Prävention und Harm Reduction waren das Thema eines Gipfelgesprächs im Stift Seitenstetten, im Vorfeld der 7. PRAEVENIRE Gesundheitstage. Anlass war die Seitenstettener Petition zu Harm Reduction und Risikominderung, mit der der Verein eine patientenorientierte, evidenzbasierte und zukunftsweisende Gestaltung gesundheitspolitischer Prozesse und Strukturen unterstützen möchte. | von Mag. Ulrike Krestel
Was bisher geschah: Im Frühjahr 2021 formiert sich im Rahmen der 6. PRAEVENIRE Gesundheitstage in Seitenstetten eine Expertenrunde, um Harm Reduction und Risikominderung als mögliche Maßnahmen für eine verbesserte Gesundheitsversorgung zu diskutieren – zumindest dann, wenn Prävention zu spät kommt und eine komplette Lebensstilländerung unmöglich erscheint. Diesem Wissensaustausch sollen vertiefende PRAEVENIRE Gipfelgespräche im Umfeld des Forum Alpbach sowie des European Health Forum Gastein folgen, bis schließlich ein Jahr später das Resultat auf dem Tisch liegt: die Seitenstettener Petition zu Harm Reduction und Risikominderung. Präsentiert wurde diese im Mai 2022, wieder in Seitenstetten, wieder im Rahmen eines Gipfelgesprächs mit hochkarätigen Experten und Expertinnen aus unterschiedlichen Bereichen und Fachrichtungen. Diesmal mit dem Ziel, möglichst viele Teilnehmer als Unterstützer zu gewinnen. Zu Redaktionsschluss hatten bereits 25 Personen die Petition unterschrieben.
Die Stimmen der Experten
Dr. Alexander Biach, stv. Direktor der Wirtschaftskammer Wien, startete mit einem Rechenbeispiel in die erste Runde, wobei er die wirtschaftlichen Konsequenzen von Adipositas und Übergewicht erläuterte. Die Kosten, die sich für die Wirtschaft niederschlagen, seien, so Biach, eine schwere Last, die von der Allgemeinheit getragen werden müsste, und die letzten Endes im medizinischen Bereich, wo Forschung und Entwicklung notwendig wären, fehlten. Das wären:
erhöhte Kosten durch medizinischen Mehraufwand.
erhöhte Kosten im Arbeitsalltag, was sich in vermehrten Krankenstandtagen niederschlägt, sowie.
erhöhte Kosten im Pflegebereich: 36,5 Prozent der Pflegegeldbezieher konnten laut Studie auf drei Erkrankungsarten, die aus Übergewicht resultieren, zurückgeführt werden.
Biach legt ein klares Bekenntnis zur Petition ab, auch wenn er die Prävention von gesundheitsschädlichen Faktoren in frühen Jahren als wichtigstes Ziel nennt. Zustimmung zu Biachs Statement gibt es von Dr. Marlies Gruber, Geschäftsführerin des Vereins forum.ernährung heute, sowie von Ao. Univ.-Prof. Dr. Richard Crevenna, Leiter der Universitätsklinik für Physikalische Medizin, Rehabilitation und Arbeitsmedizin an der MedUni Wien.
Für Gruber bedeutet Risiko- und Schadensminimierung, Bewusstsein zu schaffen und Wissen zu vermitteln – und zwar schon von Kindheit an. Wichtig sei es, den Menschen für einen selbstverantwortlichen gesunden und nachhaltigen Lebensstil das richtige Handwerkszeug zu geben. „Dann hat jeder ein für sich entsprechendes Tool zur Verfügung, und das ist ein Beitrag, der mich zumindest motiviert, im Sinne von Harm Reduction und Risikominderung zu denken“, so die Expertin. „Wer im Kindes- und Jugendalter in Bewegung kommt und bleibt, beugt den wesentlichen Erkrankungen wie orthopädischen, kardiovaskulären, onkologischen sowie metabolischen vor“, bestätigt Crevenna den präventiven Ansatz seiner Vorredner und spricht darüber hinaus von „Harm Reduction des Verhaltens“. Schließlich habe ein Mann, der sein Bewegungsverhalten ändert und mit 50 Jahren beginnt, regelmäßig Bewegung zu machen, ein um 25 Prozent (Frauen: 35 Prozent) geringeres kardiovaskuläres Risiko und damit eine geringere Mortalität.
