Mehr als ein Viertel der Bevölkerung leidet an Allergien. PERISKOP sprach mit dem Innsbrucker Allergie-Spezialisten a. o. Univ.-Prof. Dr. Norbert Reider und mit Otto Spranger, dem Geschäftsführer der Selbsthilfegruppe Lungenunion, über den aktuellen Stand und Trends bei der Hyposensibilisierungstherapie| Von Rainald Edel, MBA
PERISKOP: Warum sollte sich ein Gesundheitssystem überhaupt um Allergien kümmern?
Reider: Es gibt zahlreiche allergische Erkrankungen, die gesellschaftlich und fürs persönliche Leben hochrelevant sind, wie zum Beispiel Berufsdermatosen. Handekzeme sind die häufigste Ursache für Berufskrankheiten überhaupt. Das kommt noch lange vor berufsbedingtem Asthma und anderen Dingen. Wenn wir von Inhalationsallergien sprechen, dann ist festzustellen, dass das ein Massenphänomen ist, weil rund 25 Prozent der Bevölkerung unter einer Inhalationsallergie leiden. Die wichtigsten Auslöser sind Pollen, Hausstaubmilben und Tierhaare. Ein wichtiger Aspekt ist, dass ein relevanter Teil der Patientinnen und Patienten, vor allem Kinder und Jugendliche, einen, wenn sie unbehandelt bleiben, sogenannten Etagenwechsel durchmachen. Das bedeutet, dass die Allergie sich von den oberen Atemwegen auf die Lunge ausbreitet und zu Asthma führen kann. „Allergien werden von der breiten Bevölkerung unterschätzt und sind daher auch unter- diagnostiziert.“
P: Welchen Einfluss wird der Klimawandel auf das Allergen-Spektrum haben?
Reider: Das ist bereits relativ gut erforscht. In Tirol etwa ist der Pollenflugstart heute durchschnittlich drei Wochen früher als noch vor 25 Jahren. Dazu kommt, dass sich die Baumgrenze um gut 200 Meter nach oben verschoben hat. Das heißt, wir haben insgesamt eine längere Pollenflugzeit zu verzeichnen und klimatisch günstigere Bedingungen für die gesamte Pflanzenwelt. Dadurch können auch Pflanzen heimisch werden, die sich bisher aufgrund der tieferen Jahresdurchschnittstemperaturen bei uns nicht etablieren konnten. So ist zum Beispiel Ragweed in Ostösterreich bereits seit Jahren ein signifikanter Auslöser von Heuschnupfen. Irgendwann könnte das auch in Westösterreich der Fall sein. Zum Klimawandel kommen zusätzliche unspezifische Faktoren hinzu, wie beispielsweise eine gestiegene Ozon-, sowie Feinstaubbelastung, Diesel und Tabakrauch, die zumindest im dringenden Verdacht stehen, Wegbereiter allergischer Reaktionen zu sein.
P: Herr Spranger, sind Sie der Meinung, dass die Patientinnen und Patienten hier ausreichend informiert sind? Auch um die mögliche Ernsthaftigkeit einer Allergie?
Spranger: Allergien werden von der breiten Bevölkerung unterschätzt und sind daher auch unterdiagnostiziert. Derzeit dauert es rund sechs Jahre, bis eine Patientin oder ein Patient zu einer Diagnose kommt. Das ist natürlich auch den oft nur saisonalen Belastungen geschuldet. Die Betroffenen haben einige Wochen ihre Probleme, die dann wieder vergehen, und das Problem gerät für ein Jahr in Vergessenheit.
Reider: Schätzungen gehen davon aus, dass nur rund 10 Prozent aller Inhalations- und Insektengiftallergikerinnen und -allergiker einer spezifischen Immuntherapie (Hyposensibilisierung) zugeführt werden.
P: Kausal behandeln kann man ja nur mit der Spezifischen Immuntherapie, mit dem Nachteil, dass sie lange dauert und eine oftmalige Arzt-Konsultation erfordert. Wie sehen Sie die Patientenwünsche?
