Österreich braucht ein unabhängiges Screening-Komitee nach internationalen Vorbildern zur Evaluierung der Vorsorgeuntersuchung und des Mutter-Kind-Passes, forderte Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, MPH, von der Donau-Universität Krems in Seitenstetten. | von Mag. Beate Krapfenbauer
Bereits zweimal wurden die beiden großen Vorsorgeprogramme, die Vorsorgeuntersuchung und der Mutter-Kind-Pass, einer Evaluierung unterzogen. 2005 und 2019 haben Expertinnen und Experten evidenzbasiert Empfehlungen zur Adaptierung ausgesprochen. Allerdings wurden bis dato keine davon umgesetzt. Dabei steht die Präventionsmedizin zu Beginn des Versorgungspfades und sollte nach Expertenmeinung gestärkt werden. Bei den 6. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten legte Dr. Gerald Gartlehner, Experte für evidenzbasierte Präventionsmedizin sowie Evaluation und Professor am gleichnamigen Department der Donau-Universität Krems in seiner Keynote dar, weshalb die vorhandenen Konzepte aus den Schubladen geholt werden sollten, um Präventionsmaßnahmen in Österreich auf den neuesten Stand zu bringen.
Mehr Beratung, gezieltere Identifizierung von Risikogruppen und ein individualisierter Einsatz von Tests haben höheren Nutzen als breite Screenings.
Gerald Gartlehner
Historie und Ländervergleich
Gartlehner startete seine Keynote mit einem Überblick zum Status quo der Vorsorge in Österreich und zeigte, weshalb breite Screenings nicht immer den besten Nutzen für Früherkennung bringen. Dafür blickte er zurück in die 1920er Jahre, wo in den USA die Idee entstand, gesunde Personen, die Lebensversicherungen abschließen wollten, zu untersuchen. Bei den Probanden zeigten sich deutlich geringere Mortalitätsraten als versicherungsmathematische Modelle der Gesamtbevölkerung prognostiziert hatten. Das führte zum Trugschluss, dass möglichst umfangreiche Gesundenuntersuchungen die Gesundheit der Bevölkerung verbessern könnten. Der Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation merkte allerdings an, dass das nicht zwangsläufig so sein müsse. Denn tatsächlich sind jene Personen, die sich freiwillig Tests unterziehen, generell gesünder als der Durchschnitt. Dieses im Rahmen von Studien auftretende Phänomen kennt man heute als Selektionsbias. Breite Screenings bei Gesunden generieren aber auch falsch-positive Ergebnisse. Wie verzerrt diese ausfallen können, zeigte Gartlehner anhand eines Beispiels: Tausend Personen werden einem Test mit einer Sensitivität von 80 Prozent und einer Spezifizität von 70 Prozent unterzogen. Zehn dieser Personen haben eine Erkrankung, ohne davon zu wissen. Durch das Screening werden acht Erkrankte gefunden. Zugleich werden aufgrund der Spezifität der Tests aber auch 297 falsch-positive Testergebnisse produziert, sprich falsche Alarme, die weitere Untersuchungen oder unnötige Behandlungen nach sich ziehen. „International hat man das Problem, dass Präventionsmedizin genau abgewogen werden muss, bereits früh erkannt“, weiß Gartlehner. In Kanada wurde 1976 die Canadian Task Force on Preventive Healthcare ins Leben gerufen, in den USA 1984 die U. S. Preventive Services Task Force gegründet und 1996 zog das Vereinigte Königreich nach. In Österreich gibt es bis heute keine vergleichbare Institution. „Im Vergleich mit anderen Ländern hinkt Österreich den internationalen Entwicklungen hinterher“, gab er zu denken und ist überzeugt, „dass ein Screening-Komitee nach den internationalen Vorbildern wie in Kanada, in den USA und im Vereinigten Königreich auch in Österreich dringendst notwendig wäre.“ In einem Screening-Komitee könnten sich unabhängige Expertinnen und Experten die Evidenz der österreichischen Vorsorgeprogramme und Präventionsmaßnahmen genau ansehen und darauf basierend nach Abwägung von Nutzen und Schaden Empfehlungen abgeben“, appellierte Gartlehner an die verantwortlichen Akteure des Gesundheitssystems.
