Zum zweiten Mal sind über 80 einschlägige Expertinnen und Experten am 29. Juni im Parkhotel Hirschwang am Fuße der Rax zusammengekommen, um sich an diesem herrlichen Sommertag ganz dem Wohl, der Gesundheit und der Rehabilitation der jüngsten Bevölkerungsgruppe zu widmen. | von Mag. Beate Krapfenbauer
Gleich vorweg das Resümee des Tages: Markus Wieser, Obmann des Fördervereins Kinder- und Jugendlichenrehabilitation in Österreich, stellte zwei konkrete politische Forderungen: Erstens sei eine „Kinder- und Jugendgesundheitsmilliarde“ notwendig.
„Jeder Cent, der in die Kinder- und Jugendgesundheit investiert wird, hilft bei der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen und spart dem Gesundheitssystem später ein Vielfaches
ein.“ Zweitens beanspruchte Wieser: „Wir brauchen in Österreich ein eigenes Staatssekretariat für die Kinder- und Jugendgesundheit im Gesundheitsministerium, das die nächste Bundesregierung umsetzen muss.“ Die Gesundheitsexpertinnen und Gesundheitsexperten, die Mitwirkenden an den Workshops und Plenumsbesucher waren nach dem produktiven Gipfelgespräch so positiv gestimmt, dass dem Aufruf „Hirschwang soll das neue Alpbach für die Kinder- und Jugendgesundheit werden!“ ein zustimmender Applaus folgte.
Der Reihe nach: 2. Gipfelgespräch in Folge
Die Ambitionen waren berechtigt, denn nach der erfolgreichen Premiere des ersten ganztägigen PRAEVENIRE Gipfelgesprächs war die Erwartungshaltung entsprechend hoch. Berechtigte, hohe Ansprüche stellen der Förderverein Kinder- und Jugendlichenrehabilitation in Österreich wie auch das PRAEVENIRE Gesundheitsforum an die Gesundheitsversorgung der Jüngsten in der Bevölkerung seit Beginn an. Die beiden gemeinnützigen Vereine haben sich zusammengeschlossen, um dem wichtigen Anliegen eine prägnante Plattform zu geben.
Nach der interessanten Auftaktveranstaltung im Vorjahr war allen Beteiligten klar, dass es eine Fortführung braucht, um den wichtigen Anliegen und Anforderungen eine kontinuierliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen und den Erfordernissen und Forderungen an politische Entscheidungsträger Nachdruck zu verleihen. In den Tag gestartet wurde mit einer Podiumsdiskussion. Die niederösterreichische Gesundheitslandesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig, der Generaldirektor der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK)
Bernhard Wurzer, der Vorstand der Landes-Gesundheitsagentur Konrad Kogler und der Obmann des Fördervereins Kinder- und Jugendlichenrehabilitation in Österreich Markus Wieser zeigten die Möglichkeiten zur Verbesserung der Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich aus
ihrer Perspektive und ihrem Handlungsspielraum.
Im Detail: Die 4 Kernthemen
Für das ganztägige PRAEVENIRE Gipfelgespräch am Fuße der Rax wurden vier Kernthemen eingetaktet. Zu jedem Thema war ein Fachexperte eingeladen. Sie gaben mit ihren Keynotes wichtige Impulse für die themenkorrespondierenden Workshops im Anschluss. Die Aufgabenstellung der Arbeitsgruppen war es, die wichtigsten Probleme im jeweiligen Feld aufzudecken und gleichzeitig Lösungsvorschläge dafür zu entwickeln. Die Ergebnisse wurden am Nachmittag im Plenum präsentiert und diskutiert.