Spranger: Die Compliance der Patientinnen und Patienten ist sowohl bei der Immuntherapie als auch beim Asthma als schlecht zu beurteilen. Das betrifft sowohl die subkutane Verabreichung als auch die oral verabreichte Immuntherapie. Es ist sicher auch eine Frage der Aufklärung in der Bevölkerung. Vielen ist nicht bewusst, dass man unbehandelt Asthma bekommen kann. Bisherige Versuche, Betroffene mittels Nachrichten an ihren Therapietermin zu erinnern, haben nicht den gewünschten Erfolg gebracht.
P: Wie kann man Ihrer Meinung nach die Therapietreue der Patientinnen und Patienten erhöhen?
Reider: Ein Grundproblem liegt in der Immuntherapie, wie wir sie heute kennen. Wenn man vor zehn Jahren Patientinnen und Patienten eine Immuntherapie verordnet und sie dazu aufgefordert hat, in den nächsten drei Monaten wöchentlich zu kommen, haben das viele Patientinnen und Patienten, ohne mit der Wimper zu zucken, akzeptiert. Im heutigen aggressiven Arbeitsmarkt können es sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kaum erlauben, so oft zum Arzt zu gehen. Ein weiterer Grund ist, dass das Honorar für die Verabreichung einer Subkutanen Immuntherapie zwischen 2,30 und 2,50 Euro liegt. Da ist der gesamte Aufwand darin enthalten, von der Vorbereitung der Spritze, der Patientenbefragung zum Gesundheitszustand bis hin zur Nachbeobachtung und dem, wenn auch sehr geringen Risiko, einer anaphylaktischen Reaktion. Es ist daher kein Wunder, dass sogar in unserem eigenen Fachgebiet, der Dermatologie, von manchen Kolleginnen und Kollegen, die Immuntherapie gar nicht mehr angeboten wird, weil es sich wirtschaftlich nicht auszahlt.
P: Herr Spranger hat zuvor die lange Dauer angesprochen, bis sich ein Erfolg einstellt. Ist das zu lange?
Reider: Was es in der Zukunft braucht, wären bessere Präparate. In den seltensten Fällen, haben die Betroffenen das rasche Gefühl einer Verbesserung. Auch muss man klar sagen, dass die Wirkung der jetzt verfügbaren Präparate nicht so toll ist. Mit Ausnahme der Insektengift-Präparate. Die Heilungsquote bei Wespengiftallergien liegt bei 95 Prozent, bei der Bienengift-Allergie immer noch bei deutlich über 90 Prozent. In allen anderen Fällen liegt die Erfolgsquote bestenfalls bei 30 Prozent über Placebo. Nachdem die Placebo-Rate schon sehr hoch ist, kommt man in Summe auf eine Verbesserung von 50 bis 60 Prozent. Das klingt zwar nicht schlecht, vermittelt aber den Patientinnen und Patienten oft nicht den Eindruck, dass sie geheilt sind.
Spranger: Zu Bienen-Wespen-Allergien möchte ich noch ergänzen, dass es hier eine ganz andere öffentliche Wahrnehmung gibt. Schon vor der Saison findet das Thema in den Medien großen Widerhall. Hier ist eine viel breitere Sensibilisierung in der Bevölkerung vorhanden. Daher wird das Thema viel stärker wahrgenommen als bei anderen Allergenen.
P: Nach der Diagnose findet die weitere Behandlung ja meist wohnortnah durch Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner statt. Wie schätzen Sie deren Motivation ein, die Patientinnen und Patienten bei der Stange zu halten?
Reider: Als problematisch sehe ich, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Ärztinnen und Ärzte gar keine Immuntherapie anbietet, da ihnen die Ausbildung fehlt. Kolleginnen und Kollegen, die in ihrer Ausbildung die Durchführung der Immuntherapie z. B. bei uns an der Hautklinik erlernt haben, sind wertvolle und unverzichtbare Partner in der Praxis, ohne die ich gar nicht arbeiten könnte. Dazu kommt noch, dass es eine Unzahl an Präparaten gibt, die alle etwas unterschiedlich funktionieren. So gab es vor der Therapieallergenen-Verordnung 2007 unglaubliche 6.500 Präparate, heute sind es immerhin noch um die 70. Das stellt im stressigen Alltag von Ärztinnen und Ärzten schon eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar.
Spranger: Ich glaube auch, dass viele Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner nicht ausreichend auf einen möglichen anaphylaktischen Notfall vorbereitet sind und auch aus diesem Grund eine Hyposensibilisierungstherapie nicht anbieten.