Evidenzbasierte Empfehlungen
Bereits 2005 gab es erstmals den Versuch, die Vorsorgeuntersuchung auf evidenzbasierte Beine zu stellen. Dabei wurde festgestellt, dass im Rahmen breit angelegter Screenings, also Untersuchungen asymptomatischer, eigentlich gesunder Personen, zumindest vier der 20 Parameter keinen sinnvollen Nutzen erbringen. Konkret sind das: Rotes Blutbild bei Frauen, Bestimmung des Gamma GT, Serum Triglyceride und Harnstreifentest. Doch aufgrund von standespolitischen Einwänden wurden sie beibehalten. „Zuletzt hat unser Institut 2019 evidenzbasierte Empfehlungen zur Überarbeitung erstellt. Denn es gibt Untersuchungen, zu denen es Evidenz gibt und die nachweislich einen gesundheitlichen Nutzen stiften würden, etwa Screenings nach abdominellem Aortenaneurysma, chronischer Niereninsuffizienz, die Bestimmung des osteoporotischen Frakturrisikos sowie bei Risikogruppen. Diese werden aber nicht durchgeführt“, beschrieb er die Ergebnisse. Die Auftragsstudie wurde nach internationalen Standards durchgeführt und es wurden Evidenzen internationaler Reviews systematisch aufbereitet. Auf dieser Basis hat eine Expertengruppe Verschiebungen der Vorsorgeuntersuchungsparameter erstellt. Prinzipiell vorzunehmende Verbesserungen wären: die Durchführung von weniger Test dafür aber die Umsetzung eines individualisierten Testeinsatzes sowie mehr Beratung und eine bessere Identifikation von Risikogruppen. Leider wurden die Empfehlungen bei einer Bearbeitung der Vorsorgeuntersuchung 2020 nicht berücksichtigt. Die Konsequenz für die österreichische Bevölkerung sei, so Gartlehner, dass auf der einen Seite immer noch Werte abgefragt werden, von denen bekannt ist, dass es in dieser Breite nicht sinnvoll ist. Auf der anderen Seite aber gäbe es Untersuchungen mit hoher Evidenz und gesundheitlichem Nutzen, die nicht bezahlt und daher nicht durchgeführt werden.
Vieles in der Präventionsmedizin sei gut gemeint. Dabei werde jedoch darauf vergessen, Nutzen und Schaden abzuwägen, so wie bei anderen Interventionen auch. Abschließend musste Gartlehner daher die Frage des Titels seiner Präsentation „Haben wir evidenzbasierte Präventionsmedizin in Österreich?“ mit einem klaren „Nein“ beantworten. Er wies allerdings auf das kürzlich gegründete „Nationale Screening-Komitee auf Krebserkrankungen“ hin und nannte es einen „Lichtblick“, der als Vorbild wirken und einen wichtigen Fortschritt für die evidenzbasierte Präventivmedizin einleiten könnte.
© Donau-Universität Krems/Skokanitsch
PRAEVENIRE Initiative Gesundheit 2030
Block 2 | Optimierung der Gesundheitsversorgung & Pflege
Programm im Rahmen der PRAEVENIRE Gesundheitstage 2021
Keynotes
Haben wir Evidenzbasierte Präventionsmedizin?
Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, MPH | Donau-Universität Krems, Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation
Chronisch schlecht versorgt? Handlungsbedarf im Bereich chronischer Krankheiten?
Dr. Thomas Czypionka | IHS, Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik
Wie werden Menschen möglichst spät Pflegefälle?
Mag. Barbara Fisa, MPH | The Healthy Choice
Demenz: Optimale Versorgung
Univ.-Prof. Dr. Stefanie Auer | Donau-Universität Krems, Zentrum für Demenzstudien
Können Roboter bei der Betreuung von Pflegefällen unterstützen?
Hon.-Prof. Dr. Rainer Hasenauer | INiTS — Universitäres Gründerservice Wien
Digitalisierung und KI in der Diagnostik — Das Potenzial der Technologie am Beispiel des Zervixkarzinom-Screenings
Priv.-Doz. Dr. Hans Ikenberg | Gesellschafter und stellv. Geschäftsführer MVZ CytoMol Zytologie und Molekularbiologie Frankfurt GbR