Harm Reduction als Alternative zu Risikominderung
In dieselbe Kerbe schlägt Allgemeinmedizinerin Dr. Reingard Glehr, wenn auch sie Prävention als wichtigste Maßnahme für Risikominderung ansieht. Wesentlich sei ihr, dass in der Petition die Begrifflichkeiten Prävention und Harm Reduction auseinanderdividiert wurden. Letztere sei eine wichtige Maßnahme zu Morbiditäts- und Mortalitätssenkung, nämlich wenn Prävention nicht angeschlagen hat. „Hier ist es wichtig, Vertreter von Gesundheitsberufen auf diese Alternative aufmerksam zu machen, um Patienten mitzugeben, dass man noch einiges zur Risikominimierung beitragen kann, auch wenn schon viel aufgebaut wurde.“
Wie Glehr trägt auch Prim. Dr. Martin Barth, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Pyhrn-Eisenwurzen Klinikum Steyr, die Petition inhaltlich mit. Wichtig sei die Erkenntnis, dass bei manchen Menschen kein abstinentes Verhalten möglich ist, insofern sei Harm Reduction eine alternative Maßnahme zur Risikominderung. Sportwissenschaftlerin Mag. Susanne Siokola-Tomandl betont die Ausrichtung der Petition einerseits auf Evidenz-Basis, andererseits, dass der Fokus weg von der Reparaturmedizin hin zum Erhalt der Gesundheit gehe. „Vorbeugen ist schließlich sinnvoller, einfacher und kostengünstiger, als nachher zu reparieren“, so die Expertin, die Harm Reduction als zwischengeschaltetes Tool sieht: „Die Ursachen, warum ein Mensch ungesund isst, sind oft in der Psyche verortet.“ Hier anzusetzen, ist sehr komplex, „aber wenn man dazwischen ein Tool wie etwa Harm Reduction schalten kann und Belastung verringert, dann ist das ein Schritt in die richtige Richtung“.
Eine wesentliche Rolle zur Risikoreduktion spielt Harm Reduction beim Thema Rauchen. Dr. Ernest Gromann, wissenschaftlicher Leiter des Nikotininstituts, zeigt sich erfreut, dass diese Maßnahme hinsichtlich des Tabakkonsum in die Diskussion wieder aufgenommen wurde. „Jeder zweite Raucher geht am Rauchen zugrunde. Und wenn es Produkte gibt, die weniger gefährlich sind, dann muss man sie den Leuten zugänglich machen.“ Klare Worte findet auch Univ.-Prof. Prim. Dr. Wolfgang Popp, Lungenfacharzt an der Privatklinik Döbling. Natürlich sei Nichtrauchen das beste Szenario, aber es sei eine Illusion zu glauben, dass wir, so wie die EU meint, bis 2030 rauchfrei sind. Und hier sei, so Popp, Harm Reduction der pragmatische und auch humanistische Ansatz für Leute, die weiter Genuss- oder Suchtmittel konsumieren: „Die Vorstellung, dass alle Menschen gesund leben, ist eine Illusion, also bitte etwas mehr Toleranz, etwas mehr Pragmatismus.“
Und Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Michael Rode, österreichischer Chemiker und Universitätsprofessor an der Universität Innsbruck, ergänzt: „Selbst wenn Harm Reduction nicht das Beste ist, was man tun kann, ist es immer noch um Größenordnungen besser als wie gehabt weiter zu machen.