Das erste Thema, Gesundheitskompetenz für Kinder und Jugendliche, stand heuer wieder am Programm. Im Vorjahr stellte der Kinder- und Sportarzt Dr. Holger Förster vor allem den Bewegungsaspekt in den Vordergrund. In der Arbeitsgruppe regte er einen bis 18 Jahre
gültigen Eltern-Kind-Pass als Erweiterung des derzeitigen Mutter-Kind-Passes an und prägte den Ausdruck „GesundheitsVERziehung“. Dieses Jahr hielt Univ.-Prof. Dr. mult. Eckhard Nagel die Keynote. Als geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth rollte er die Thematik einerseits von der theoretischen und andererseits von der praxisorientierten Seite auf. Er betonte: „Kinder und Jugendliche sind deshalb eine besonders relevante Zielgruppe für Maßnahmen zur Steigerung der Gesundheitskompetenz, weil
hier die besten Chancen auf ein nachhaltiges Wohlbefinden und Gesundheit im gesamten
Lebensverlauf liegen. Ferner wirkt sie der Entwicklung von sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheiten entgegen.“ Die größte Herausforderung sieht Nagel in der Informationsflut und der explodierenden Anzahl digitaler Kommunikationskanäle. Damit sei es einerseits möglich, Gesundheitsinformationen schneller und einfacher mit der jungen digital affinen Zielgruppe zu teilen. Andererseits sei es ein Leichtes, interessensgeleitete, manipulative oder falsche Informationen zu streuen. Diese Problematik wurde im Workshop weiterdiskutiert, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen überein, dass Gesundheitskompetenz Medienkompetenz bedinge. Nagel bestätigte, dass der Wandel in der Gesundheitskommunikation „starke kritische
und analytische Fähigkeiten bei der Empfängerin bzw. beim Empfänger“ erfordert und führte beispielgebende Projekte zur Steigerung der Gesundheitskompetenz an. Das von der Stiftung Gesundheitswissen konzipierte Medienpaket „Pausenlos gesund“ für die Sekundarstufe 1 (im deutschen Schulsystem) ist crossmedial aufgebaut. Anhand von Arbeitsblättern, Experimenten, Projektarbeiten und Recherchen in digitalen Kommunikationskanälen werden die fünf Kernkomponenten (nach Paakkari/Paakkari 2012) theoretisches und praktisches Wissen, kritisches Denken, Selbstwahrnehmung und Staatsbürgerschaft ganzheitlich vermittelt. Diese Unterrichtsmaterialien sind so aufgebaut, dass sie die vier Arten von Kompetenzkategorien (nach Gnahs 2010) ansprechen: Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Selbstkompetenz sowie Sozialkompetenz. Damit kann die Kompetenzentwicklung über gesundheitliche Aspekte hinaus und nachhaltig gefördert werden. Die am Workshop Mitwirkenden kamen zu dem Schluss, dass eine derart umfassende und weitreichende Materie nicht nur in den Unterrichtsfächern zu integrieren ist, sondern ein eigenes Schulfach braucht. Dies wird sowohl in Deutschland als auch in Österreich seit langem diskutiert und ist eine der wichtigen Forderungen im PRAEVENIRE Weißbuch, die von der Gesundheits- und Bildungspolitik rasch umzusetzen wäre. Dafür braucht es zusätzlichen Wissenserwerb seitens der Pädagoginnen und Pädagogen, weiß Nagel: „Es zeigte sich im Zuge des Projektgestaltung, dass es an themenspezifischen Fachkenntnissen fehlt. Die Lehrkräfte an Oberfrankens Schulen äußerten auch die Notwendigkeit, der Gesundheitskompetenzvermittlung mehr Zeit einräumen zu können.“ Optimal wäre es, das neue Fach individuell zu gestalten: interdisziplinär in das Schulsystem einzubetten, unter Eigenverantwortung der jeweiligen Schule, mit verhältnisorientierten Aktivitäten und orientiert nach den jeweiligen Ressourcen.
