Suche
Close this search box.

PRAEVENIRE: Ein Wegweiser für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung in Österreich

Dr. Hans Jörg Schelling

PRAEVENIRE: Ein Wegweiser für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung in Österreich

Dr. Hans Jörg Schelling

Dr. Hans Jörg Schelling ist seit November 2018 Präsident des Vereins PRAEVENIRE. Für diese neue Tätigkeit bringt der frühere österreichische Finanzminister und vormalige Vorsitzende des Verbandsvorstandes im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger viel Fachexpertise mit. Im PERISKOP-Interview skizziert der neue PRAEVENIRE-Präsident seine Vorstellungen davon, welchen Beitrag PRAEVENIRE für ein modernes Gesundheitssystem leisten kann. Präsident Schelling sieht PRAEVENIRE dabei als Weg­weiser in die Zukunft, bei dem unter der Prämisse „die Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt“ eine gemeinsame Denkweise der Interessengruppen erwirkt werden muss. | Von Mag. Petra Hafner

Periskop: Dem  österreichischen Gesundheitssystem wird ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt, zugleich wird kritisiert, dass es viel zu teuer ist. Teilen Sie diese Kritik?

Schelling: Das große Problem im österreichischen Gesundheitssystem ist, dass wir so etwas wie ein Vollkaskosystem entwickelt haben. Die Menschen verlassen sich darauf, dass sie vom Gesundheitssystem das bekommen, was sie benötigen. Daher wurde das Thema Prävention und Eigenverantwortung immer im Hintergrund gehalten. Das heißt, ausgehend vom Patienten im Mittelpunkt, sollte das Geld unbedingt zielgerichtet kanalisiert sein. In der Vergangenheit wurden am System immer nur Symptomkuren vorgenommen, anstatt zu fragen, wie ein modernes, zukunftsorientiertes Gesundheitssystem ausschauen sollte. Der Masterplan Gesundheit ist zwar ein guter Ansatz, geht aber in vielen Bereichen wie z. B. der Struktur nicht weitreichend genug.

P: Was kann und soll PRAEVENIRE für ein modernes Gesundheitssystem der Zukunft leisten?

Schelling: Das Gesundheitssystem leidet darunter, dass auf die erkennbaren Trends nicht reagiert wird. Ein klassisches Beispiel ist: Wir wissen alle, dass wir älter werden, gleichzeitig haben wir aber die Fachärtzinnen und -ärzte für Geriatrie viel zu spät installiert. Meine Vorstellung ist, dass PRAEVENIRE ein Wegweiser in die Zukunft ist, der darstellt, wo die Megatrends sind, die wir sowohl in Bezug auf Krankheitsbilder, medizinischen Fortschritt, älterwerdende Bevölkerung und notwendige Strukturveränderungen erwarten. Dieser Wegweiser sollte am Ende des Tages einen Weg aufzeigen, wie wir ein modernes leistungsfähiges Gesundheitssystem für die österreichische Bevölkerung erhalten und entwickeln.

P: Wie stellen Sie sich PRAEVENIRE als Plattform und Wegweiser für das österreichische Gesundheitssystem vor?

Schelling: PRAEVENIRE sollte die Zukunftsperspektiven im Fokus haben, denn die Problemfelder des Systems sind bekannt: mangelnde Prävention, undurchschaubare Strukturen, viel zu viele Finanzströme, zu wenig Eigenverantwortung bei den Patientinnen und Patienten. Daraus resultierend hat man immer wieder versucht, die Systeme anzupassen, aber nicht zu entwickeln. Auch müssen die Themen anders angegangen werden wie bisher, nämlich nicht nur zu schauen, was erhaltungswürdig, sondern was in der Zukunft notwendig ist. Darauf vorbereitet zu sein, bedeutet, für die Patientinnen und Patienten das beste Versorgungs- und Betreuungssystem zu entwickeln.

P: Was muss sich im österreichischen Gesundheitssystem aus Ihrer Sicht vor allem ändern?

