Österreichs Bevölkerung altert, aber nicht bei gleich guter Gesundheit wie in vergleichbaren europäischen Ländern. Expertinnen und Experten fordern daher eine gelebte und auch belohnte Primärprävention mithilfe eines „Sammelpasses“. | von Mag. Renate Haiden, MSc.
Die gesunde Lebenserwartung bildet ab, wie viele Jahre ein Mensch in einem gewissen Alter noch in guter Gesundheit verbringen wird. Entscheidend ist also nicht, wie lange man lebt, sondern auch wie viel Zeit davon man noch gesund und möglichst selbstbestimmt verbringen kann. Während Frauen in Österreich und Schweden eine gleich hohe Lebenserwartung von 84 Jahren haben, sind Österreicherinnen im Schnitt nur bis zum 57. Lebensjahr gesund. Schwedinnen hingegen erfreuen sich durchschnittlich bis ins Alter von 72 Jahren bester Gesundheit. Das bedeutet 15 Jahre mehr, die hierzulande mit Schmerzen, Leid, Spitals- oder Pflegeheimaufenthalten sowie einem Verlust der sozialen Teilhabe, Isolation, Depression, Morbidität und Mortalität verbunden ist.
Determinanten eines gesunden Lebensstils
„Auf Grund dieser Entwicklung wäre es naheliegend, mehr in Prävention zu investieren, denn wir haben in Österreich hohe Gesundheitskosten. Zudem liegt der Pflegeanteil ab 65 Jahren bereits bei 23 Prozent. In Skandinavien sind es bei gleichen Gesundheitsausgaben wie in Österreich nur 8 Prozent. Es liegt also nahe, dieser Differenz auf den Grund zu gehen und sie auszugleichen“, sagt Mag. Barbara Fisa, Geschäftsführerin „The Healthy Choice”, im Rahmen der PRAEVENIRE Talks in Alpbach. Der größte Hebel liegt dabei bei den Lebensstilfaktoren, die zu 40 Prozent dafür verantwortlich sind, ob wir krank werden. Nur zu 30 Prozent sind die Gene ausschlaggebend, 15 Prozent sind soziale Faktoren, 10 Prozent die medizinische Versorgung und 5 Prozent die Umwelt. „Bewegung, Ernährung und psychische Gesundheit wären einfach umzusetzen“, bringt es Fisa auf den Punkt.
„Man muss nicht Spitzensport betreiben. Bei Bewegung geht es um das Erhalten einfacher Aktivitäten, wie ohne fremde Hilfe auf die Toilette zu gehen, die Schuhe zu binden oder innerhalb einer Ampelphase die Straße zu überqueren“, bringt Fisa plakative Beispiele. Wie viel Bewegung „ausreichend“ ist, findet sich etwa in den österreichischen Bewegungsempfehlungen. Studien belegen, dass schon 20 Minuten pro Tag reichen würden, um die Mortalität zu senken, 150 Minuten pro Woche wären – je nach Zielgruppe – ein idealer Basiswert.
Motivation zu mehr Bewegung
„Wenn man das Aktivitätsniveau um 20 Prozent heben könnte, würden rund 30 Prozent der Bevölkerung den Bewegungsempfehlungen entsprechen. Das würde zu Einsparungen von Gesundheitskosten in der Höhe von 157 Mio. Euro führen. Zieht man den Mehraufwand von 85 Mio. ab, der dann durch Sportverletzungen entsteht, könnten unter dem Strich immer noch 72 Mio. gespart werden“, rechnet Fisa vor.
Dass Bewegung vielfältige positive Auswirkungen auf die Gesundheit hätte, steht außer Frage, doch fehlt es bei den meisten Menschen an der Motivation. „In der Tradition des Mutter-Kind-Passes soll ein sogenannter ‚Best-Agers-Bonuspass’ die Menschen vor dem Pensionsantritt auffangen und ein möglichst langes, selbstständiges und selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen. Lebenserwartung soll zu Healthy Life Years werden“, beschreibt Fisa dazu ihre Präventionsidee.
Sammeln für die Gesundheit: der Best-Agers-Bonuspass
Ab dem 50. Lebensjahr sollen Bürgerinnen und Bürger eine Einladung zu einer Gesundenuntersuchung erhalten, die jedoch gezielt um Parameter rund um Ernährung, Bewegung und mentale Gesundheit erweitert wird.
