Bei den 10. PRAEVENIRE Gesundheitsgesprächen in Alpbach vom 6. bis 10. Juli 2023 trafen sich namhafte Expertinnen und Experten zum PRAEVENIRE Talk mit dem Titel „Prähabilitation“ – angesichts der demografischen Entwicklung ein Zukunftsthema mit hoher Relevanz.
Mag. Dora Skamperls
PERISKOP-Redakteurin
Vier Top-Fachleute aus dem Gesundheitswesen trafen sich in Alpbach zum PRAEVENIRE Talk über ein hoch innovatives Konzept der ÖGK für Arthrose, das mit wissenschaftlicher Beratung des angesehenen Orthopäden Dr. Andreas Stippler zunächst in Niederösterreich ausgerollt werden soll. Das Modell der Prähabilitation kann auch für andere Bundesländer und weitere Krankheitsbilder als Pilotprojekt fungieren, wobei die ÖGK hier als Innovationsmotor wirksam wird. ÖGK-Chefarzt Dr. Andreas Krauter, Dr. Arno Melitopulos, Leiter der Abteilung Versorgungsmanagement 3 der ÖGK, und Mag. Monika Peer-Kratzer, Landesvorsitzende Tirol Physio Austria, diskutierten mit Andreas Stippler über die Zukunftslösung eines interprofessionellen integrierten Versorgungsmodells für die nachhaltige Entlastung des Gesundheitssystems.
Edukation, Ernährung und Bewegung
STIPPLER: „Wir haben uns nach internationalen Kriterien angesehen, was die State-of-the-Art- Therapie für Arthrose im Moment ist, und haben festgestellt, dass es die Basistherapie für Arthrose in Österreich noch nicht in dieser Form gibt. Das wäre ein strukturiertes Programm, das aus drei Punkten besteht: Edukation, Ernährung und Bewegung. Wir sind in Österreich schon sehr weit mit medikamentöser Versorgung und den anderen Therapien, aber eine strukturierte Basistherapie wie zum Beispiel beim GLA:D®-Programm in Dänemark (Good Life with osteoArthritis in Denmark) oder dem NEMEX-Programm in Australien (Neuromuscular Exercise) haben wir nicht. Aus diesen beiden Modellen haben wir für Österreich etwas maßgeschneidert und dürfen das gemeinsam mit der ÖGK umsetzen. Unser Pilotprojekt wird mit Kooperation und wissenschaftlicher Begleitung der Donau-Universität unter der Führung von Prof. Nehrer ausgerollt. In das Programm werden nun 100 Knie- und 100 Hüftarthrosen aufgenommen und so behandelt. Auch in Hinblick auf die sehr hohen Operationszahlen in Österreich ist das für die Patientinnen und Patienten als wertvolle Innovation zu sehen. Das Programm kann helfen, Operationen entweder später durchzuführen oder sogar zu verhindern. Mit GLA:D® konnte man rund 20 Prozent der Patientinnen und Patienten wieder von den Operationslisten streichen. Wir bringen mit diesem multiprofessionellen Ansatz eine moderne, an der Prävention orientierte Medizin nach Österreich.“
Vor und Nachsorge rund um die OP
„Wenn nun doch operiert werden muss, betreu- en wir die Patientinnen und Patienten in einem sechswöchigen Programm vor und nach der OP. Das Modell der ‚Rapid Recovery‘ bzw. ‚Fast- track Surgery‘ gibt es schon seit den 1970er-Jahren. Das kam aus der Allgemeinchirurgie und war damals ein Quantensprung im Denken. Der Ansatz, so früh wie möglich zu mobilisieren und nicht etwa zehn Tage nach der OP im Bett zu liegen, war revolutionär. Heute ist es in vielen Ländern Standard, am Tag der OP wieder aufzustehen. Deshalb muss vor der Operation bereits eine Vorbereitung stattfinden, auch im Sinne der Edukation und einer Änderung des Lebensstils – Venenprophylaxe, Raucherentwöhnung etc. So können Patientinnen, Patienten bereits am zweiten oder dritten Tag nach der OP wieder ins ambulante Rehab-Setting zurück. Das ist auch aufgrund der wesentlich verbesserten chirurgischen Methoden möglich. Der neue Ansatz wäre nun, die stationäre Rehab durch ambulante zu ersetzen – das gibt es bereits in vielen europäischen Ländern –, sodass die Rehabilitation der Entwicklung in der modernen Chirurgie Rechnung trägt. Patientinnen und Patienten haben heute wesentlich geringere Komplikationen, wie Thrombosen, Lungenproblematiken oder Infekte. Die ambulante Rehab ist besonders für Menschen geeignet, die noch im Berufsleben stehen und interessiert sind, schneller wieder fit zu werden. Bis jetzt waren wir gewohnt: OP-Termin, Operation und dann stationär warten auf die Rehab. Davon müssen wir nachhaltig weg.