Schelling: Wir sind im System nicht patienten-, sondern interessenorientiert. Ich habe oft hochkarätige Diskussionen mit Stakeholdern erlebt, die zwei Stunden über die Gesundheit gesprochen haben, und kein einziges Mal kam das Wort Patient vor. Daraus ergibt sich, dass die einzelnen Interessengruppen ihre Eigeninteressen verfolgen. Und das ist auch eine große Herausforderung für PRAEVENIRE, nämlich zum Ersten zu sagen, die Patientinnen und Patienten stehen im Mittelpunkt, und was muss getan werden, um die optimale Versorgung sicherzustellen. Das Zweite ist, wie bekommt man die Interessengruppen unter ein Dach, um diese gemeinsame Denkweise für die Patientinnen und Patienten zu erwirken. Und das Dritte ist, wir müssen uns auf diese Entwicklungen vorbereiten.

P: Sind wir in Österreich auf die Zukunft gut vorbereitet?

Schelling: Ganz generell ist der Zustand eher der, dass man zwar weiß, was kommt, aber nicht rechtzeitig darauf reagiert. Das heißt, die Politik ist meist einen Schritt hinten nach als einen Schritt voraus. PRAEVENIRE sollte einen Schritt voraus sein. Das bedeutet, das Bewusstsein schaffen, dass das System modernisiert und angepasst werden soll und muss. Auf lange Sicht sind schließlich die beiden großen Kostentreiber der medizinische Fortschritt und das Älterwerden der Bevölkerung. Denn entgegen den vor 30 Jahren erstellten Prognosen wächst die Bevölkerung in Österreich, bedingt durch Zuzug, aber auch durch ein Hinauszögern der Sterblichkeit. Deshalb werden wir nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität der Versorgung sicherstellen müssen. Diese Entwicklungen aufzunehmen, durchzudenken und sich die Konsequenzen bewusst zu machen: Das sollte der neue Ansatz von PRAEVENIRE sein, der dann dazu führt, dass Gutes bewahrt und Neues gestaltet wird.

P: Gutes bewahren – Neues gestalten. Mit welchen Lösungsansätzen kann PRAEVENIRE einen Beitrag für das österreichische Gesundheitssystem leisten?

Schelling: PRAEVENIRE hat sicher auch die Aufgabe, nicht analytisch eine System­beschreibung vorzunehmen, sondern darüber nachzudenken, wie man die Probleme löst. Das kann nur gemeinsam gelingen, indem wir auch über die Berufsbilder nachdenken. Wer soll was tun? Was sind die Aufgabenstellungen? Wie kann man diese besser vernetzen? Aus dem allen heraus ergibt sich die Logik, einerseits nach der Analyse festzuhalten, was ist bewundernswert gut und was ist bewundernswert verbesserungsfähig. Die Lösungsansätze sollen dazu führen, dass es für die Entscheidungsträger im Gesamtsystem eine Diskussionsgrundlage gibt, bei der Lösungen von Expertinnen und Experten aber auch von Stakeholdern eingebracht worden sind.

P: PRAEVENIRE hat das Credo, sich nach der Analyse mit allen gemeinsam – beginnend bei der Ärztekammer, über die Apothekerkammer, Partnerinstitutionen und Länder Gedanken über die Umsetzungsmöglichkeiten zu machen. Wie kann Neues gelingen?

Schelling: Die Veränderungen im Sinne einer Evaluation des Systems kann es nur durch ein Miteinander aller Stakeholder geben. Es wäre wünschenswert, wenn alle einmal über ihren Schatten springen und die verkrusteten, verhärteten Eigeninteressen kurzfristig hintanstellen und die Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt stellen. Wenn die Ansätze auf dem Tisch liegen, soll PRAEVENIRE diese in einem Gesamtpaket Neu im Sinne der Gesundheitsversorgung zusammenfügen. Das können durchaus heterogene Vorschläge sein, die unter dem Blickwinkel „Was ist das Beste für die Versorgung der Österreicherinnen und Österreicher?“ betrachtet werden. Und dann kann überlegt werden, welcher Vorschlag auf welcher Ebene wie eingebaut werden soll. Zu diesem von PRAEVENIRE entstehenden Papier können die Stakeholder ihre Kommentare und Vorschläge einbringen. Es sollte ein Wegweiser – auch für die Politik – sein, was für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung getan werden muss. „Meine Vorstellung ist, dass PRAEVENIRE ein Wegweiser in die Zukunft ist, der darstellt, wo die Megatrends sind, die wir sowohl in Bezug auf Krankheitsbilder, medizinischen Fortschritt, älterwerdende Bevölkerung und notwendige Strukturveränderungen erwarten.“

P: Welchen Beitrag kann PRAEVENIRE beim Thema der öffentlichen Gesundheit leisten?