Das zweite Thema beschäftigte sich mit den Belastungen in der COVID-19-Pandemie. Darüber sprach Univ.-Prof. Dr. Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie der MedUni Wien. Studien belegen einen Anstieg an Angstzuständen und
Depression bei den jüngeren Altersgruppen. Weltweit sind die Zahlen an Akutvorstellungen in medizinischen Einrichtungen, Suizidversuche und Vorstellungen an pädiatrischen Intensivstationen nachweislich gestiegen. Die Symptome sind unterschiedlich, von Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen, Essstörungen bis zu suizidalen Gedanken. Der
durch Schulschließungen bedingte Lernverlust schlug besonders bei Kindern mit geringerem Bildungshintergrund auf. Innerhalb der Gruppe der Lehrlinge waren am stärksten weibliche oder non-binary Jugendliche mit Migrationshintergrund betroffen und insbesondere zeigten sich Symptome bei Arbeitslosigkeit (lt. zitierter Studie Dale et al. 2021).
Plener kritisierte, dass derzeit keine gegensteuernden Maßnahmen erfolgen, psychosoziale
Hilfsangebote unzureichend seien und Prävention, niederschwellige Angebote, Behandlungsplätze und Monitoring benötigt werden.
Das dritte Thema widmete sich den Lücken der Grundimmunisierung bei Kindern und
Jugendlichen. Mag. Dr. Daniela Kohlfürst kam von der Medizinischen Universität Graz
zum PRAEVENIRE Gipfelgespräch nach Hirschwang. Als Expertin der Forschungseinheit für Infektiologie und Vakzinologie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde gab sie einleitend in ihrer Keynote einen Überblick zum aktuellen Impfplan Österreich. Aus der Steiermark konnte sie berichten, dass die Grundimmunisierung bei Kindern abgenommen hat. Pandemiebedingt hat sich die Durchimpfungsrate verschlechtert.
Aufgrund der Schulschließungen und des damit verbundenen pandemiebedingten Ausfalls, berichtet der WAVM-Jahresbericht 2021 ein Minus von 41,5 Prozent kostenfreier Schulimpfungen bei den 6- bis 15-Jährigen. Die Impfexpertin betonte, warum Impfungen
so wichtig sind: „Für viele Erkrankungen sind sie die effizienteste Strategie zur Prävention und Kontrolle, da keine kausale Therapie verfügbar ist.“ Kohlfürst wies auf einen WHO-Bericht hin, der 2019 die Impfskepsis als eine der zehn größten globalen Gesundheitsbedrohungen nannte. In der Literatur lassen sich diesbezüglich fünf Schlüsselfaktoren finden: Vertrauen, Risikobewusstsein, Bequemlichkeit, Ausmaß der Informationssuche und Verantwortung für die Gemeinschaft. Der Impfskepsis zu begegnen, sei mit umfassender Aufklärung, einer einfachen Zugänglichkeit ohne Aufwand und Kosten möglich. Einen großen Fortschritt wird die finale Umsetzung des e-Impfpasses mit Erinnerungsfunktion (per SMS etc.) bringen. „Sehr wichtig
wäre“, so die Impfexpertin, „dass jede Ärztin und jeder Arzt impfen darf, entsprechende
impfrelevante Fortbildung vorausgesetzt, und die Leistung inklusive Aufklärungsgespräch auch verrechnen kann.“ Kohlfürst sprach auch noch die „opportunity vaccination“ an, die es Ärztinnen, Ärzten erlaubt, z. B. Partner, Eltern, Kinder mitimpfen zu dürfen. Das ist nach heutiger Rechtslage nicht immer der Fall. Dieser Workshop war wohl jener, in dem – spiegelgleich zur Diskussion in der Gesellschaft – am heftigsten debattiert wurde.
Zum vierten Thema Aktuelles aus der Kinder- und Jugendlichenrehabilitation berichtete Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl. Der Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendheilkunde des LKH Hochsteiermark und Generalsekretär der ÖGKJ zeigte eingangs eine Österreichkarte mit den sechs bestehenden Kinder- und Jugendlichen-Rehazentren in den Versorgungszonen.
