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Onkologische Versorgung im Wandel

© Peter Provaznik

Onkologische Versorgung im Wandel

© Peter Provaznik

Dank des medizinischen Fortschritts verbessert sich der Behandlungserfolg bei der Diagnose Krebs und die Über­lebenschancen sowie Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, steigen. Doch vor welchen Heraus­forderungen steht das Gesundheitssystem durch neue Krebstherapien und wie kann die Effektivität neuer Medikamente beurteilt werden? Beim 12. Regionalen praevenire Gipfelgespräch im Servitenviertel reflektierte Mitte November eine hochkarätige Expertenrunde die onkologische Versorgung am Beispiel der Stadt Wien.| Von Mag. Petra Hafner

Matthias Preusser, Felix Keil, Hannes Kaufmann, Thomas Czypionka, Michael Binder, Otto Rafetseder, Christoph Zielinski | © Peter Provaznik

Onkologische Erkrankungen sind in entwickelten Ländern die zweithäufigste Todesursache. In Österreich steigen aufgrund der demographischen Entwicklung sowohl die Krebsprävalenz (Anzahl der Krebspatientinnen und -patienten) als auch die Krebsinzidenz (Neuerkrankungen) an. Laut Statistik Austria gibt es in Österreich jährlich rund 40.000 Neuerkrankungen, die Zahl der an Krebs erkrankten Menschen ist von rund 200.000 im Jahr 2000 auf rund 350.000 im Jahr 2016 gestiegen.

Es ist eine ethische Ver­pflichtung, neue innovative Medikamente möglichst rasch an die Patientinnen und Patienten zu bringen.

Ausschlaggebend für den starken Anstieg ist neben der demographischen Entwicklung, die aus dem stetig wachsenden Anteil der älteren Bevölkerung resultiert, auch das — dank verbesserter Therapien — längere Überleben der Patientinnen und Patienten. Für das österreichische Gesundheitssystem stellt die Kombination dieser beiden Entwicklungen eine Heraus­forderung dar und bringt ein komplexes Spannungsfeld aus ethischen, wissenschaftlichen und finanziellen Fragen. Beim 12. Regionalen PRAEVENIRE Gipfelgespräch im Servitenviertel standen genau diese Fragestellungen im Mittelpunkt einer hochkarätigen Runde mit ausgewiesenen Onkologie-Experten.

Mantelregister ermöglicht Dokumentation und Erhebung von Langzeitdaten

Für den Medizinischen Direktor des Wiener Krankenanstaltenverbunds (KAV), Dr. Michael Binder, ist es „eine ethische Verpflichtung, neue innovative Medikamente möglichst rasch an die Patientinnen und Patienten zu bringen“. Der versprochene Wert von Medikamenten müsse auch den Tatsachen entsprechen, wobei oft Langzeitdaten fehlen würden, unterstrich Binder. Er plädierte dafür, den Einsatz von teils teuren, innovativen Onkologie-Medikamenten zu dokumentieren, wodurch sich auch Langzeitdaten gewinnen ließen. Anhand eines österreichweit einheitlich organisierten sogenannten Mantelregisters könnte durch das österreichweite Erfassen innovativer Medikamente erstmals auch deren ganzheitlicher Nutzen bewertet werden.

Unter den anwesenden Expertinnen und Experten herrschte Konsens darüber, dass man anhand qualitativer Kriterien bewerten müsse, wie effektiv die verschiedenen Medikamente tatsächlich seien. Auch war man sich einig, dass es bei innovativen Therapien, die zumeist sehr teuer sind, nicht um eine simple Kosten­rechnung gehe, sondern die Effizienz der Medikamente im Vordergrund stehe.

