Über 800 Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Disziplinen der Gesundheitsversorgung haben in den vergangenen eineinhalb Jahren an der Erstellung der zweiten Ausgabe des PRAEVENIRE Weißbuchs „Gesundheitsstrategie 2030“ mitgewirkt. Damit setzt der gemeinnützige Verein PRAEVENIRE seinen Weg zur WEITERENTWICKLUNG DES SOLIDARISCHEN GESUNDHEITSSYSTEMS konsequent fort und mahnt notwendige Reformen mit 87 Forderungen an die Gesundheitspolitik ein. Drei Leuchtturmprojekte zeigen weitere Arbeitsschwerpunkte des Vereins auf. | von Rainald Edel, MBA
Aus der Vergangenheit lernen und die Zukunft gestalten — lautet zusammengefasst die Herangehensweise zur Erstellung der zweiten Ausgabe des PRAEVENIRE Weißbuches „Gesundheitsstrategie 2030“. Im Rahmen einer Pressekonferenz im Billrothhaus, dem Sitz der Gesellschaft der Ärzte in Wien, gab PRAEVENIRE Präsident Dr. Hans Jörg Schelling Ende April erste Einblicke in die zweite Ausgabe des Weißbuchs. In Form von zahlreichen Gipfelgesprächen zu versorgungsrelevanten Themen, bei denen immer die Patientinnen, Patienten und deren Versorgung im Mittelpunkt standen, erarbeiteten über 800 Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Disziplinen der Gesundheitsversorgung Lösungsansätze. „Damit das Ergebnis breit getragen wird, war entscheidend, dass wir für diesen Prozess alle an einen Tisch geholt und zur Mitgestaltung eingeladen haben. Die Vorschläge der Expertinnen und Experten versuchten wir anschließend in Konsens zu bringen, sodass möglichst alle in eine Richtung ziehen“, so Schelling. Daraus abgeleitet wurden die 87 Forderungen und Handlungsempfehlungen, die den insgesamt 16 Kapiteln jeweils vorangestellt sind.
Politik muss handeln
„Wenn man das Gesundheitssystem weiterentwickeln will — und das ist dringend notwendig —, muss man die demografische Entwicklung der Bevölkerung und die Patientenströme berücksichtigen. Daher ist die zentrale Frage, wie man Patientinnen und Patienten bestmöglich und wohnortnahe versorgen kann“, erläuterte Schelling. Es brauche einen Wandel von der Reparatur- hin zur Präventionsmedizin. Dieser lässt sich nur in Form einer niederschwelligen, wohnortnahen Primärversorgung realisieren, die auch über die entsprechenden Mittel verfügt, lautet eine der Forderungen aus dem PRAEVENIRE Weißbuch. „Da eine Finanzierung aus einer Hand nicht absehbar ist, schlagen wir eine Zwei-Topf-Finanzierung vor, bei der der gesamte niedergelassene Bereich inklusive der Spitalsambulanzen aus einem und die stationäre Versorgung in den Spitälern aus einem zweiten Topf finanziert werden“, so Schelling. Neben einer Ausweitung der Disease Management Programme für die Versorgung chronisch Erkrankter müsse auch die medizinische Versorgungslücke im Sinne früher Diagnosen bei den 6- bis 18-Jährigen geschlossen werden. „Deshalb fordert der Verein PRAEVENIRE eine deutliche Ausweitung des Mutter-Kind-Passes zumindest bis zur Volljährigkeit und die Umwandlung in einen Präventionspass“, erklärte Schelling. Zudem sei zur Aufrechterhaltung der Versorgung eine Neuordnung der Berufsrechte im Gesundheitsbereich unumgänglich. Um Gesundheitsapps in der Versorgung zu etablieren, brauche es, so Schelling, eine Zertifizierungsstelle, welche den Nutzen von CE-zertifizierten Gesundheitsapps nach einem klar strukturierten Prozess evaluiert und Empfehlungen für deren Einsatz und Finanzierung ausspricht.
„Bereits im letzten Finanzausgleich wurde festgelegt, dass die Planung und Steuerung des Gesundheitssystems dem Bund obliegt. Nun ist es auch am Bund, von diesem Recht aktiv Gebrauch zu machen“, betonte Schelling. So wäre es höchst an der Zeit, dass sich der nunmehr dritte Gesundheitsminister seit Start des Weißbuch-Prozesses mit den Themen und Lösungsvorschlägen intensiv auseinandersetzt.
Der PRAEVENIRE Prozess ist, so Schelling, mit der Veröffentlichung des Weißbuchs nicht abgeschlossen. Denn bei den 7. PRAEVENIRE Gesundheitsgesprächen im Stift Seitenstetten, vom 18. bis 20. Mai 2022, (www.praevenire.at) wird bereits an den nächsten Themenkreisen und Vorschlägen gearbeitet.
