Österreichs Gesundheitssystem steht unweigerlich vor einer Transformation. Der Umdenkprozess vom Gesundwerden zum Gesundbleiben ist in vollem Gange: Betriebliche Gesundheitsprävention hat durch Corona einen neuen Stellenwert erfahren, denn die Belastung der Gesellschaft ist hoch. Dr. Eva Höltl, Arbeitsmedizinerin und Leiterin des Gesundheitszentrums der Erste Bank AG, gibt im Gespräch mit PERISKOP einen Einblick in neue Lebens- und Arbeitsrealitäten. | von Mag. Julia Wolkerstorfer
Ein starkes betriebliches Gesundheitsmanagement kann — richtig eingesetzt — wie ein Elixier wirken. Und doch befindet es sich auf der Suche nach neuen Konzepten.
PERISKOP: Sie zeichnen im Gesundheitszentrum der Erste Bank für vielfältige Aspekte der betrieblichen Gesundheitsförderung verantwortlich. Was bedeutet Gesundheitsprävention im Jahr 2021?
HÖLTL: Betriebliche Gesundheitsförderung ist ein Bereich, der ständig in Bewegung ist, der sich ständig weiterentwickelt. Nach diesem Pandemiejahr blicken wir völlig neuen Herausforderungen ins Auge. Wir sehen jetzt ganz deutlich, dass sich die Herausforderungen geändert haben — weil sich die Arbeits- und Lebensrealitäten der Menschen geändert haben. Das Arbeiten in Open-Space-Büros, Homeoffice, geografisch sehr mobile Belegschaften, Menschen aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Gesundheitssystemen, die an einem Ort zusammenarbeiten, haben uns im letzten Jahr sehr deutlich gemacht, dass nicht nur Prävention, sondern auch der klassische Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerschutz in vielen Bereichen neu gedacht werden muss.
Die Fragen: Welche Gefährdungen gibt es, die die Gesundheit im Arbeitsleben ins Wanken bringen? Welche Schwerpunkte braucht es, um neuen Arbeitsformen, aber auch neuen demografischen Realitäten Rechnung zu tragen — das müssen wir mit Sicherheit neu definieren und mit neuen Konzepten darauf reagieren.
Corona hat in die Isolation geführt, aber auch neue Türen geöffnet …
Die Pandemie hat uns dazu gezwungen, größer zu denken: ein unfassbarer Digitalisierungsschub, eine neue Flexibilität durch mobiles Arbeiten, vor allem auch im Hinblick auf multinationale Belegschaften. Wir sind in den letzten Jahren sehr mobil geworden, womit auch der Infektionsschutz neu gedacht werden muss — nicht nur in Hinblick auf Covid-19. Auch endemische Geschehen, wie etwa Masernausbrüche in einem Nachbarland, betreffen uns und haben unmittelbare Auswirkungen auch auf unsere Unternehmen.
Hier kommen wir bereits zum ganz zentralen Thema der Gesundheitskompetenz. Sie ist definiert als das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen, relevante Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag Entscheidungen treffen zu können, die zur Erhaltung oder Verbesserung der Lebensqualität und Gesundheit während des gesamten Lebensverlaufs beitragen.
Gesundheitskompetenz ist also die Voraussetzung für gute Entscheidungen, und sie ist vor allem die Voraussetzung für gesundheitliche Chancengleichheit aller in Österreich lebenden Menschen. Dieses Basiswissen kann nur dort vermittelt werden, wo Menschen leben, lernen, arbeiten — also in Kindergärten, Schulen, am Arbeitsplatz, aber auch in Einrichtungen wie Pflegeheimen.