“ Dr. Hans Haltmayer, Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für arzneimittelgestützte Behandlung von Suchtkrankheit (ÖGABS), schwenkt bei seinem Statement Richtung (illegalem) Drogenkonsum. Grundsätzlich bevorzugt er in diesem Zusammenhang den Terminus Risk Reduction. Dieser sei sehr klar und gut nachvollziehbar und mit einzelnen Maßnahmen sehr gut darstellbar. Es gebe keine vernünftige Drogenpolitik, die ohne Harm/Risk Reduction als einem der Pfeiler auskommt. Sinnvolle Maßnahmen in der Drogenpolitik wären demnach „Therapie statt Strafe“, Housing first – also Einrichtung von Notschlafstellen, Spritzenaustauschprogramme oder aber Drug Checking. Nichtdestotrotz warnt Haltmayer vor einer Ideologisierung der Diskussion. Wichtig sei, rational zu bleiben und Evidenz zu generieren, weil man nicht wisse, wie sich die alternativen Produkte auf lange Zeit auswirken. Gleichzeitig heißt es, pragmatisch zu bleiben. „Hätten wir beim Spritzenaustauschprogramm auf doppelblinde kontrollierte Studien gewartet, hätte sich die AIDS-Epidemie rasant ausgebreitet.“
Dass Harm Reduction aus Sicht der Zahnmedizin ein wesentlicher Faktor für Schadensminimierung ist, erläutert Prof. Dr. Dirk Ziebolz, Geschäftsführender Oberarzt am Universitätsklinikum Leipzig. So seien Karies und Parodontitis die weltweit am häufigsten auftretenden Erkrankungen, die überwiegend restaurativ kontrolliert werden. Beide Erkrankungen haben multifaktoriellen Charakter, wobei das Verhalten der Patienten maßgeblichen Einfluss nimmt. Das betreffe nicht nur Zähneputzen, sondern auch Risiken wie Rauchen und Ernährung. Harm Reduction sei hier ein fundamentaler Baustein zur Schadensminimierung. Gleichzeitig gelte es, sekundäre Effekte, nämlich Erkrankungszustände wie Adipositas oder Diabetes – wiederum ein Hochrisikofaktor für Karies oder Parodontitis – in den Griff zu bekommen. Mag. Martin Schaffenrath, Verwaltungsrat der ÖGK, sieht in Harm Reduction einen Ansatz, um Menschen für Verhaltensänderungen zu sensibilisieren, wenn auch Prävention oberstes Gebot sein sollte. „Als Gesundheitskasse müssen wir schauen, dass wir in die Prävention gehen und die Menschen aufklären.“ Dennoch käme man mit Geboten oder Verboten in Österreich nicht weit. „Hört‘s auf“ kann man nicht auf Knopfdruck sagen. Aber es ist der richtige Ansatz, die Leute darauf hinzuweisen, dass gewisse Substanzen schädlich sind. „Und wenn Harm Reduction ein Weg ist, die Menschen in die richtige Richtung zu sensibilisieren, dann können wir seitens der Österreichischen Sozialversicherung den Ansatz unterstützen.“ Als Bindeglied zwischen Evidence-based Medicine und der gelebten Umsetzung im Alltag sieht Mag. Georg Jillich den Österreichischen Kneippbund. Der Präsident der 30.000 Mitglieder umfassenden Gesundheitsorganisation, die nach einem biosozialen Gesundheitsmodell arbeitet, war von der ersten Stunde mit an Bord und betont, wie wichtig es sei, dass Präventionsarbeit und Gesundheitsbildung von Kindheit an in der Petition berücksichtigt werden. Als Verein könne man wissenschaftliche, evidenzbasierte Inhalte in Best-Practice-Modelle übersetzen und die Botschaften an die Mitglieder bringen, die wiederum als Multiplikatoren fungieren. So geht es weiter: Welche Impulse man setzen könnte und wie man in die praktische Umsetzbarkeit gehen könnte, diskutierten die Experten im zweiten Block des Gipfelgesprächs. Neben konkreten Vorschlägen wie Symposien zur Harm Reduction gab es folgenden Konsens:
Prävention als Primärziel
Prävention ist das übergeordnete Thema, das alle Experten als Primärziel zur Risikovermeidung definieren. Dabei gilt es, Gesundheitskompetenz schon im Kindesalter zu erlernen und später im sowohl im Arztberuf als auch in nicht ärztlichen Berufen fortlaufend zu schärfen.
