Die Digitalisierung hat die Art und Weise, wie Patientinnen und Patienten nach medizinischer Versorgung suchen und diese erhalten, grundlegend verändert. Mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGAs) und den strukturellen Anpassungen im Bereich der Patientenströme bietet sich im österreichischen Gesundheitswesen beträchtliches Potenzial zur Effizienzsteigerung.
Carola Bachbauer, BA, MSc
Periskop-Redakteurin
Welche Chancen und Potenziale, aber auch welche Hürden und Probleme es in Österreich bezüglich Digitalisierung und Patientenströme im Gesundheitswesen gibt, war das Thema der SV Lounge, die heuer im November im Josephinum stattfand.
Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung
„Die Sozialversicherung hat bereits vor einigen Jahren wichtige Schritte unternommen, um das österreichische Gesundheitssystem digitalisieren zu können, beispielsweise mit der Einführung der e-card oder der ELGA. Nun ist es unser Ziel, gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium und der Sozialversicherung, weitere Schritte zu unternehmen“, sagte Staatssekretär Florian Tursky MSc, MBA, in seinen einleitenden Worten. Als konkrete Beispiele für die Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung führte Tursky die e-card Abbildung für Smartphones und mehr Daten in der elektronischen Gesundheitsakte ELGA an. Aber auch der Digital Austrian Act mit seiner Erwähnung der DiGAs bringt Hoffnung, dass für diese bald ein gesetzliches Regelungssystem geschaffen wird.
DiGAs auf Rezept in Österreich noch nicht Realität
DiGAs haben das Potenzial, unser Gesundheitssystem auf innovative und kosteneffektive Weise weiterzuentwickeln. Dabei handelt es sich um digitale Anwendungen, die bei der Erkennung, Überwachung oder Therapie unterschiedlicher Krankheitsbilder zum Einsatz kommen. Im Gegensatz zu Lifestyle- oder Wellness-Apps sind DiGAs zertifizierte und zugelassene Medizinprodukte, die entweder direkte oder indirekte evidenzbasierte Diagnosen bzw. Behandlungen anbieten.
Während beispielsweise in Deutschland DiGAs im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können, wurde in Österreich noch kein Rechtsakt erlassen, der speziell DiGAs adressiert. Aufgrund dessen hat sich Dr. Monika Riedel, Senior Researcher am Institut für Höhere Studien (IHS), in ihrer Keynote mit den Erstattungsprozessen zu DiGAs im internationalen Vergleich auseinandergesetzt. Denn ein Blick über den Tellerrand bringt sowohl im Erstattungs- als auch im rechtlichen Bereich Vorteile. Österreich müsse nicht bei Null anfangen, sondern könne von den verschiedenen Vorgehensweisen der Länder lernen. „Hier sind sehr unterschiedliche Ansätze zu beobachten. So verfolgt das in der Digitalisierung führende Estland einen sehr Hands-on und pragmatischen Ansatz im Vergleich zu Deutschland, wo sehr regel- und ordnungsorientiert an diese Thematik herangegangen wird“, erklärte die Expertin und leitete mit ihrem Vortrag den ersten Themenblock „Digitale Anwendungen – Fortschritt oder Stillstand?“ der SV Lounge ein. Unter der Moderation von Mag. Wolfgang Wacek von der Sanova Pharma GesmbH brachten Ing. Mag. (FH) Christine Stadler-Häbich, Vorstandsmitglied bei Roche und AUSTROMED, Senatsrat Mag. Richard Gauss, Strategische Gesundheitsversorgung MA 24, Monika Riedel und Dr. Arno Melitopulos-Daum, Versorgungsmanagement der Österreichischen Gesundheitskasse ÖGK, ihre Perspektiven ein.
Wir könnten durchaus ein bisschen weiter vorne sein bei der Digitalisierung. Die Stadt Wien hätte sich auch bei den Finanzausgleichverhandlungen diesbezüglich mehr erwartet.