Derzeit gebe es bezüglich Langzeit- und Gesamtnutzen der neuen Medikamente kaum aussagekräftige Daten außerhalb klinischer Studien. Prim. Univ.-Prof. Dr. Felix Keil, Vorstand der 3. Medizinischen Abteilung des Hanusch-Krankenhauses, sprach die Toxizität von Medikamenten an. Im klinischen Alltag würden nach Zulassung neuer Medikamente häufiger mehr oder auch noch nicht beschriebene Nebenwirkungen auftreten. Außerdem würde die in Studien beschriebene Wirksamkeit gelegentlich von publizierten Studiendaten abweichen, so Keil. Seiner Ansicht nach könnten ein höheres Alter und Komorbiditäten der betreuten Patientinnen und Patienten dafür verantwortlich sein. Der Onkologe führt dies darauf zurück, „dass in Studien zumeist nur compliante Patientinnen und Patienten ohne schwere Begleiterkrankungen aufgenommen werden und der Beobachtungszeitraum limitiert ist“. Auch der Vorstand der 3. Medizinischen Abteilung — Zentrum für Onkologie und Hämatologie des Wiener Sozialmedizinischen Zentrums Süd, Prim. Doz. Dr. Hannes Kaufmann, beanstandete, „dass ein großer Teil der Patientinnen und Patienten, die wir behandeln, nicht denen entsprechen, die in Studien getestet werden. Unsere Patientinnen und Patienten haben oft andere zusätzliche gesundheitliche Probleme, weshalb die Studien­ergebnisse nicht einfach analog für sie über­nommen werden können.“

Mit einem österreichweit einheitlich organisierten Mantel­register könnte durch das österreichweite Erfassen innovativer Medikamente erstmals auch deren ganzheitlicher Nutzen bewertet werden.

Einen weiteren Aspekt im Hinblick auf die Einführung eines Mantelregisters brachte Univ.-Prof. Dr. Matthias Preusser, Leiter der Klinischen Abteilung für Onkologie an der MedUni/AKH Wien, in die Gesprächsrunde ein. Welche Konsequenzen sollten aus den Erkenntnissen der durch ein Register gewonnenen Daten gezogen werden, zumal es sich beim Einsatz der Medikamente um eine nach internationalen Richtlinien empfohlene Therapie handelt? Dass die Medikamente grundsätzlich nicht infrage gestellt werden sollen, sondern durch das Erfassen mittels eines Registers Nebenwirkungen und Gegenanzeigen abseits der klinischen Studien genauer dokumentiert und damit die für eine Therapie geeigneten Patientinnen und Patienten besser identifiziert werden können, steht für die beim Regionalen PRAEVENIRE Gipfelgespräch teilnehmenden Mediziner fest.

Durch eine verbesserte Versorgung überleben die Menschen zunehmend mit Krebs und können am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

Determinanten der gesellschaftlichen Nutzen-Bewertung

„Durch eine verbesserte Versorgung überleben die Menschen zunehmend mit Krebs und können am gesellschaftlichen Leben teilnehmen“, betonte der Gesundheitsökonom Dr. Thomas Czypionka, Leiter des Bereichs Gesundheits­ökonomie und Gesundheitspolitik am IHS, der im Auftrag der PRAEVENIRE Initiative Gesundheit 2030 die Studie „Onkologische Versorgung im Wandel: Determinanten der gesellschaftlichen Bewertung“ erstellte. Czypionka wies darauf hin, dass sich zahlreiche Faktoren wie Demographie, Wirtschaftsentwicklung, technologische Entwicklungen aber auch die gesellschaftlichen Einstellungen ändern und eine Neubewertung erfordern würden. Den steigenden Gesamtausgaben stehen sowohl eine gesteigerte Lebenszeit und Lebensqualität als auch eine Kosteneinsparung beispielsweise durch weniger Krankenstandstage gegenüber. Mittlerweile beträgt die 5-Jahres-Überlebensrate bei Frauen 63Prozent, bei Männern 59 Prozent. 

Im Vergleich dazu lag sie in den Jahren 1989 bis 1993 bei 55 Prozent (Frauen) und 46 Prozent (Männer). Wird der Altersaspekt berücksichtigt, so zeigt sich, dass die 5-Jahres-Überlebens­rate  in den Jahren 2009 bis 2013 für unter 45-Jährige bei rund 84 Prozent lag, bei den 45- bis 59-Jährigen bei 69 Prozent. „Dieser deutliche Aufwärtstrend wirft auch für die Arbeitsmarktpolitik neue Fragen auf, wenn es darum geht, Menschen mit Krebs einen Wiedereinstieg in das Erwerbsleben zu ermöglichen“, so der Gesundheitsökonom. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph Zielinski, Wissenschaftlicher Leiter des Vienna Cancer Centers, wies in dem Zusammenhang darauf hin, „dass etwa die Hälfte der Patientinnen und Patienten in der onkologischen Tagesklinik des AKH im Berufsleben steht“. Wie sehr Menschen in den Arbeitsprozess integriert werden, ist nur mit Langzeitdaten messbar. Kaufmann sieht dabei in einem Register einen weiteren positiven Effekt. Um eine ganzheitliche Bewertung des Nutzens neuer Medikamente zu ermöglichen, sollte neben den medizinischen Daten auch die Berufstätigkeit dokumentiert sein. Es sei sowohl für die betroffenen Menschen als auch für ein solidarisches Gesundheitssystem enorm wichtig, dass sie in den Arbeitsprozess zurückkehren und ihr Leben sinnvoll weitergeht.

