Diabetes mellitus ist sowohl für die Betroffenen als auch für das Gesundheitssystem eine herausfordernde Erkrankung. Eine Heilung ist aufgrund des progressiven Charakters der Erkrankung sehr schwierig. Ziel ist es dennoch, eine anhaltende metabolische Verbesserung für Patientinnen und Patienten im Sinne einer Remission zu erreichen. Damit dies auch gelingt, braucht es ein umfassendes und strukturelles umdenken in der Diabetestherapie und -betreuung.
Lisa Türk, BA
Periskop-Redakteurin
Diabetes mellitus ist eine der am meisten verbreiteten Erkrankungen in Österreich. Laut Österreichischer Diabetesgesellschaft (ÖDG) sind hierzulande etwa 800.000 Menschen davon betroffen. Hinzu kommen 350.000 Prädiabetikerinnen und -diabetiker.* Expertinnen und Experten gehen außerdem von einer hohen Dunkelziffer aus. Mit über 90 Prozent aller Diabetesfälle ist TYP-2-Diabetes die häufigste Form der Erkrankung. In den kommenden Jahren ist von einer steigenden Prävalenz von TYP-2-Diabetes auszugehen, was die Notwendigkeit struktureller, ressourcentechnischer aber auch perspektivischer Veränderungen in Therapie, Betreuung und Finanzierung mit sich bringt. Die konkreten dahingehenden Herausforderungen haben Expertinnen und Experten im Rahmen eines PRAEVENIRE Gipfelgesprächs auf der Schafalm in Alpbach erörtert. Der Fokus der Diskussion lag auf dem Konzept der Remission als langfristiges Ziel, um Patientinnen und Patienten mit TYP-2-Diabetes die bestmögliche Lebensqualität bieten zu können. Diskutiert wurden außerdem der hohe Stellenwert des multidisziplinären Diabetesmanagements und die Relevanz von allgemeiner Awareness-Steigerung sowie Prävention.
Umfassendes und nachhaltiges Umdenken
Zunächst gab Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Ludvik, Vorstand 1. Medizinische Abteilung Diabetologie, Endokrinologie und Nephrologie, Klinik Landstraße, Wien, einen Überblick über Brennpunktthemen und Problemfelder bei TYp-2-Diabetes. Zum einen ging er dabei auf die Korrelation von Lebensalter und Mortalität ein. „Je früher TYp-2-Diabetes auftritt, umso mehr Lebensjahre verlieren Patientinnen und Patienten im Endeffekt. Das Risiko für Komorbiditäten ist erhöht – genauso wie die Gesamtsterblichkeit“, erklärte er und verdeutlichte damit nicht nur die Bedeutung einer frühen Intervention, sondern vor allem von effektiven und bewusstseinsschaff enden Präventionsmaßnahmen.
Wir können Diabetes mellitus nicht heilen, mittels moderner Medikamente allerdings etwas dagegen unternehmen, indem wir Ereignisse wie Herzinfarkt und Schlaganfall reduzieren und die Lebensqualität der Betroffenen langfristig optimieren.
Bernhard Ludvik
Denn Spätkomplikationen führen nicht nur zu erheblichen Belastungen bei den Betroffenen und deren Familien, sondern auch zu personellen und finanziellen Herausforderungen für das System. „Österreich verzeichnet im Ländervergleich sehr hohe Krankenhausaufenthalte aufgrund von Diabetes mellitus, vor allem TYP-2 Diabetes. 33,7 Prozent der gesamten Diabetes-Kosten in Österreich entstehen durch das Therapiemanagement, 48,8 Prozent durch Spätkomplikationen. Um an diesen Stellschrauben zu drehen, braucht es ein Umdenken und tiefgreifende strukturelle Veränderungen“, betonte Ludvik.