Auch das Thema Homeoffice schreit nach neuen Rahmenbedingungen …
Wir stehen durch die veränderten Arbeitsrealitäten vor neuen Aufgaben, etwa was die Digitalisierung betrifft. Die Möglichkeit, sofort und ortsunabhängig jederzeit zu allen Informationen zu kommen, ist eine riesige Chance, aber sie erfordert auch Wissen und Fähigkeiten. Etwa bei jungen Menschen: Wie kann ich die Qualität von Informationen beurteilen, wo finde ich evidenzbasierte Informationen? Auch die Frage der exzessiven Handy- oder Internetnutzung und deren möglichen Auswirkungen sowie die Frage nach ergonomischen Arbeitshaltungen zur Prävention von Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparats sollten bei völlig neuen mobilen Endgeräten, die von vielen nicht nur während der Arbeitszeit, sondern auch in der Freizeit genutzt werden, thematisiert werden.
Und ich bin sehr sicher, dass ein zeitgemäßer Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerschutz viel stärker als in der Vergangenheit darauf achten muss, Gesundheitskompetenz zu vermitteln — natürlich auch bezogen auf die tatsächlichen Arbeitsrahmenbedingungen. Gut informierte Menschen treffen gute Entscheidungen.
Die Pandemie hat uns dazu gezwungen, größer zu denken
Eva Höltl
In welchem Umfeld und über welche Kanäle kann Gesundheitskompetenz am besten erlangt werden?
Gerade im Bereich des Vermittelns von Gesundheitskompetenz ist die Digitalisierung natürlich eine unglaubliche Chance, über die wir Gruppen erreichen können, die wir sonst nur schwer erreichen — und ein zentrales Erfolgskriterium ist es, Informationen so zu kommunizieren, dass der Adressat ein Gefühl von Relevanz hat. Wir wissen aus Befragungen zur Gesundheitskompetenz, dem European Health Literacy Questionnaire (HLS-EU-Q16), dass ein erheblicher Teil der in Österreich lebenden Erwachsenen nach eigener Einschätzung Schwierigkeiten beim Zugang zu sowie beim Verstehen, Bewerten und Anwenden von Gesundheitsinformationen hat. Eine von der AOK durchgeführte, bundesweit repräsentative Studie zur digitalen Gesundheitskompetenz in Deutschland zeigte, dass es 48,4 Prozent schwerfällt zu beurteilen, ob digitale Informationen zuverlässig sind oder nicht. 40 Prozent finden es zudem „schwierig“ oder „sehr schwierig“, herauszufinden, ob hinter den Gesundheitsinformationen kommerzielle Interessen stehen. Das sind Zahlen, die klarmachen, dass hier viel mehr geschehen muss.
Gesundheitskommunikation, die wirken kann, muss auf die Lebenswelten der Zielgruppe eingehen, deren Anliegen ernst nehmen und deren Bedürfnisse kennen. Es ist unvorstellbar, dass sich ein junger Mensch etwa für das Thema „Ergonomieunterweisung“ interessiert. Allerdings spielt der Körper bei der Bewältigung vieler Entwicklungsaufgaben eine wichtige Rolle — auch in Fragen nach Attraktivität und Wirkung auf das eigene und die andere Geschlecht. Und das ist eine echte Chance, Themen wie Bewegung oder Ernährung zu platzieren und Relevanz dafür zu schaffen. Wenn das gut gemacht wird, kann es der Beginn einer sehr stabilen Interaktion werden, die Freude macht und wirkt. Dieser Ansatz spiegelt sich auch im Leitbild der WHO wider — „Make the healthy choice the easy choice“.
In puncto Gesundheitsvorsorge wird das Thema Eigenverantwortung immer lauter. Welchen Ansatz verfolgen Sie hier?
Ich bin eine große Freundin von Eigenverantwortung. Allerdings kann eigenverantwortliches Handeln nur dann eingefordert werden, wenn relevante Informationen für alle gleichermaßen zugänglich sind. Ich denke, wir sind uns einig, dass alle Menschen über möglichst gleiche gesundheitliche Chancen verfügen sollen, aber wir sehen, dass Lebenserwartung und vor allem gesunde Lebensjahre von sozialen Gegebenheiten beeinflusst sind. Die zentrale Frage lautet deshalb: Wie lassen sich die gesundheitlichen Chancen von Menschen verbessern, die aufgrund von Merkmalen wie Einkommen, Bildung, Geschlecht oder Migrationshintergrund sozial benachteiligt und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von Krankheiten betroffen sind? Es liegt auf der Hand, dass der einfache Zugang zu Informationen für alle ein erster Schritt sein muss.