Ein interdisziplinäres Team soll für ein Erst-Assessment diesen Status quo erfassen, persönliche Ziele vereinbaren und im Alltag begleiten. Ergänzt wird der persönliche Coach durch digitale Technologien, wie Wearables oder digitale Sprechstunden. Wichtig ist es, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen: „Es hat keinen Sinn, in puncto Ernährung oder Bewegung Vorgaben zu machen, die keiner einhalten kann und will. Die Maßnahmen müssen auch Spaß machen“, wünscht sich Fisa.
Fisa und ihr Team sind überzeugt, dass das Sammelpass-System funktioniert: „Der Best-Agers-Bonuspass baut auf einen verhältnispräventiven Zugang in Form von niedrigschwelliger Betreuung in Primärversorgungseinheiten oder Pflegekompetenzzentren. Gleichzeitig zielt ein verhaltenspräventiver Ansatz auf die Beeinflussung der Lebensstilfaktoren und den Einsatz unterschiedlichster motivationaler Konzepte wie Nudging oder Gamification ab. So entsteht ein volkswirtschaftlicher Nutzen durch eine Senkung der Krankheits- und Pflegekosten, aber auch ein individueller Nutzen durch die Erhaltung der Selbstständigkeit und der sozialen Teilhabe an der Gesellschaft. Die Nivellierung der Health Inequalities führen zum gesellschaftspolitischen Nutzen.“ Mit Ärztinnen und Ärzten sowie weiteren Gesundheitsdienstleistern soll nun in einem ersten Schritt festgelegt werden, welche Gesundheitsparameter erhoben werden müssen und welche Interventionen als sinnvoll erachtet werden.
Für eine Evaluierung spricht sich auch Prof. Dr. Reinhard Riedl, Digital Health Expert und Vorstandsmitglied von PRAEVENIRE, aus: „Nur so können wir lernen, was wirkt und wie wir die Bedürfnisse am besten treffen. Dazu ist es auch notwendig, die Daten der Teilnehmenden zu nutzen. Das ist eine große Chance, mehr über Erfolgsfaktoren von Prävention zu lernen.“ Fest steht aber auch, dass Österreich ein Meister in der Politisierung von Projekten ist, aber wenig davon in den Regelbetrieb übernommen werden.
Prävention hat keine Tradition
„Eine erfolgreiche Pflegereform kann nur dort beginnen, wo wir Menschen davor bewahren, überhaupt Pflegefälle zu werden. Dass es geht, zeigen skandinavische Länder, wie z. B. Schweden, die im System bereits sehr früh zu gesundem Verhalten motivieren“, betont Dr. Alexander Biach, Direktor-Stellvertreter der Wirtschaftskammer Wien und Standortanwalt der Stadt Wien. Auch er ist überzeugt, dass in Österreich ein Sammelpass-Tool eine große Hebelwirkung hätte. Wie wichtig und erfolgreich das Belohnungssystem sein kann, bringt er anhand von Beispielen: „Die Reduktion des Selbstbehaltes bei der Sozialversicherung der Selbstständigen und die Koppelung von Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen an das Kinderbetreuungsgeld zeigen deutlich, dass die Bevölkerung über finanzielle Anreize zu motivieren ist.“
Dr. Arno Melitopulos, Leiter Versorgungsmanagement 3 der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), betont, dass aktuell bereits viele Angebote vorliegen würden, aber nicht in Anspruch genommen werden: „Am einfachsten erreicht man Menschen am Arbeitsplatz. Wir sollten dort noch einmal die bestehenden Angebote analysieren und neue Vorschläge für passende Vertriebswege erarbeiten.“ Aktuell wird das Konzept der Vorsorgeuntersuchung überarbeitet, um die Erreichbarkeit der Bevölkerung zu erhöhen. „Wir werden Synergien mitdenken. Der Best-Agers-Pass kommt zu einem guten Zeitpunkt und die individuelle Betreuung der Menschen ist ein Novum, das wir bisher so nicht integriert hatten“, sagt Melitopulos.
Dass Prävention dennoch keine Tradition in Österreich hat, weiß auch Dr. Andreas Stippler, Präsidialkonsulent der Ärztekammer für Niederösterreich.
Auch er fordert, dass Aktivität belohnt werden müsse, jedoch dafür vor allem die nicht-ärztlichen Berufsgruppen ins Boot geholt werden müssen: „Ärztinnen und Ärzte haben den Fokus nicht auf Prävention. Ihre Zeit ist begrenzt und dort auf die Behandlung von meist akuten Erkrankungen fokussiert. Daher ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit essenziell.“
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