Richard Gauss
Mehr Mut zur Digitalisierung
„Seit fast drei Jahren begleite ich nun schon das Thema Digitalisierung und frage mich ehrlich gesagt, warum die Umsetzung in Österreich so lange dauert und wir noch immer darüber diskutieren. Ich sehe zwar Bewegung und sehr viel Dynamik im Prozess, wünsche mir aber, dass die Pläne auch in konkreten Maßnahmen umgesetzt werden und keine Lippenbekenntnisse bleiben“, betonte Stadler-Häbich. Ähnlicher Meinung ist auch Gauss: „Wir könnten durchaus ein bisschen weiter vorne sein bei der Digitalisierung. Die Stadt Wien hätte sich auch bei den Finanzausgleichverhandlungen diesbezüglich mehr erwartet.“ Dennoch werde laut Gauss die Stadt Wien gemeinsam mit der ÖGK ein Digitalisierungspilotprojekt starten. „Wir dürfen keine Angst vor dem Scheitern haben. Nur durch Pilotprojekte können wir die Digitalisierung vorantreiben und sehen, ob etwas funktioniert oder nicht“, appellierte der Senatsrat.
Die Skepsis der österreichischen Bevölkerung bezüglich der Datenverwendung sah Riedel als einen Grund für die langsame Entwicklung in der Digitalisierung: „Wir müssen uns ein bisschen davon lösen, dass ständig nur die Gefahren im Vordergrund stehen und uns mehr am möglichen Nutzen der Digitalisierung orientieren. Es bedarf auf beiden Seiten sowohl bei den Patientinnen und Patienten als auch bei den Anwendern Aufklärung.“
Laut Melitopulos-Daum braucht es vor dem Start des Erstattungsprozesses die Schaffung von rechtlichen Voraussetzungen. „Erst wenn gesetzlich festgehalten ist, dass es sich bei DiGAs um ein Medizinprodukt handelt, welches erstattet werden kann, kann die Sozialversicherung aktiv werden und ein Erstattungsregulativ erarbeiten.“
Best Place of Care
Der Themenschwerpunkt „Patientenströme lenken“ wurde mit einer Keynote von Dr. Alexander Biach, stellvertretender Direktor der Wirtschaftskammer Wien und Standortanwalt Wien, eingeleitet. Dabei präsentierte er die Ergebnisse einer Analyse der Wirtschaftskammer Wien, welche auf den volkswirtschaftlichen Nutzen durch die Optimierung von Patientenströmen eingeht. „Derzeit haben wir ein sehr krankenhauszentriertes System. Viel zu viele Patientinnen und Patienten suchen den Weg direkt ins Spital oder in die Ambulanzen. Dabei wäre in vielen Fällen der Weg zur niedergelassenen Ärztin oder zum niedergelassenen Arzt der viel günstigere und auch in vielen Fällen der bessere Weg“, betonte Biach. Konkret geht es um 2,5 Mrd. Euro, die im Gesundheitssystem eingespart werden könnten, wenn es gelänge Patientinnen und Patienten zum richtigen Behandlungspunkt zu führen. Durch technische und medizinische Fortschritte können mittlerweile viele Eingriffe nun auch ambulant oder im niedergelassenen Bereich gemacht werden. Als Beispiel führte Biach dazu die Operation des grauen Stars, Krampfadern oder Leistenbrüche an. „Im Durchschnitt belaufen sich die Kosten für eine stationäre ärztliche Behandlung im Krankenhaus auf 6.561 Euro. Ambulante Eingriffe schlagen mit durchschnittlich 432 Euro zu Buche, während ein Eingriff bei der niedergelassenen Ärztin oder beim niedergelassenen Arzt im Schnitt etwa 100 Euro kostet“, erklärte Biach und verdeutlichte damit noch einmal die unterschiedlichen finanziellen Aufwendungen je nach Art der medizinischen Versorgung und der Behandlungsumgebung.
Ein Mehrwert für die Patientinnen und Patienten würde sich ergeben, wenn sie bei 1450 nicht nur eine fundierte Erstberatung und Entscheidungshilfe, sondern auch gleich verbindliche Arzttermine bekommen könnten.
Alexander Biach
Ausbau der Gesundheitshotline 1450
Die Frage besteht nun darin, wie man Patientinnen und Patienten dazu bringt, anstatt ins Spital zum niedergelassenen Bereich zu gehen. Dies wurde in der von Mag. (FH) Magdalena Sattelberger von der SOLVE Consulting Managementberatung GmbH moderierten Podiumsdiskussion anschließend erörtert.