Gesundheit am Arbeitsplatz kann nie im Silo gelöst werden.
Eva Höltl
Die soziale Isolation hat verstärkt zu psychosozialen Problemen geführt. Wie fangen Sie diesen Effekt der Krise auf?
Das Thema der psychischen Gesundheit war uns immer ein besonders großes Anliegen — aus mehreren Gründen. Einerseits wissen wir, dass psychische Erkrankungen in Österreich der häufigste Grund für krankheitsbedingte Erwerbsunfähigkeit — und damit Frühpensionen — sind. Andererseits wissen wir, dass psychische Gesundheit eine große Rolle dabei spielt, ob und wie jemand sein Erwerbsleben erfolgreich gestalten kann. Lebenslanges Lernen, Zusammenarbeit in Teams, die Belastbarkeit im Bewältigen von beruflichen Herausforderungen oder auch emotionale Stabilität im Kontakt mit Kunden sind zentrale Voraussetzungen für eine gelingende berufliche Laufbahn. Und diese ist — wie wir definitiv wissen — eine gewaltige Ressource, weil sie Selbstwirksamkeit und ein autonomes Leben ermöglicht. Außerdem entwickeln sich psychische Erkrankungen — die meisten jedenfalls — über Jahre, und es ist absolut unverständlich, hier nicht alle präventiven Potenziale zu nutzen. Wir wissen etwa, dass es im Schnitt sieben Jahre von der Erstverschreibung eines Psychopharmakons bis zum Stellen eines Antrags auf Frühpension dauert — und dieses Zeitfenster müssen wir besser nutzen. Der Ruf nach mehr Psychotherapie und mehr psychiatrischer Versorgung ist nachvollziehbar, aber natürlich auch der Tatsache geschuldet, dass wir offensichtlich erst dann reagieren, wenn es zu einer behandlungspflichtigen Erkrankung gekommen ist. Das ist für die Betroffenen leidvoll und für das Gesundheitssystem und übrigens auch den Arbeitsmarkt teuer.
Ihnen liegt Prävention bei Kindern und Jugendlichen ganz besonders am Herzen. Wird diese Zielgruppe in Österreich ausreichend ernst genommen?
Gerade bei Kindern und Jugendlichen, wo Prävention ja beginnen sollte, tun wir die Tatsache, dass psychische Erkrankungen sowie Phänomene wie etwa Cybermobbing oder Essstörungen — nicht nur während der Pandemie — zunehmen, oft mit einem Schulterzucken ab. Wir lesen, dass jährlich zwischen 20 und 30 Prozent der jungen Männer bei der Stellung als untauglich eingestuft werden, wir wissen, dass mehr als ein Drittel der 5- bis 19-Jährigen in Österreich übergewichtig ist, und — was aus meiner Sicht besonders nachdenklich stimmen sollte — wir wissen, dass der Gesundheitszustand unserer Kinder und Jugendlichen in vielen Bereichen sozioökonomisch determiniert ist. Es gibt also definitiv viele Gründe, diese Tatsachen ernst zu nehmen und hier gegenzusteuern.
Tatsächlich gibt es eine Vielzahl an Forschung, Einzelaktionen, Angeboten und Schwerpunkten von den verschiedensten Institutionen, Ländern und Gemeinden zum Thema Jugendgesundheit — viele von ihnen von durchaus hoher Qualität —, aber das alles ist dermaßen zersplittert, dass wir damit nicht in die Breite kommen, vor allem bestimmte Risikogruppen schwer erreichen und daher keine echte Verbesserung sehen können. Ich bin überzeugt, dass das nur lösbar ist, wenn wir es endlich schaffen, abgestimmte Prozesse und klare inhaltliche Standards und Zuständigkeiten zu schaffen.