P: Kommt es bei der Immunisierungstherapie öfters zu dramatischen Zwischenfällen?
Reider: Ich führe pro Jahr rund 4.000 Hyposensibilisierungen durch und hatte noch nie einen bedrohlichen Zwischenfall. Ich sehe bei subkutanen Immunisierungstherapien in der Größenordnung von 0,5 Prozent Nebenwirkungen, die relevant sind. Die reichen von starken Lokalreaktionen über Atemnot bis zu Nesselausschlag. Die Ursache ist in den meisten Fällen, dass die Patientin oder der Patient die notwendigen Begleitmaßnahmen, wie möglichst auf Alkohol zu verzichten oder nach der Behandlung schwere körperliche Anstrengungen zu meiden, oder Infekte nicht beachtet hat. Insgesamt ist dies bei korrekter Vorgehensweise seitens aller Beteiligten eine sehr sichere Therapie. Bei der sublingualen Therapie mit Tropfen und Tabletten sind die Probleme noch weit geringer.
P: Sie haben zuerst die Komplexität und Unterschiedlichkeiten in der Handhabung der Präparate angesprochen. Woran können sich Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner orientieren? Gibt es Leitlinien?
Reider: Es gibt die Therapieallergen-Verordnung, die auf eine Initiative des deutschen Paul-Ehrlich-Instituts zurückgeht und die Qualität der Impfstoffe verbessern wird. Bis vor einiger Zeit wurden auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und Klinische Immunologie (DGAKI) jene Präparate veröffentlicht, die die strengen Wirksamkeitskriterien des Paul-Ehrlich-Instituts erfüllen.
P: Wie wird sich die Behandlung von Allergien in Zukunft gestalten? Was wünschen Sie sich, um die Behandlung der Betroffenen in Österreich zu verbessern?
Reider: Es gibt bereits drei Immuntherapie-Präparate am Markt, die Arzneispezialitäten sind, also Medikamente im herkömmlichen Sinn, die eine echte Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) haben und in den Apotheken mit Rezept einfach abgeholt werden können. Alle anderen Immuntherapiemedikamente sind nominal Individualrezepturen. Sie müssen mittels Bestellbogen angefordert werden und die Patientin oder der Patient muss wochenlang auf den Impfstoff warten. Die nahe Zukunft sehe ich daher, auch was die Einfachheit der Anwendung betrifft, in den Allergietabletten. Langfristig erhoffen wir uns einerseits Präparate, die durch neue Technologien bei wesentlich besserer Wirkung vielleicht überhaupt nebenwirkungsfrei sind, und andererseits irgendwann eine echte Impfung gegen Allergien, wie wir sie beispielsweise von Kinderkrankheiten kennen.
Spranger: Wir leben in einer Convenience-Gesellschaft, in der es eher akzeptiert ist, sich vier Mal im Jahr eine Spritze abzuholen, als täglich daran zu denken, eine Tablette einzunehmen oder regelmäßig einen Arztbesuch einplanen zu müssen. Daher wäre es mein Wunsch, dass wir rasch zu Therapieformen kommen, die gesellschaftlich akzeptabel sind und rasch Abhilfe schaffen. A. o. Univ.-Prof. Dr. med. Norbert Reider studierte Medizin an der Universität Innsbruck. Nach einigen Jahren der Grundlagenforschung am Innsbrucker Institut für Biochemische Pharmakologie wechselte er 1992 in die Abteilung Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Universitätsklinik Innsbruck, deren Allergieambulanz er seit 1996 leitet. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur Regulation der Atopie, viele Buchbeiträge und führt klinische Studien zur Spezifischen Immuntherapie bei Allergieerkrankungen durch. Otto Spranger wechselte nach dem Studium an der Universität Wien in die Industrie, wo er von 1980 bis 1997 als Direktor für Marketing und Vertrieb tätig war. 1998 machte er sich mit einer Kommunikationsberatungsfirma im Gesundheitsbereich selbständig. Sein Engagement in Sachen Allergien und Asthma resultiert nicht zuletzt aus der eigenen Betroffenheit. Um auch anderen Betroffenen zu helfen und Informationen zur Verfügung zu stellen, gründete und leitet er die Selbsthilfeorganisation Österreichische Lungenunion. 2009 gründete er die Global Allergy & Asthma Patient Platform.