Als wichtige Maßnahme identifizierte Dr. Stefan Konrad, MBA, Digitalisierungsexperte der Wiener Ärztekammer und deren Vizepräsident, die Health Literacy: „Gesundheitskompetenz sollte bereits in den Schulen vermittelt werden. Diese ist in den Lehrplänen noch nicht ausreichend verankert. Wenn man die Menschen schon von klein auf entsprechend darauf aufmerksam macht, dass die erste Anlaufstelle bei Beschwerden die Primärversorgung ist, dann wird sich dies definitiv im späteren Verlauf des Lebens, wenn es vermehrt zu Krankheiten kommen kann, positiv auf das Gesundheitssystem auswirken.“ Zusätzlich betonte der Vizepräsident der Wiener Ärztekammer, dass im österreichischen Gesundheitssystem mehr Gewicht auf die Prävention gelegt werden sollte. Denn in dem man durch Präventionsmaßnahmen Krankheiten vorbeugt, entstehen starke Patientenströme erst gar nicht.
Biach brachte bei der Diskussionsrunde die bestehende Gesundheitshotline 1450 ins Spiel. Seiner Meinung nach könnte diese Hotline zu einer zentralen Anlaufstelle für Gesundheitsfragen ausgebaut werden. Biach erklärte: „Ein Mehrwert für die Patientinnen und Patienten würde sich ergeben, wenn sie bei 1450 nicht nur eine fundierte Erstberatung und Entscheidungshilfe, sondern auch gleich verbindliche Arzttermine bekommen könnten.“ Um Anreize für die Konsultation von 1450 bei nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen zu schaffen, schlug Biach vor, dass Patientinnen und Patienten bei Inanspruchnahme dieser Dienstleistung mit einer Befreiung von der Rezeptgebühr belohnt werden sollten. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), sprach in diesem Zusammenhang an, dass es bedauerlich sei, dass 1450 noch nicht digital implementiert ist. Mithilfe eines Algorithmus könnten Symptome und Beschwerden abgefragt werden und so Patientinnen und Patienten zum Best Place of Care geschickt werden. Zusätzlich könnte durch dieses Tool auch Wissen vermittelt werden, welches wiederum einen positiven Effekt auf die Gesundheitskompetenz hätte.
Laut Gauss werden jedoch alle Maßnahmen der Patientensteuerung nichts bringen, solange das entsprechende Angebot nicht vorhanden ist. „In der Bundeszielsteuerungskommision im Juni dieses Jahres kam heraus, dass die Bevölkerung in Österreich in den letzten zehn Jahren um 2,5 Prozent gewachsen ist. Des Weiteren ist die Zahl der Spitalärztinnen und -ärzte in Wien zwar um 4,3 Prozent gestiegen, jene der Kassenärztinnen und -ärzte jedoch um 8,2 Prozent zurückgegangen ist“, erklärte der Senatsrat. Bei den entsprechenden Angeboten müsse es sich jedoch nicht immer um eine Ärztin oder einen Arzt handeln, sondern der Bedarf könne eben auch durch digitale Möglichkeiten abgedeckt werden.
Erst wenn gesetzlich festgehalten ist, dass es sich bei DiGAs um ein Medizinprodukt handelt, welches erstattet werden kann, kann die Sozialversicherung aktiv werden und ein Erstattungsregulativ erarbeiten.
Arno Melitopulos-Daum
Wiener Gemeinderat begrüßt Vorschlag Biachs
Wenige Wochen nach der SV Lounge äußerte sich Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker positiv zu den konkreten Vorschlägen von Biach und bewertete diese als äußerst konstruktiv: „Ich kann den Vorschlägen des Wiener Standortanwaltes Alexander Biach, das Gesundheitstelefon 1450 zu einer zentralen Gesundheitsvermittlung auszubauen, sehr viel abgewinnen.“ Besonderes Interesse zeigte der Wiener Gesundheitspolitiker an dem Vorschlag, bei erfolgter Konsultation des Gesundheitstelefons auf die Rezeptgebühr im Falle einer Medikamentenverschreibung zu verzichten. „Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass wir in der Frage der weiteren Verbesserung von 1450 zu einem guten Ergebnis kommen werden und das zeigt uns, dass eine gute Gesundheitspolitik ganz im Sinne der Menschen in unserer Stadt keine Parteigrenzen kennt“, betonte Hacker.
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