Im Pandemiejahr hat sich als Folge sozialer Isolation auch das Suchtverhalten verstärkt. Wie reagieren Sie in Ihrem Unternehmen darauf?
Wir arbeiten in puncto Suchtprävention mit Expertinnen und Experten des Anton Proksch Instituts zusammen und wir legen einen besonderen Schwerpunkt auf unsere jüngsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Lehrlinge — spätestens hier sollte gezielte Prävention beginnen. Alle unsere Lehrlinge verbringen in ihrer ersten Woche einen Tag im Gesundheitszentrum und erhalten von verschiedenen Expertinnen und Experten Informationen zu gesundheitlichen Themen, die wir für diese Altersgruppe als wichtig erachten. Suchtprävention ist eines dieser Themen. Ein ganz besonderes Anliegen sind uns hier die nicht substanzgebundenen Suchterkrankungen — Spielsucht und Kaufsucht im Onlinebereich. Das sind Themen, die sich während der Krise verstärkt haben. Einsamkeit verstärkt die Suchtgefahr enorm.
Das Gesundheitszentrum der Erste Bank gilt als Vorreiter im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung. Ihr Betriebsgeheimnis?
Das sind ganz klar drei Dinge: Erstens habe ich das Privileg, in einem fantastischen und motivierten Team zu arbeiten, und ein Management, das sich für unsere Arbeit ehrlich interessiert und sie unterstützt. Zweitens habe ich den echten Wunsch, verschiedene Menschen wirklich zu verstehen, ihnen zuzuhören und auch von ihnen zu lernen. Menschen erkennen, ob man redliche Absichten hat, und gerade in der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention muss klar sein, was das Ziel ist. So ist es aus meiner Sicht sehr heikel, etwa das Senken von Krankenständen als alleinige Zielgröße vorzugeben, wie das oft geschieht — ich bezweifle, dass das zu einer guten arbeitsmedizinischen Betreuung führt. Wenn hingegen klar ist, dass es das Ziel ist, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen gesundheitlichen Belangen bestmöglich zu betreuen, relevante Informationen regelmäßig und zielgruppengerecht zur Verfügung zu stellen, Angebote zur beruflichen Teilhabe auch für Menschen mit chronischen Erkrankungen zu haben, dann sieht man, dass die Gesundheitskompetenz der Menschen sich verbessert — und Krankenstandzahlen ganz von alleine sinken. Drittens — und das ist mir besonders wichtig — ein klares Bekenntnis zu evidenzbasiertem Vorgehen, gerade in der Prävention. Es gibt absolut keine Maßnahme, die wir setzen, wenn es dafür keine ausreichende Evidenz gibt. Und hier ist die Zusammenarbeit mit universitären Einrichtungen und Fachgesellschaften — in unserem Fall die MedUni Wien — enorm hilfreich. Auch der Austausch mit anderen Playern aus dem Gesundheitsbereich, etwa mit der AUVA in der Frage der Prävention berufsbedingter Erkrankungen und der PVA in der Frage der Rehabilitation und beruflichen Wiedereingliederung, führt dazu, dass wir sehr gut abgestimmte und für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transparente Prozesse haben. Gesundheit am Arbeitsplatz kann nie im Silo gelöst werden und sie erfordert ein Verständnis für Public Health.
Stichwort Public Health — was gibt es zu tun?
Public Health meint ja genau das gemeinsame Handeln für eine nachhaltige Verbesserung der Gesundheit der gesamten Bevölkerung, und die WHO definiert die Ziele von Public Health in der „Verhinderung von Krankheiten, der Verlängerung des Lebens und die Förderung der Gesundheit“ (WHO 2011). Als anwendungsbezogene, für die Gesellschaft tätige Wissenschaft muss Public Health sich natürlich fortlaufend mit aktuellen Entwicklungen auseinandersetzen, relevante Themen benennen und Konzepte und Strategien entwickeln. Public Health hat hier eine Doppelfunktion — nämlich Wissenschaft und Praxis, unter dem Gesichtspunkt sich ständig verändernder Rahmenbedingungen in der Gesellschaft.