Von der Industrie gibt es Unterstützung für ein Register, da mit den Daten der Wert einer Therapie dokumentiert wird.

Mit Prävention und Health Literacy Bewusstsein stärken

Wie viel Geld für die Gesundheitsversorgung ausgegeben wird, ist eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses, unterstrich Dr. Otto Rafetseder, Koordinator Zielsteuerung Gesundheit, Magistratsabteilung 24 — Strategische Gesundheitsversorgung der Stadt Wien. Dass in Österreich der Fokus oft auf Früherkennung anstatt Prävention gelegt wird, wurde einhellig kritisiert. Mit Prävention und Verhaltensveränderungen könne viel bewirkt werden und das sei noch wertvoller als Früh­erkennung. Auch Health Literacy, also das Wissen um medizinische Zusammenhänge, sei durchaus interventionsfähig. Patientinnen und Patienten seien am empfänglichsten, wenn sie „vulnerabel“ sind. „Solche Begleitfunktionen werden zu wenig eingesetzt, die Ärztinnen und Ärzte konzentrieren sich auf Interventionen wie die Gabe von Medikamenten“, so Rafetseder.

Etwa die Hälfte der Patien­t­innen und Patienten in der onkologischen Tagesklinik des AKH steht im Berufsleben.

Aufbau von österreichweitem Mantelregister

 © Peter Provaznik

Mag. Sigrid Haslinger, Director Market Access & Commercial Operations von MSD, signalisierte seitens der Industrie Zustimmung für ein Register. „Mit den Daten wird der Wert einer Therapie dokumentiert“, so Haslinger. Auch würde damit ein Ansatz für eine ganzheitliche Diskussion geschaffen. Österreich könne sich an funktionierenden Registern in den skandinavischen Ländern ein Beispiel nehmen. „Je einfacher die Struktur des Mantelregisters ist, umso höher wird der Erfolg sein“, so Binder. Davor gilt es, die Politik von den Vorteilen eines Mantelregisters zu überzeugen, denn für ein österreichweit einheitliches Register braucht es eine entsprechende Verordnung und Bedenken bezüglich der Verarbeitung gesundheitsrelevanter Daten müssen entkräftet werden. Der Gesundheitsökonom Czypionka sieht unter Beachtung der Datenschutzrichtlinien den Datenschutz bei einem Mantelregister voll gewahrt. Bezüglich der Kosten eines Registers schlug Binder vor, diese in die Medikamentenkosten einzurechnen, denn angesichts der infrage kommenden Medikamente werde es sich um keinen wesentlichen Anteil handeln. Dass ein Mantelregister binnen kurzer Zeit einen Nutzen bringt, um die Effektivität neuer Onkologie-Medikamente und Krebstherapien zu beurteilen, davon waren die Experten überzeugt.

Teilnehmende

  • Dr. Michael Binder
    Medizinischer Direktor des Wiener Kranken­anstaltenverbunds (KAV)

  • Dr. Thomas Czypionka
    Leiter des Bereichs Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik am IHS

  • Mag. Sigrid Haslinger
    Director Market Access & Commercial Operations, MSD

  • Prim. Doz. Dr. Hannes Kaufmann
    Abteilungsvorstand der 3. Medizinischen Abteilung — Zentrum für Onkologie und Hämatologie des Sozialmedizinischen Zentrums Süd, Wien

  • Prim. Univ.-Prof. Dr. Felix Keil
    Abteilungsvorstand der 3. Medizinischen Abteilung des Hanusch-Krankenhauses, Wien

  • Univ.-Prof. Dr. Matthias Preusser
    Leiter der Klinischen Abteilung für Onkologie an der MedUni/AKH Wien

  • Dr. Otto Rafetseder
    Koordinator Zielsteuerung Gesundheit, Magistratsabteilung 24 — Strategische Gesundheitsversorgung der Stadt Wien

  • Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Zielinski
    Wissenschaftlicher Leiter des Vienna Cancer Centers 


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