Primärversorgung weiter ausbauen
„Österreich ist im internationalen Vergleich in puncto Primärversorgung eher schwach entwickelt“, erklärte PRAEVENIRE Vorstandsmitglied Dr. Erwin Rebhandl, der selbst eine Primärversorgungseinheit (PVE) in Oberösterreich betreibt. Primärversorgung in guter Ausprägung senke die Spitalsaufenthalte und fördere die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. Daher brauche es nicht nur zum einen mehr PVE, sondern zum anderen auch echte Anreize, wie beispielsweise die aktuellen EU-Förderprogramme, welche zu gründen.
Primärversorgung funktioniert nur im Team und im interdisziplinären Austausch — dafür müssen Medizinerinnen, Mediziner, diplomierte Krankenpflegekräfte sowie u. a. Physio- und Ergotherapeutinnen, -therapeuten, Logopädinnen, Logopäden, Sozialarbeiterinnen, Sozialarbeiter, Hebammen und Ordinationsassistentinnen sowie -assistenten im Bereich der Zusammenarbeit entsprechend geschult werden. Um auch junge Medizinerinnen und Mediziner besser an die Anforderungen und Aufgaben in der Primärversorgung heranzuführen, bedarf es neben der Fachärztin, dem Facharzt für Allgemeinmedizin auch eine deutliche Ausweitung der Lehrpraxis. Diese soll, so die PRAEVENIRE Forderung, von derzeit sechs auf 18 Monate ausgeweitet werden.
Möglichkeiten der Digitalisierung sinnvoll nützen
„Wenn wir nicht aufpassen, droht eine digitale Rolle rückwärts“, warnt PRAEVENIRE Vorstandsmitglied und Experte für Digitalisierung, Prof. Dr. Reinhard Riedl von der Berner Fachhochschule. Überlegungen, während der Pandemie erfolgreich eingeführte digitale Projekte wieder rückgängig zu machen, seien diesbezüglich ein Alarmzeichen! Aus Sicht des Vereins PRAEVENIRE gelte es, die schon bestehenden Potenziale der Digitalisierung tatsächlich zu nützen und erfolgreiche Projekte in die Regelversorgung zu übernehmen — insbesondere telemedizinische Angebote, die während der Pandemie sehr gut funktioniert haben.
„Wir müssen wegkommen von einer Gesundheitsversorgung, die durchschnittlich die beste Versorgung ermöglicht. Stattdessen brauchen wir eine personalisierte Präzisionsmedizin“, erklärte Riedl. Basis dafür sind Daten aus dem Gesundheitssystem. Keine Option ist es, so Riedl, sich vor der Entscheidung zu drücken, Daten aus Österreich zu nützen und das Problem dadurch zu umgehen, indem auf Daten anderer Länder — oft mit fraglicher Aussagekraft — zurückgegriffen wird. Man müsse der Skepsis gegenüber der Datennutzung entgegenwirken, indem man den Nutzen in den Vordergrund stellt und breit kommuniziert.
Neue Leuchtturmprojekte des Vereins PRAEVENIRE vorgestellt
„Gerade in einer von Social-Media-Meldungen und Schlagzeilen dominierten Welt ist es wichtig den Menschen einen Anker für seriöse Informationen auf wissenschaftlicher Basis zu bieten“, erklärte Univ.-Prof. Dr. Volc-Platzer, Präsidentin der Gesellschaft der Ärzte in Wien. Der Verein PRAEVENIRE ist in Vorbereitung, gemeinsam mit der Gesellschaft der Ärzte in Wien im Rahmen der PRAEVENIRE Initiative „Wissenschaft für die Menschen“ der Bevölkerung komplexe medizinische Informationen auf Basis der neuesten medizinischen Erkenntnisse niederschwellig, einfach und verständlich näherzubringen.
Mag. Erika Sander, Generalsekretärin der Gesellschaft vom Goldenen Kreuze, griff das Thema Gesundheitskompetenz
auf. Im Rahmen der PRAEVENIRE Initiative „Wissenschaft für die Jugend“, konkret mit der PRAEVENIRE Summer School, will man schon heuer im Juni eine Blaupause für schulische Gesundheitsbildung schaffen. „Und zwar nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern indem wir Gesundheit erklären und vor allem deren Wirkung erlebbar
machen. Gelingt dieser Versuch, hoffen wir, dass die Ansätze auf lange Sicht Eingang in die Lehrpläne der österreichischen Schulen finden“, so Sander.
„Die Pandemie hat deutlich gezeigt, dass das Verhalten der Menschen stark davon abhängt, ob sie der Wissenschaft
glauben oder nicht“, erklärte Schelling. Der gemeinnützige Verein PRAEVENIRE hat deshalb den „1. PRAEVENIRE Innovationspreis“ ins Leben gerufen, bei dem kreative Ideen und visionäre neue Wege der Versorgung in vier Kategorien (Steigerung der Gesundheitskompetenz, Intensivierung von Präventionsmaßnahmen, Fortschritt in der frühen Diagnose sowie Verbesserung der Compliance/Adhärenz) zu je 10.000 Euro prämiert werden.