Die Pandemie hat in den vergangenen Monaten wie ein Vergrößerungsglas aufgezeigt, was gut funktioniert und wo wir Handlungsbedarf haben. Nach derzeitigem Wissensstand scheint es, dass sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen vergleichsweise häufiger mit dem Virus in Kontakt kommen und häufiger von einem schweren Erkrankungsverlauf betroffen sind, was zu einer Verschärfung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen könnte. Gründe dafür sind etwa schwierigere Erwerbs- und Arbeitsbedingungen, beengte Wohnverhältnisse oder — bei Kindern — eingeschränkte digitale Ressourcen und elterliche Unterstützung. Dies alles mitzudenken — im Planen von Maßnahmen des Infektionsschutzes, Testkonzepten, aber auch der Impfberatung —, ist in der Pandemie wichtig, aber natürlich auch in ganz besonderem Ausmaß in der Zeit danach.
Wissenschaft und Forschung haben durch die Coronapandemie einen massiven Aufschwung erfahren. Wie kann die Wissenschaft näher an die Menschen gebracht werden?
Die medizinische Forschung hat schon in der Vergangenheit Großartiges geleistet — was wir oft vergessen —, aber das letzte Jahr hat zweifellos gezeigt, dass medizinische Forschung durch Bündelung von Ressourcen und eine beeindruckende Kooperation verschiedener Akteure tatsächlich Erstaunliches zu leisten imstande ist. Das hat natürlich auch dazu geführt, dass sich durch Corona deutlich mehr Menschen für Forschung zu interessieren begannen und erkannt haben, dass Forschungsergebnisse dazu beitragen, gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen. Während der Krise haben Forschung und Wissenschaft einen ganz zentralen Stellenwert als zuverlässige Informationsquelle eingenommen. Es lohnt sich mit Sicherheit, diese Wissensvermittlung beizubehalten, um komplexe Sachverhalte erklären zu können und auch gezielt Menschen anzusprechen, die der Wissenschaft gegenüber skeptisch sind.
Gesundheitskommunikation, die wirken kann, muss auf die Lebenswelten der Zielgruppen eingehen und deren Anliegen ernst nehmen.
Eva Höltl
Wie kann das Vertrauen in die Wissenschaft gestärkt werden?
Otmar Wiestler, der Helmholtz-Präsident, hat das sehr schön beschrieben. Er meinte: „Wir haben es nicht immer ausreichend geschafft, deutlich zu machen, dass die Wissenschaft keine abschließenden Wahrheiten hat, sondern dass vieles abgewogen werden muss und durchaus noch Gegenstand von Kontroversen ist. Für uns ist dieser Austausch von Argumenten und Positionen normal, in der Öffentlichkeit wurde daraus schnell ein erbitterter Streit gemacht. Da müssen wir in Zukunft den Menschen besser erklären, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Gute Gesundheitskommunikation braucht Ehrlichkeit. Es ist ein Faktum, dass wir vieles noch nicht wissen. Datenerhebung braucht ihre Zeit. Und Daten brauchen wir vor allem in der Prävention, um Evidenz zu generieren. Letztendlich müssen erhobene Daten auch nutzbar gemacht werden, um zu wissen, in welchen Bereichen präventive Maßnahmen gut greifen oder wo noch nachgeschärft werden muss. Wir können aber — insbesondere nach dem Pandemiejahr, aber auch generell — sehr stolz sein auf Wissenschaft und Forschung und sollten diese auch nach Kräften unterstützen.