343 Betten stehen derzeit für Kinder- und Jugendlichenreha zur Verfügung. Rechnet man vier Wochen durchschnittliche Reha-Aufenthaltsdauer, sind das bei Vollauslastung 4.460 Patientenaufnahmen. Die größten Herausforderungen liegen in der Kinder- und Jugendlichenrehabilitation vor allem darin, dass es sich um teilweise sehr kleine Einheiten handelt, der Tagsatz mit maximal 250 Euro limitiert ist, die Personalakquise nicht einfach ist (Arbeitsvorstellungen u. v. a.) und auch Vorerfahrung fehle. Dazu kommen aktuelle Probleme,
besonders Corona, eine schlechte Auslastung, die teilweise von der fehlenden Kenntnis der
Zuweisenden herrührt, Mehraufwand für Freizeitbetreuung, ein nicht kostendeckender
Betrieb und nicht „versorgbare“ medizinische Teilbereiche (z. B. Cardio-Pulmo). Dazu besteht in der Kinder- und Jugendlichenrehabilitation ein wichtiges Zusatzkriterium, nämlich dass für den Zeitraum des stationären Aufenthalts die Begleitperson dabei sein sollte. Für diese gibt es allerdings arbeitsrechtlich keine generelle Freistellung und zum Teil wären die Begleitpersonen ebenfalls therapiebedürftig. Entsprechend großflächig und vielfältig besteht nach wie vor Handlungsbedarf für Verbesserung. Dieser beginnt bei dringend notwendiger Valorisierung, Sicherung einer (Ganzjahres-)Auslastung, Personalakquise, Reduktion von Abweisungen, Adaptieren von Indikationen und deren Zuteilung, über eine eventuelle Redimensionierung der Einrichtungen, bis hin zur Verankerung des Anspruchs auf Begleitung (ganzjährig) und die Erweiterung der FOR auf andere Bereiche. Wichtige Schritte wären laut Kerbl die Zuweisenden,
Stakeholder, Betroffenen und die Öffentlichkeit mit Informationen zu versorgen, d.h. die
Presse- und Medienarbeit zu intensivieren bzw. mit Aussendungen über Vereine die Medien für das Thema zu sensibilisieren. Für bestehende Einrichtungen ist es wichtig, die vorhandenen Maßnahmen zur Qualitätssicherung (Eltern-Feedback, Sichtung der Arztbriefe, systematische Erhebungen, Tätigkeitsberichte etc.) weiter beizubehalten und zu erweitern. Eine Erhebung durch den Förderverein Kinder- und Jugendlichenrehabilitation in Österreich ergab eine überwiegend positive Bewertung. Kritikpunkte sind, dass es teilweise zu wenig Therapieeinheiten und unvollständige Vorinformationen gibt, Therapien teilweise nicht „treffsicher“ sind und teils zu wenig Einzeltherapie geboten wird; außerdem das begrenzte Freizeitangebot für die Jungen und ihre Begleitperson, die auf die Ferienzeit begrenzte Begleitmöglichkeit und vor allem die Tatsache, dass die familienorientierte Rehabilitation nur in der Hämato-Onkologie möglich ist. Speziell daran ist anzusetzen, so Obmann Wieser, denn: „Eltern, die wichtig für die Genesung der Kinder sind, müssen diese zur Reha begleiten können und deshalb dafür auch die arbeitsrechtliche Möglichkeit zur Freistellung bekommen. Und es muss auch genügend Betreuungsmöglichkeiten für Kinder mit psychischen Problemen geben.“
Fortsetzung folgt: 2023 am Fuße der Rax
Das dritte PRAEVENIRE Gipfelgespräch am Fuße der Rax ist für 28. Juni 2023 bereits eingeplant. Die Veranstaltung in Hirschwang wird somit zum Zentrum für den Austausch
zwischen Gesundheitsexpertinnen und -experten, der Wissenschaft, Fachleuten und Praktikerinnen und Praktikern. Damit wird eine kontinuierliche Weiterarbeit gewährleistet, um den Herausforderungen der Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich weiterhin kreative Lösungsansätze bieten zu können.