Reizthema Remission
Grundsätzlich ist Diabetes mellitus nicht ausschließlich selbstverschuldet, sondern ist Großteils (epi-)genetisch bedingt. „Natürlich sind Lebensstilmodifikationen, wie etwa gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung und damit Gewichtsreduktion (Anmerkung: Diabetes und Übergewicht sowie Adipositas stehen in Korrelation.), präventive und therapeutische Ansatzpunkte. Es gibt aber auch Faktoren, die nicht oder nur schwer beeinflussbar sind. Wir können TYp-2-Diabetes nicht heilen bzw. ausschließlich mithilfe von Lebensstilmodifikationen bekämpfen. Wir können allerdings etwas dagegen unternehmen, indem wir Komplikationen vermeiden und die Lebensqualität der Betroffenen langfristig optimieren.“ Nun basiert die Remissionsdefinition in der Diabetologie entweder auf einer Senkung des HbA1c-Zielwertes auf 5,7 Prozent (inkl. prädiabetisches Stadium) für mindestens drei bis sechs Monate oder einer Remission mit einem glykämischen Zielwert von 6,5 Prozent. Die Debatte rund um die Begrifflichkeit der Remission sei in der Diabetologie deswegen ein „kontrovers diskutiertes Reizthema“, wie es Ludvik nannte, da Patientinnen und Patienten während dieser Phase definitionsgemäß nicht mehr behandelt werden dürften – etwas, das laut dem Experten, de facto nicht möglich ist. „TYp-2-Diabetes ist eine, Großteils genetisch bedingte, Erkrankung – und gegen die Genetik können wir nichts tun“, so auch Prim. Univ.- Prof. Dr. Martin Clodi, Präsident der ÖDG, der weiters ergänzte: „Es anhand moderner Medikamente und Lebensstilinterventionen zu schaffen, dass Betroffene ihr Gewicht langfristig reduzieren und in eine Normalisierung der Glukose kommen, ist genau das, was ich mir als Arzt für meine Patientinnen und Patienten wünsche.“
Hoffnungsschimmer neue Medikation
Laut Ludvik ist die Remissionsdebatte aktuell deshalb derart relevant, da neue Inkretin-basierte Therapien zur Behandlung von TYP-2-Diabetes in Entwicklung sind. GIP und GLP-1 sind Darmhormone (Inkretine), die Einfluss auf die Insulinausschüttung bzw. – im Falle von GIP – auf das Fettgewebe haben. „Remission und Gewichtsreduktion gehen Hand in Hand“, so Ludvik. Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Fasching, MBA, Abteilungsvorstand der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie, stellte einen Vergleich zur ebenfalls chronischen rheumatoiden Arthritis her, bei der man Patientinnen und Patienten bereits seit 15 Jahren sofort nach der Diagnose mithilfe moderner Medikamente in einen Krankheitsstatus bringt, der idealerweise keine Einschränkungen der Lebensqualität nach sich zieht. „Diese Herangehensweise wird höchstwahrscheinlich auch auf TYP-2-Diabetes überspringen. Das Ziel ist eine möglichst rasche normale Stoffwechselsituation und die Senkung des Wertes in den Normbereich. Neuere moderne Medikamente können hierbei helfen, da sie auch effektiv eine Gewichtsreduktion herbeiführen. Damit gibt man vielen Patientinnen und Patienten eine realistische Möglichkeit, in Remission zu gehen – und auch zu bleiben“, so Fasching.
Wenn wir es nicht schaffen, die Gesundheitskompetenz und Compliance der Menschen zu erhöhen, nutzt auch das innovativste Medikament nichts.
Gerald Bachinger
Notwendigkeit von Systemänderungen
„Medikamente können noch so innovativ sein – wenn wir es nicht schaffen, die Gesundheitskompetenz und Compliance der Menschen zu erhöhen, nutzt das nichts“, regte Dr. Gerald Bachinger, Patientenanwalt und Leiter NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft, an. Es brauche in Österreich massive Strukturänderungen und gesteigerte Ressourcen, um ein umfassendes Diabetes-Management – vom Kind bis zum Senior – zu ermöglichen. Das Ressourcen-Problem verortete OÄ Priv.-Doz. Dr. Johanna Brix, Präsidentin der Österreichischen Adipositas Gesellschaft (ÖAG), Klinik Landstraße, Wien, vor allem im niedergelassenen Bereich. „Zum einen ist dieser oftmals die erste Anlaufstelle für Betroffene, weshalb es hier gezielte Diabetes-Schulungen braucht. Zum anderen bedarf es einer adäquaten Refundierung zur Behandlung von Menschen mit Diabetes mellitus, sodass es im niedergelassenen Bereich attraktiv wird, sich zu spezialisieren.“ Mehr und mehr Ordinationen versuchen dies bereits – haben allerdings vor allem mit finanziellen Herausforderungen zu kämpfen. „Es ist nicht Sinn der Sache, sich die Honorare dann woanders zu holen. Der Sinn muss sein, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte Menschen mit Diabetes gemeinsam mit anderen relevanten Gesundheitsberufen betreuen und diese Arbeit am Ende des Tages so abrechnen können, dass es sich lohnt“, ergänzte Ludvik. „Diesen Systemfragen stellen wir uns bereits im Rahmen einer aktuellen Studie, in der wir versuchen, aufzuzeigen, welche berufs- und vertragsrechtlichen sowie gesetzlichen Änderungen es braucht, um den Menschen eine bestmögliche Diabetesversorgung zu bieten“, erklärte Wolfgang Panhölzl, Leiter Abteilung Sozialversicherung Arbeiterkammer Wien. „Ein wesentlicher Ansatzpunkt ist allenfalls die österreichweit flächendeckende Etablierung bzw. Ausweitung von Diabetes-Zentren“, betonte Mag. Martin Schaffenrath, MBA, MBA, MPA, Verwaltungsrat Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), und erntete die Zustimmung aller Expertinnen und Experten. Denn derartige Zentren bieten eine niederschwellige, umfassende, multimodale sowie interdisziplinäre Form der Betreuung, die gerade bei Diabetes essenziell ist.