In den Niederlanden beispielsweise kommen Physiotherapeuten sogar vor der OP zu den Patientinnen, Patienten nach Hause und schauen sich die Lebens- und Wohnverhältnisse genau an. Das ist im Sinne der Sturzprophylaxe und Optimierung der Rehab wichtig – beispielsweise können Gefahren wie rutschige Teppiche etc. im Vorfeld schon erkannt werden. Es wäre sinnvoll, so etwas auch in Österreich bei infrage kommenden Patientinnen, Patienten umzusetzen.“
Teilhabe am aktiven Leben fördern
PEER–KRATZER: „Es braucht in der Öffentlichkeit eine Entstigmatisierung der Arthrose als endgültige Diagnose. Ein aktives Leben mit der Erkrankung ist möglich und das muss auch klar kommuniziert werden. Es gibt internationale Studien, die besagen, dass durch spezifische, effiziente Übungen einerseits die Schmerzen halbiert werden können – was bemerkenswert ist. Andererseits wird das Immunsystem gekräftigt und es findet durch die gezielte Bewegung auch eine Edukation statt. So werden Kosten eingespart, noch bevor sie überhaupt entstehen, denn wie der Name schon sagt – das Therapiekonzept der Prähabilitation setzt schon lange vor der Operation an. Das bedeutet, dass auch der Krankenhausaufenthalt postoperativ zumeist wesentlich kürzer ist. Es gibt bei der Prähabilitation ja zwei Ansätze – zuerst ein interprofessionelles Therapiekonzept, um Operationen überhaupt zu vermeiden; und auf der anderen Seite die präoperative Vorbereitung, um eine sogenannte ‚Rapid Recovery‘ zu erreichen. Das vorrangige Ziel des hier für Österreich entwickelten Programms der Prähabilitation soll aber sein, Arthrose so zu behandeln, dass wir zunächst gar nicht über Operationen sprechen müssen.“
Multiprofessionelle Betreuung
„Das Programm erstreckt sich über drei bis sechs Monate und wird von den Patientinnen und Patienten sehr gut aufgenommen. Es gibt mittlerweile hoch evidenzbasierte Tests in der Physiotherapie, mit deren Hilfe Parameter wie Beweglichkeit, Kraft, Fehlhaltungen etc. ermittelt werden können. Daraus entwickeln wir ein individuelles Übungsprogramm. Ein Team aus der Orthopädie, der Physiotherapie, der Sportwissenschaft und Diätologie und ggf. Psychologie arbeitet eng zusammen, um dieses interprofessionelle Therapieprogramm gemeinsam mit den Betroffenen zu realisieren. Motivation und Schmerzverarbeitung spielen dabei auch eine Rolle. Im Zuge der physiotherapeutischen Betreuung und Edukation erklären wir den Patientinnen und Patienten, warum sie Schmerzen haben könnten, wie Schmerz funktioniert und was bei chronischem Schmerz passiert.
Der zweite Ansatz, nämlich die Vor- und Nachsorge einer Operation, hat eine wesentliche Funktion für die rasche Rekonvaleszenz. Vor der OP werden der Stoffwechsel angekurbelt, die Muskulatur gelockert, die Kraft verbessert – insgesamt wird das Gelenk auf den Eingriff optimal vorbereitet. Aber auch auf der psychischen Seite werden durch die gute Vorsorge und Beratung Ängste abgebaut. Das wirkt sich enorm positiv auf den Outcome der OP aus. Ein weiterer Faktor, der sich sehr positiv auswirkt, ist die Implementierung des sogenannten Buddy-Systems. Die Patientin bzw. der Patient nimmt eine vertraute Person zur Physiotherapie vor der OP mit, sodass auch diese nach der OP unterstützend wirken kann. Ein solches Buddy-Programm, das sich ‚Patientenschule‘ nennt, besteht an der Uniklinik Innsbruck bereits seit 2018. Hier braucht es ein multimodales Pro- zessmanagement, ein OP-Management in einer neuen Sichtweise.“
Gesamtkonzept als Erfolgsfaktor
KRAUTER: „Das genannte Programm bietet den richtigen Ansatz, einerseits die Edukation und Diätologie zu fördern, und gibt andererseits den Menschen einen Ausblick, trotz geschädigter Gelenke in einer hohen Qualität weiterzuleben. Es ist auch im Sinne der Patientinnen und Pati- enten, Operationen zu vermeiden. Aber es geht nicht nur um die Operation an sich, sondern in weiterer Folge um die Teilhabe am Leben – die Beweglichkeit, wie lange kann jemand zu Hause leben, wie viel Hilfe wird benötigt etc. Das hat langfristig massive Auswirkungen im System.
Daher stehe ich diesem Konzept maximal positiv gegenüber. Nach der Evaluationsphase sollte dieses nicht nur in der Physiotherapie, sondern auch im klinischen Setting in den Regelbetrieb eingebunden werden.