Das Thema Impfen zählt zu den klassischen Themen der Prävention. Wie hoch beurteilen Sie das Risiko, dass es durch Impfbefürworter und Impfskeptiker zu einer Spaltung der Gesellschaft kommen könnte?
Ich sehe das optimistisch. Wichtig ist es jetzt, dass möglichst viele Menschen zur Impfung gehen und sich auch ihren zweiten Stich holen. Wahrscheinlich werden wir auffrischen müssen. Und wir werden einige Menschen leider nicht erreichen. Ich glaube trotzdem, dass wir gerade jetzt nicht nachlassen dürfen, den enormen Vorteil, den jede und jeder Einzelne, aber auch die Gesellschaft, durch eine Impfung hat, gerade in den Gruppen zu kommunizieren, die eine skeptische Haltung Impfungen gegenüber haben. Wir wissen, das beste Rezept gegen Unsicherheit Impfungen gegenüber sind die „3 C“: Confidence — also das Vertrauen in Sicherheit und Wirksamkeit, aber auch Vertrauen in das Gesundheitssystem und die Motive der Entscheidungsträger, Complacency als Wahrnehmung von Krankheitsrisiken und ob Impfungen als notwendig angesehen werden, sowie Convenience als das Ausmaß wahrgenommener struktureller Hürden wie Zeitnot oder Aufwand. Das Beseitigen dieser Hürden wird nur durch gute Kommunikation, die auf verschiedene Zielgruppen eingeht und deren Bedenken ernst nimmt, möglich sein.
Was muss verändert werden, um Österreichs Präventionsagenden auf stärkere Beine zu stellen?
Eine nationale Präventionsstrategie, wie sie übrigens im Regierungsprogramm festgeschrieben ist, würde natürlich ungemein helfen, Akteuren in der Prävention und Gesundheitsförderung auf Bundes- und Länderebene sowie Krankenkassen, Pensions- und Unfallversicherungsträgern eine verlässliche Struktur für ihr Zusammenwirken zur Verfügung zu stellen und sich auf gemeinsame Ziele und Vorgehensweisen zu verständigen. Prävention braucht in der Gesellschaft endlich den Stellenwert, den sie verdient, und sie muss dort stattfinden, wo Menschen den Großteil ihrer Zeit verbringen. Nur so ist es möglich, auch Personen mit besonderem Unterstützungsbedarf zu erreichen, die von sich aus kaum die üblichen Präventionsangebote wahrnehmen. Leider sind es oft genau diese, die einen schlechteren Gesundheitszustand aufweisen bzw. ein erhöhtes Krankheitsrisiko haben.
Hier lohnt sich durchaus ein Blick ins benachbarte Deutschland, wo 2015 das Präventionsgesetz in Kraft getreten ist, das die Aufgaben und Zuständigkeiten der einzelnen Akteure definiert und als Ort der Prävention und Gesundheitsförderung ganz klar die Lebenswelten der Menschen benennt (gesund aufwachsen, gesund leben und arbeiten, gesund älter werden). Berufsgruppen wie Schulärztinnen und Schulärzte oder auch Betriebsärztinnen und Betriebsärzte sowie Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner haben dadurch klar definierte Aufgaben, die den Zielen der Public Health Rechnung tragen, und leisten so einen wertvollen Beitrag zu einer besseren Gesundheit für alle.
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Dr. Eva Höltl leitet das Gesundheitszentrum der Erste Bank AG und ist dort für alle Aspekte der betrieblichen Gesundheitsförderung verantwortlich. Seit 2020 ist sie Mitglied des Vorstands der Erste Stiftung, in der sie ihre Kenntnisse über die Wirkung sozialer Probleme auf die Gesundheit des Einzelnen und die Resilienz von gesellschaftlichen Gruppen einbringt. Höltl ist zudem Referentin an der Akademie für Arbeitsmedizin, Leiterin des wissenschaftlichen Beirats der österreichischen Akademie für Arbeitsmedizin und Prävention, Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Sprecherin der Initiative „Österreich impft”.
© Peter Provaznik