Schelling: Es gibt europäische Länder, die ihr Gesundheitssystem völlig anders strukturieren als wir in Österreich. In Finnland beispielsweise sind die Pro-Kopf-Ausgaben um 1.000 Euro in der Versorgung geringer als in Österreich, zugleich haben sie laut Studien eine genauso gute Versorgung wie wir. Das bedeutet, wir sollten aus diesen Best-Practice-Beispielen lernen. Beim Thema der öffentlichen Versorgung muss zuerst klar sein, was wir eigentlich wollen. PRAEVENIRE hat den Auftrag, den eingetretenen Pfad zu verlassen und zu schauen, was ist rechts und links von dem Pfad. Natürlich wird man sich Benchmarks ansehen, aber man wird auch den Weg mutig beschreiten müssen. Die Voraussetzung dafür ist, dass alle darüber nachdenken, ob es andere Wege gibt. In der Forschung hat sich gezeigt, ohne path-breaking gibt es diese nicht.

P: Die Bevölkerung wird immer älter. Was sind die großen Themen und Trends der Zukunft? Welchen Stellenwert soll Prävention dabei haben?

Schelling: Natürlich wird sich das dynamische Wachstum des Älterwerdens der Bevölkerung in dieser Dynamik nicht fortsetzen. Wir gehen deutlich unter dem gesetzlichen Pensionsalter in Pension und fühlen uns auch nicht gesund. Daran zu arbeiten, ist ein entscheidender Punkt. Auch wenn man sich die Prävention ansieht, sind wir sehr weit hinten. Die Wunderpille Prävention wird es nicht geben und manche Krankheiten lassen sich durch Prävention nicht verhindern. Wir wissen aber, dass vieles durch Bewegung und Ernährung zumindest im Verlauf linderbar ist. Bei Diabetes oder Bluthochdruck beispielsweise kann man persönlich sehr viel beitragen. Es wird auch eine Aufgabenstellung sein zu definieren, wer für welche Art der Prävention zuständig ist. Wir reden immer von Prävention, sagen aber nicht, wer dafür zuständig ist. Primär ist der einzelne Mensch dafür zuständig. Die Politik wird aber die Rolle einnehmen müssen, die sogenannte Verhältnisprävention herzustellen. Der Einzelne muss die Verhaltensprävention erlernen. Das verlangt viel Aufklärungsarbeit und Bewusstseinsbildung. Das ist auch eine Frage des Wissens und der Bildung der Menschen. Deshalb muss die Bildung verstehbar sein und in das tägliche Leben der Menschen integrierbar sein.

P: PRAEVENIRE Gesundheit 2030 hat den Anspruch, etwas zu bewegen. Es sollen gemeinsam neue Strategien erarbeitet und neue Wege beschritten werden. Was sind Ihre Vorstellungen als PRAEVENIRE-Präsident zum Programmablauf?

Schelling: Es muss einen Kick-off-Event geben, wo jede Stakeholder- und Interessen­gruppe ihre Meinung zum System ganz offen und ohne Diskussion sagen kann, welche Probleme es gibt und wie man diese lösen kann. Das kann durchaus sehr kontroversiell angelegt werden, wenn gemeinsam darüber nachgedacht wird, was aus diesen Ideen machbar ist und vorgefasste Meinungen hintangehalten werden. Das kann das System beflügeln und wird zu besseren Ergebnissen führen, als wenn jeder auf seinem Einzelstandpunkt beharrt. Wenn man wissen will, wohin man geht, sollte man wissen, woher man kommt. Sonst geht man schnell in die falsche Richtung. Das zweite Grundprinzip bei den ersten Schritten, die man macht, muss sein, dass nicht die Länge des Schrittes ausschlaggebend ist, sondern ob er in die richtige Richtung erfolgt. Man kann auch einen großen Schritt in die falsche Richtung machen.

P: Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die PRAEVENIRE-Gemeindeprogramme?

Schelling: PRAEVENIRE hat in den letzten Jahren bereits viel Vorarbeit geleistet. Es wurde einiges sehr erfolgreich an der Basis umgesetzt, indem das Gemeinsame im Vordergrund stand. Das Erfolgsrezept war das Zusammenwirken von Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten, Kommunen sowie Expertinnen und Experten. Es sollen auch weiterhin Ziele der einzelnen Krankheitsbilder heruntergebrochen und gemeinsam mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Kommunen, Expertinnen und Experten ausreichend realisiert werden.

