Bei den 7. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten betonte Univ.-Prof. Dr. Kurt Widhalm, Präsident des Österreichischen Akademischen Instituts für Ernährungsmedizin (ÖAIE) und Kinderarzt, in seiner Keynote, dass in Sachen Kindergesundheit in Österreich großer Aufholbedarf bestehe. Denn es fehle sowohl an Gesundheitsdaten als auch an Präventionsprogrammen zur Eindämmung der „Adipositas-Epidemie“.
Carola Bachbauer, BA, MSc
Periskop-Redakteurin
Laut der World Health Organization (WHO) wird in allen europäischen Staaten bis zum Jahr 2030 die Prävalenz von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen auf über 50 Prozent steigen. Übergewicht im Kindesalter hat eine enorme Auswirkung auf die physische, psychische und psychosoziale Gesundheit. So ist bei übergewichtigen Kindern die Wahrscheinlichkeit,
dass sie in Verlauf ihres späteren Lebens Knorpelschäden, Knochenveränderungen, Diabetes
Typ 2 oder das Schlafapnoesyndrom bekommen, höher als bei normalgewichtigen. Als
Folge des jugendlichen Übergewichts ist auch das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen,
Lebererkrankungen und Depressionen erhöht. Eine Behandlung von Übergewicht bzw.
Adipositas ist nicht immer einfach. Deshalb ist es wichtig, mit dieser so früh wie möglich zu
beginnen. Noch besser wäre es, wenn es aufgrund von präventiven Maßnahmen gar nicht zu einem Übergewicht kommt.
Unzureichende Datenlage
Laut Widhalm gibt es kaum Daten zum Gesundheitsstatus von Kindern und Jugendlichen in Österreich. Sind Zahlen vorhanden, sind diese entweder schwer zu bekommen, veraltet oder die Repräsentativität der Studien ist fraglich. Als Beispiel führte der Kinderarzt hier die Childhood Obesity Surveillance Initiative (COSI) Studie der WHO aus den Jahren 2016/17 sowie 2019/20 an, welche Daten zur Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Volkschulkindern in Österreich lieferte. Zwar zeigen die Ergebnisse, dass 30 Prozent der Buben und 22 Prozent der
Mädchen zwischen sechs und elf Jahren übergewichtig bzw. adipös sind, jedoch haben nur
45 Prozent der Eltern der Messung von Körpergewicht und Körpergröße zugestimmt. Flächendeckende Zahlen aus Schulen stehen laut dem Experten nicht zur Verfügung, obwohl die Messung von Gewicht und Größe gesetzlich vorgeschrieben ist.
Gesundheit – Woran das System krankt
Nicht nur die Datenlage, sondern auch das Gesundheitssystem bemängelte Widhalm. Da
in Österreich nicht nach Zeit, sondern nach der Anzahl der Behandlungen abgerechnet wird, wird im niedergelassenen Bereich durchschnittlich alle 4:36 Minuten eine e-Card gesteckt und somit eine Leistung mit der Sozialversicherung abgerechnet. Zeitintensive Untersuchungen zahlen sich somit für viele Medizinerinnen und Mediziner nicht mehr aus. Hinzu kommt, dass Kinderärztinnen und -ärzte zu den Fachärztinnen und -ärzten mit dem niedrigsten Einkommen
gehören. Ob man mit diesem Gehalt viele junge Medizinerinnen und Mediziner dazu bringen wird, in dieses komplizierte Fach, welches viele verschiedene Bereiche umfasst, zu gehen, bezweifelte Widhalm. Des Weiteren ist das österreichische Gesundheitswesen effektiver darin, Krankheiten zu behandeln, als vorzusorgen. Denn im Bezug auf die gesunden Lebensjahre liegt Österreich im unteren Drittel. Während in Schweden die Menschen durchschnittlich die letzten zehn Jahre ihres Lebens an einer Krankheit leiden, sind die Österreicherinnen und Österreicher fast 25 Jahre krank. Um hier eine Veränderung zu erlangen, muss man schon bei Kindern und
Jugendlichen etwas ändern.
Gesundheitspass für Kinder und Jugendliche
Am Beispiel einer Wiener Volksschule erörterte Widhalm: „Nur 58 Prozent der Kinder haben Normalgewicht. 16 Prozent sind übergewichtig, 19,8 Prozent adipös und 4,9 Prozent
hochgradig adipös. Das heißt, sie würden eine sofortige Therapie benötigen. Insgesamt sind an dieser Schule also 40 Prozent der Kinder als übergewichtig einzustufen, und an anderen Schulen wird es nicht anders sein.“ Trotz der verheerenden Zahlen fehlt es laut dem Experten an Präventionsprojekten. Bereits 2005 wurde der Gesundheitspass, welcher anders als der Mutter-Kind-Pass bis ins Jugendalter reicht, fertiggestellt. Darin sollten regelmäßig die körperlichen Entwicklungen der Kinder und Jugendlichen festgehalten werden. Realisiert wurde der Pass jedoch bis heute nicht, da man sich nicht darauf einigen konnte, ob die Kinder- oder Schulärztinnen und -ärzte diese Untersuchungen durchführen sollen.
Präventionsprojekt EDDY
Trotz der Forderung der WHO an ihre Mitgliedsländer, nachweislich wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von Übergewicht durchzuführen, gibt es bis jetzt in Österreich mit EDDY – Effect of sports and diet trainings to prevent obesity and secondary diseases and to influence young children’s lifestyle – nur ein wissenschaftlich fundiertes Präventionsprogramm zur Eindämmung der Adipositas-Epidemie. Ziel des Projekts ist es, das Ausmaß bzw. den Anstieg der Übergewichtigkeit bei Volkschulkindern wissenschaftlich fundiert zu untersuchen und eine Grundlage für ein nationales Präventionsprogramm zu schaffen. Im Rahmen der Kampagne erhalten Schülerinnen und Schüler zwischen acht und elf Jahren wöchentlich Ernährungs- und
Sportunterricht, um so das Gesundheitsverhalten der Kinder positiv zu beeinflussen.
Widhalm zufolge könne durch eine derartige therapeutische Intervention die Muskelkraft der Schülerinnen und Schüler signifikant erhöht werden. Zusätzlich könnten die körperliche Aktivität und die Erkenntnis über Ernährungssituationen gesteigert werden.
COVID-19-Pandemie führt zu mehr Gewichtzunahmen
Widhalm wies darauf hin, dass die Lockdowns während der COVID-19-Pandemie einen drastischen Einfluss auf den Lebensstil der Kinder hatten. Veröffentlichte Daten zeigen, dass Corona zu einem enormen Anstieg des Übergewichts bei Kindern und Jugendlichen geführt hat. Die Schülerinnen und Schüler nahmen während der Lockdowns durchschnittlich 1,7kg mehr an Gewicht zu als im davorliegenden Jahr. Die Verminderung der körperlichen Aktivität durch die Schließung von Schulen und Sporteinrichtungen hat hier ihren Beitrag geleistet. Deshalb betonte Widhalm: „Eine Eindämmung der ‚Adipositas-Epidemie‘ ist nur durch konzentrierte
Maßnahmen möglich, welche auch die Familie einbinden. Ansonsten werden die Kinder in
ihrer Freizeit das Ess- und Sportverhalten wie gewohnt beibehalten und die präventiven Konzepte keine Wirkung zeigen.“
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