Wir bezahlen ja alle diese Therapien, aber teilweise ungerichtet und unabhängig voneinander. Es geht hingegen um das Management und die Organisation in der Gesamtschau sowie um eine verbindliche Umsetzung abseits von Einzelinteressen, das Auflösen von Schnittstellen. Im Rahmen der Prähabilitation werden diese Einzeltherapien sinnvoll zusammengefasst, aufeinander abgestimmt und erfahren so einen echten Mehrwert. Das kann für uns auch als Lehrbeispiel fungieren für viele andere Krankheitsbilder, dass wir aufhören, in Einzelinterventionen zu denken. Das Davor und Danach müssen miteinbezogen werden und dazu braucht es gute Beratung der Patientinnen und Patienten. Die Entwicklung solcher innovativen Konzepte gemeinsam mit Partnern aus dem Gesundheitswesen ist auch Aufgabe meiner Abteilung bei der ÖGK.“
Prähab und Rehab als Einheit sehen
„Natürlich müssen wir für jede Form der Multimorbidität auch die Versorgung sicherstellen. Nicht alle Patientinnen, Patienten werden für ein solches Prähab-Programm infrage kommen. Deshalb muss auch die stationäre Rehabilitation für solche Patientinnen, Patienten, die sie brauchen, weiter als Möglichkeit aufrecht bleiben.
Die ambulante Rehab ist für die meisten Patientinnen, Patienten die Zukunft, doch müssen wir gemeinsam mit den Gesellschaften die Vorbereitung treffen, dass die Übergänge von einer in die andere Betreuung bereits im Vorfeld gut organisiert ist. Wichtig ist, das Denken so zu verändern, dass Prähabilitation und Rehabilitation zu einer Einheit verschmelzen. Und zwar nicht nur in der Orthopädie, sondern bei jedem größeren chirurgischen Eingriff, bei onkologischer Therapie, bei Diabetes, bei elektiven Eingriffen – von der gesamten Herz- und Lungenthematik, immunologischen Fragestellungen bis hin zur psychologischen Betreuung.“
ÖGK als Innovationsmotor
MELITOPULOS: „Das Arthrose-Projekt hat alle Systempartner und den Bund überzeugt, weshalb es auch finanziert wird. Der integrierte Versorgungsansatz der Prähabilitation in einer frühen Phase, wo noch Hoffnung und Perspektiven bestehen, ist die Zukunft. Man gibt damit Patientinnen und Patienten im Rahmen dieses Pakets unter höchst kompetenter medizinischer Begleitung einen klaren Ausblick auf die nächsten Wochen, Monate und Jahre. Im Zusammenspiel mit der Physiotherapie und der Ernährung ist das ein umfassendes Konzept. Auf vielfältige Probleme werden hier umfassende Antworten gegeben. Es gab durchaus Widerstände, wie immer bei Projekten, die außerhalb des Krankenhauses stattfinden. Mir macht es Spaß, gemeinsam mit Andreas Krauter in der ÖGK und mit kompetenten Partnerinnen und Partnern diese Bedenken und systemischen Stigmata zu zerstreuen. Ich bin überzeugt, dass das gut funktionieren wird. Aus Sicht der Patientinnen und Patienten gibt es auch viele ‚weiche‘ Faktoren, die für das Konzept sprechen.“
Prähab als Teil eines Prozesspakets
Wir haben mit der Prähabilitation ein Musterbeispiel, das auch gemeinschaftlich getragen wird, wo die Grundgedanken des FAG repräsentiert sind: Ambulanzen und den stationären Bereich entlasten, innovative Lösungen suchen, die den Patientinnen und Patienten näherstehen etc. Hier könnte dieses Pilotprojekt in Niederösterreich auch für andere Bundesländer Pate stehen. Natürlich gibt es in Bezug auf die Finanzierung eine juristische Ausprägung. Wenn wir die Prähab als Teil der Krankenbehandlung verstehen, ist das ein Abgehen von herkömmlichen Denkmustern: Traditionell wird unter Krankenbehandlung etwas verstanden, das nach einem Unfall oder einem Eingriff stattfindet.
Wir können die Prähab aber auch im Bereich der Prävention verorten. Im Prinzip geht es um die Frage der Definition, wann eine Krankenbehandlung beginnt. Nach meinem Verständnis wäre die Prähab ein Teil der Krankenbehandlung, die ab Diagnose bzw. im zweiten Modell ab Feststehen des OP-Termins geplant und durchgeführt wird. Vor- und Nachsorge müssen mit der OP in einem Prozesspaket gesehen werden. Hier werden aber auch organisationale Grenzen überschritten, indem die Vor- und Nachsorge teilweise nicht mehr Sache des Spitals sind, sondern ausgelagert werden. Das wird im Rahmen solcher standardisierten Programme möglich sein, wie es nun für die Arthrose in Niederösterreich entwickelt wurde.“
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