P: Wie wichtig wird die Vernetzung mit den einzelnen Gruppierungen und Ländern sein?

Schelling: Wir haben Systeme entwickelt, die durch die unterschiedlichen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten vernetzt sind. Wenn man sich das Thema extra- und intramural ansieht – ein Thema, das seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung steht – sieht man, dass wir es bis heute nicht geschafft haben, diese optimierte Vernetzung herzustellen. Erste Ansätze aus dem Masterplan Gesundheit wie z. B. Gruppenpraxen zu forcieren oder auch Primärversorgungszentren zu installieren, sind durchaus politisch präzisiert worden. Sie sind für die Entwicklung im ländlichen Raum von entscheidender Bedeutung, denn es wird nicht machbar sein, wohnortnah alles stationär zu machen. Wir wissen, dass es im Gesundheitssystem Interessenslagen der einzelnen Gruppen gibt, aber letztendlich heißt der Erfolg Patient. Das müssen wir offen diskutieren. Das ist viel schwieriger als in einem Unternehmen, aber mit etwas gutem Willen von allen wird das gelingen. Alle Interessengruppen sind gut beraten, nicht in die Abwehrposition zu gehen. Natürlich werden manche Positionen nicht aufgegeben werden, aber alleine, wenn man die Positionen annähern kann, ist schon bei der Entwicklung des Systems sehr viel geholfen. Die Länder sind ein wichtiger, konstruktiver Player, wenn man rechtzeitig mit den Expertinnen und Experten den Dialog beginnt, sich deren Vorstellungen anhört und dann auf Maßnahmen setzt und überlegt, wie man gemeinsam zu Verbesserungen kommt. Die Länder sind im Gesundheitsbereich durch ihren Verantwortungsbereich für den stationären Bereich stark engagiert. Sie sind stark, aber nicht reformresistent und durchaus aufgeschlossen für neue Überlegungen. Wir sollten von Anfang an klar stellen, dass es um Menschen und nicht um Systeme geht. Systeme sind notwendig, um das zu erreichen, aber zuerst muss darüber nachgedacht werden, was das für den einzelnen Menschen bedeutet. Wir reformieren in Österreich gerne Systeme, wo der Mensch ausgeklammert wird.

P: Wie kann es gelingen, die Kosten des Gesundheitssystems einzudämmen? Inwieweit spielen Prävention und Eigenverantwortung dabei eine Rolle?

Schelling: Im Gesundheitssystem geht es de facto nicht um Einsparungen, sondern um eine Dämpfung der Kostenentwicklung. Es ist nie darum gegangen – auch nicht beim Masterplan Gesundheit oder den mit den Ländern vereinbarten Zielen – dass wir von Index 100 auf 98 kommen, sondern vom Index 104 auf 102. Alleine das reicht aus, um den medizinischen Fortschritt und die kostenintensive Forschung zu finanzieren. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass alles wahnsinnig billiger wird, aber das Eindämmen der Kostendynamik hat schon beim Masterplan Gesundheit gezeigt, wie das über viele Jahre funktioniert. Einerseits soll die Frage der Versorgung gelöst werden, gleichzeitig müssen aber auch klare Ziele definiert werden, in welchen Segmenten der Krankheitsbilder was erreicht werden soll, um die Kosten des Gesundheitssystems in den Griff zu bekommen. Es gibt Studien, die besagen, dass die von einem Patienten verursachten Kosten, unabhängig vom Alter, zu 80 Prozent in den letzten zwei Lebensjahren entstehen. Wenn uns gelingt, dass wir durch Maßnahmen in der Gesundheitsförderung und Eigenverantwortung bis zu diesem Zeitpunkt kaum Krankheitsbilder haben, dann ist der finanzielle Topf am Ende gefüllt, während beim anderen der Topf verbraucht ist. Dahinter liegt der Gedankengang, dass sichergestellt sein muss, dass jede Patientin und jeder Patient das erhält, was er oder sie braucht. Ich verwehre mich gegen alle Systeme wie z. B. in Großbritannien, wo man ab einem bestimmten Alter nicht mehr jede Behandlung erhält. Die Menschen haben ein Anrecht auf beste medizinische Versorgung. Um dies bei einer älter werdenden Bevölkerung und dem medizinischen Fortschritt sicherstellen zu können, müssen wir im System Veränderungen durchführen.

Aktuelle Ausgabe

Nach oben scrollen