Multiprofessionalität als Chance
Dass sich an einem erfolgreichen Diabetes-Management zahlreiche Gesundheitsberufe beteiligen müssen, unterstrich auch Mag. Gabriele Jaksch, Präsidentin des Dachverbandes der gehobenen medizinisch-technischen Dienste Österreichs: „Diabetes-Betroffene brauchen sehr viele unterschiedliche Inputs, eine Berufsgruppe alleine kann diese Aufgabe nicht abdecken. Wir brauchen die Multiprofessionalität.“ Dem schloss sich auch GGKP Peter Gressl, I. Vizepräsident des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV), an – gerade im Zusammenhang mit den bei Diabetes notwendigen Lebensstilmodifikationen und der Gewichtsreduktion. „Es ist wesentlich, auch das Lebensumfeld der Betroffenen zu analysieren und die nahen Angehörigen im Sinne von Gesundheitsförderung und Prävention in die Behandlung mit einzubeziehen.“
Mag. Barbara Fröschl, Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), ergänzte die Notwendigkeit eines „Lotsen durch das System“, einer Diabetes-Nurse. „Vor allem wenn es um frühe Formen des Diabetes geht, ist eine System-Lotsin bzw. ein System-Lotse ein wesentlicher Erfolgsfaktor im multiprofessionellen Arbeiten.“ Im internationalen Vergleich werde außerdem deutlich, dass Länder, die multiprofessionell arbeiten, niedrigere Diabetes-Spätkomplikationsraten haben.
Kostenfaktor und Rechtliches
Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Yvonne Winhofer-Stöckl, Leiterin der Diabetes-Ambulanz am AKH in Wien, kritisierte, dass innovative Therapien erst in sehr später Therapielinie erstattet werden und ergänzte weiters: „25 Prozent meiner Zeit gehen für Bewilligungen drauf. Das kann es doch nicht sein!“ Dass es entsprechende Regeln brauche, sodass Erstattung und Bewertung durch kontrollärztliche Dienste nicht mehr derart viel Zeit in Anspruch nehmen, bestätigte auch Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik, Arbeiterkammer Niederösterreich. „Als Arbeiterkammer achten wir darauf, unsere Mitglieder und auch die Sozialversicherung hier bestmöglich zu unterstützen, um Verbesserungen für alle Beteiligten zu erreichen“, betonte er. DI Harald Führer, Präsident von „Wir sind Diabetes – Dachorganisation der Diabetes Selbsthilfe Österreich“, ergänzte: „Das Wichtigste ist, eine Möglichkeit zu finden, die Politik und Sozialversicherungsträger davon zu überzeugen, dass es langfristig effektiv ist, in die Diabetes-Prävention zu investieren.“ Dass dies auch volkswirtschaftlich sinnvoll sei, erläuterte Dr. Alexander Biach, Standortanwalt und Direktorstellvertreter der Wirtschaftskammer Wien. „Im Vergleich mit Großbritannien ist Österreich in puncto Diabetes- bzw. Adipositas-Prävention und früher Intervention hinten nach. Die kürzlich eingeführte flächendeckende Bestimmung des HBA1c-Wertes ist zwar sicher ein Schritt in die richtige Richtung, grundsätzlich ist in Österreich hier allerdings noch Luft nach oben.“
Diabetes-Betroffene brauchen sehr viele unterschiedliche Inputs, eine Berufsgruppe alleine kann diese Aufgabe nicht abdecken. Wir brauchen Multiprofessionalität.
Gabriele Jaksch
„Prävention und Remission“
Den Stellenwert der Prävention und frühen Intervention betonte auch Angelika Widhalm, Vorsitzende Bundesverband Selbsthilfe Österreich. „Wir brauchen eine Revolution im gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Denken, damit die Menschen endlich verstehen, dass sie ihre Gesundheit selbst in der Hand haben. Es braucht Prävention und für bereits erkrankte Menschen eine frühzeitige Intervention“, appellierte sie. Den Bogen zur Remission spannte schließlich Ludvik: „Remission und Prävention drehen sich im Kreis. Denn Prävention ist immer die Voraussetzung für eine erfolgreiche Remission. Lassen Sie uns die Ziele neu definieren, verschließen wir nicht die Augen vor der Evidenz, wehren wir uns nicht gegen die Verschreibbarkeit neuer Medikamente. Handeln wir, setzen wir gemeinsam frühzeitig an, um am Ende des Tages nicht nur Kosten zu senken, sondern vor allem Leid zu ersparen.“
*Jahrbuch für Gesundheitspolitik und Gesundheitswirtschaft in Österreich 2021
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