab. Univ.-Prof. Dr. Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien, zeigte bestehende und neue Herausforderungen für die Kindergesundheit auf, denen zur Minimierung von Folgeschäden aktiv und rasch entgegengetreten werden muss. Insbesondere die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen ist hierbei zu nennen. Beschwerden wie Einschlafprobleme, Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit und Bauchschmerzen nehmen kontinuierlich zu; die Anzeichen von Angststörungen stiegen von 15 auf 24 Prozent und das Risiko für psychische Auffälligkeiten stieg während der Krise von 18 auf besorgniserregende 30 Prozent. Die in der vierten Arbeitsgruppe ausgemachten Problemfelder betrafen Versorgungsdefizite, Bildung, Wege aus der Krise, soziale Folgen und Forderungen aus dem Gesundheitsbereich. Die Lösungsansätze präsentierte Mag. Dr. Leopold Michael Marzi, Leiter der Rechtsabteilung Vorfallsabwicklung und Prävention im AKH Wien. Die Coronakrise habe die gesamte Gesellschaft unvorbereitet getroffen. Deshalb war der Umgang mit der Krise schwer, am wenigsten konnten Kinder und Jugendliche damit umgehen. Langzeituntersuchungen zu den Folgen der Lockdowns und der Bedeutung der langandauernden Abwesenheit von Kindergarten, Schule und auch Universität gibt es noch nicht. Zu beginnen sei bei der Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen zum Thema Krisenmanagement. Gesundheitskompetenzvermittlung in der Schule wurde auch in dieser Themengruppe als wichtig ausgewiesen. Kreative Lösungsansätze, wie das längst fälligen Entrümpeln der Lehrpläne oder Büchergutscheine für Kinder (ähnlich dem während der Coronakrise 2020 ausgegebenem Wiener Gastrogutschein), sind jetzt umzusetzen. Allgemein festgestellt wurde, dass es keine Neukreationen zur Bewältigung der Folgen der Pandemiezeit braucht, denn es liegen viele Konzepte in den verschiedensten Schubladen. Eine Umsetzung dürfe jedenfalls nicht an der Finanzierung scheitern. Einer der wichtigen Wege aus der Krise ist auch die Impfung, wobei hier eine faktenbasierte Informationsvermittlung am grundlegendsten ist, um dem „Glaubenwissen“ und der Nebenwirkungsdiskussion erfolgreich entgegenwirken zu können.
Die Essenzen des am Fuße der Rax gestarteten PRAEVENIRE Gipfelgesprächs bilden den Grundstein für weitere gemeinsame Aktivitäten. Die detaillierten Ergebnisse werden als eigenes Kapitel „Kinder- und Jugendgesundheit 2030“ im PRAEVENIRE Weißbuch „Zukunft der Gesundheitsversorgung (Version 2021/22)“ erscheinen.
Teilnehmende der Podiumsdiskussion (v. l.): Stephan Pernkopf, Ulrike Königsberger-Ludwig, Markus Wieser, Bernhard Wurzer
Keynotespeaker
Thema 1: Kinder- und Jugendlichenrehabilitation
Thema 2: Sicherstellung pädiatrischer Grundversorgung
Thema 3: Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen
Thema 4: Coronafolgen für die Kinder- und Jugendgesundheit
© GEORGES SCHNEIDER (7)