Harm Reduction salonfähig machen
Ähnlich verhält es sich beim Thema Harm bzw. Risk Reduction, wobei grundsätzlich erst einmal Kenntnislücken innerhalb aller Health Care Professionals geschlossen werden sollten.
Gesellschaftlichen Wandel anstoßen
Stigmatisierung gegenüber Rauchern, Drogenkonsumenten, aber auch adipösen Personen sollte Einhalt geboten werden.
Mindset schärfen
Wenn auch Marketing in Bezug auf Prävention schwierig ist, da man Werbung dafür macht, dass Ereignisse in der Zukunft nicht passieren sollten, ist es dennoch wichtig, durch entsprechende, wenn auch aufwendige Marketingmaßnahmen das Mindset in Hinblick auf Gesundheit und Prävention zu schärfen.
Finanzierung erforderlich
Um Harm Reduction gerade in der Primärversorgung ankommen zu lassen, braucht es flächendeckend finanzielle Mittel. Das betrifft alle Bereiche, unter anderem die Sozialarbeit ebenso wie Psychotherapie oder Ernährungsberatung. Hier sind Gesetzgeber und politische Entscheidungsträger gefragt. Zusammengefasst existiert eine enorme Bandbreite, um die Themen Prävention und Risikominimierung in den Köpfen der Gesellschaft zu verankern. Wie hier der Schritt von der Theorie in die Praxis gelingen kann, soll im Rahmen der nächsten Veranstaltungen diskutiert werden. Fortsetzung folgt …
Die Seitenstettener Petition zu Harm Reduction und Risikominderung
Die Petition ist der Versuch von PRAEVENIRE, das Potenzial der Ansätze von Harm Reduction und Risikominderung im Sinne der Menschen in Österreich stärker nutzbar zu machen und damit einen Beitrag zu einer Verbesserung von Gesundheitsoutcomes in unserem Versorgungssystem zu leisten, jedoch immer auf dem Boden der Evidenz. Unverändert bleibt damit die Überzeugung von PRAEVENIRE, dass die Prävention von Lebensstilrisiken und Suchtverhalten das Primärziel sei. Harm Reduction und Risikominderung sollen dennoch einen Beitrag dort leisten können, wo Prävention zu spät kommt und Lebensstiländerung aufgrund individueller Gründe vielleicht nicht erfolgreich ist. Der Fokus der Petition liegt auf den Bereichen Ernährung, Bewegung, Alkohol, Rauchen und illegale Drogen, die hauptsächlich vor dem Hintergrund der Onkologie, Orthopädie, kardiovaskulären Erkrankungen und der Zahngesundheit diskutiert wurden.
Die Petition finden Sie unter diesem Link.
1 Martin Andreas
2 Gerald Bachinger
3 Martin Barth
4 Alexander Biach
5 Nikolaus Böhler
6 Manfred Brunner
7 Catherina Chiari
8 Richard Crevenna
9 Barbara Fisa
10 Reingard Glehr
11 Michael Gnant
12 Ernest Groman
13 Marlies Gruber
14 Margit Halbfurter
15 Hans Haltmayer
16 Georg Jillich
17 Thomas Marschal
18 Nina Mittendorfer
19 Ulrike Mursch-Edlmayr
20 Wolfgang Popp
21 Erwin Rebhandl
22 Michael Rode
23 Martin Schaffenrath
24 Susanne Siokola-Tomandl
25 Dirk Ziebol