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Gentherapien: Vom Hoffnungsschimmer zur Realität

Gruppenfoto
© KRISZTIAN JUHASZ

Gentherapien: Vom Hoffnungsschimmer zur Realität

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In den kommenden Jahren werden Gentherapien speziell bei seltenen Erkrankungen die Behandlungsoptionen erweitern. Was ehemals eine Hoffnung war, wird derzeit in die klinische Praxis eingeführt. Ein Beispiel sind Gentherapien zur Behandlung der Hämophilie A und B, wie bei den PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten zu hören war

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Wolfgang Wagner

Gesundheitsjournalist

Kein Zweifel: Gentherapien bieten große Chancen auf verbesserte Therapieoptionen bei schweren, genetisch bedingten Erkrankungen. Claas Röhl, Vorstandsmitglied von Pro Rare Austria: „In Österreich leben rund 450.000 Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Mehr als 70 Prozent dieser Krankheiten haben genetische Ursachen. Viele Betroffene könnten potenziell einen Nutzen aus einer Gentherapie ziehen. Das ist ein riesengroßer Hoffnungsschimmer. Derzeit finden 94 Prozent der Patientinnen und Patienten mit Seltenen Erkrankungen keine zugelassene Therapie vor.“

Bluterkrankheit

Univ.-Prof. Dr. Cihan Ay von der Klinischen Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie der Universitätsklinik für Innere Medizin I der MedUni Wien: „Die Gentherapie bringt wirklich große Hoffnungen für Hämophilie-Patienten. Die Hämophilie ist auch eine sehr gute Modellerkrankung für diesen Zugang.“

Gerade bei Patientinnen und Patienten mit einem genetisch bedingten Mangel bestimmter Blutgerinnungsfaktoren stellen die neuen Ansätze bereits unmittelbare Realität dar. Ay: „Wir haben zwei Zulassungen für Gentherapien. Letztes Jahr eine für die Behandlung der Hämophilie A mit einem Mangel an Blutgerinnungsfaktor VIII; seit Februar gibt es in der EU eine Zulassung für eine Gentherapie für die Hämophilie B (Faktor IX-Mangel; Anm.). Derzeit haben wir aber noch keinen Zugang zu diesen Therapien.“

Die Situation der Menschen mit Hämophilie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch gewandelt. Laut dem Hämostaseologen ist die Lebenserwartung der Menschen mit schwerer Hämophilie in den vergangenen 100 Jahren stark angestiegen. Während diese ursprünglich 12 Jahre betrug, erreichen Patientinnen und Patienten heute fast dasselbe Alter wie die Allgemeinbevölkerung.

Ende der 1980er-Jahre und bis in den Anfang der 1990er-Jahre hinein sank die Lebenserwartung wieder deutlich ab. Zuvor hatten die Blutgerinnungsfaktoren aus Spenderplasma zwar zu einer dramatisch verbesserten Lebenssituation der Betroffenen geführt, doch man wusste zunächst nichts über die Gefahren der Übertragung von Virushepatitis und HIV durch diese Blutgerinnungsfaktor-Konzentrate.

„Das war eine Tragödie, aber auch ein Treiber für Innovationen“, betonte Ay. Die Gene für die Blutgerinnungsfaktoren VIII und IX wurden entschlüsselt, geklont, es kamen die ersten gentechnisch hergestellten rekombinanten und somit virusfreien Faktorpräparate auf den Markt. Hämophilie-Patienten müssen diese Medikamente als Substitution für ihre fehlenden Blutgerinnungsfaktoren regelmäßig injizieren. „Der Gipfelpunkt ist jetzt die Gentherapie, bei der genetisches Material in die Zellen der Patienten eingebracht wird. Wir wollen den Schweregrad der Erkrankung transformieren, eine schwere Hämophilie in eine milde Form verwandeln oder erreichen, dass die Patientinnen und Patienten überhaupt ohne Gerinnungsfaktorbedarf auskommen.“

Im Fall der Gentherapien bei Hämophilie wird die Erbinformation der Patientin bzw. des Patienten selbst nicht verändert. Durch eine einmalige Behandlung wird eine funktionelle Version des krankheitsverursachenden Gens, des sogenannten Transgens, in die Leberzellen gebracht und dort im Zellkern abgelegt. Dadurch können die Leberzellen die fehlenden Blutgerinnungsfaktoren wieder produzieren. „Bei der Hämophilie handelt es sich also um eine Gen-Addition“, erklärte der Experte. Bei Therapieansprechen werden laut Prof. Ay Gerinnungsfaktorpräparate nicht mehr benötigt, da ausreichend Blutgerinnungsfaktoren vorhanden sind.

Bei der Therapie der Hämophilie kommt das Prinzip der „In vivo-Gentherapie“ zur Anwendung: Die Gentherapie wird der Patientin bzw. dem Patienten direkt injiziert. Anders als bei der Exivo-Therapie ist es nicht notwendig, vorab Zellen aus der Patientin bzw. dem Patienten zu isolieren und im Labor zu modifizieren. Als Transportmittel für das therapeutische Gen werden Viren, sogenannte Vektoren, verwendet. Diese Vektor-Viren können sich nicht mehr vermehren, aber besitzen nach wie vor ihre Fähigkeit, bestimmte Zellen zu infizieren. Ihre eigene genetische Information wird entfernt und durch jene des Transgens ersetzt. Im Falle der Hämophilie-Gentherapien handelt es sich bei den Vektoren um Adeno-assoziierte Viren, in welche die Erbinformation für den gewünschten Blutgerinnungsfaktor (VIII oder IX) eingebracht ist. Die eingefügten Transgene integrieren sich bei dieser Form der Gentherapie in der Regel nicht ins Genom der Patientinnen bzw. Patienten.

Noch sind aber nicht alle Fragen zum Wert und zur Effektivität der Hämophilie-Gentherapien abschließend geklärt. Wie Ay darstellte, können immunologische Abwehrreaktionen gegen die Genvektoren die Wirksamkeit der Behandlung herabsetzen. „Wir machen uns natürlich Gedanken, wie lange die Effekte anhalten. Derzeit gibt es aber schon Sechs-Jahres-Daten (Hämophilie B; Anm.), wo wir vielversprechende Ergebnisse mit einem anhaltenden Effekt haben.“ Bei der Hämophilie A ist der Beobachtungszeitraum gentherapeutisch behandelter Patienten noch etwas kürzer. Hier zeigte sich im Verlauf von zwei bis drei Jahren ein leicht abnehmender Effekt der Behandlung.

Ökonomische Aspekte

Innovative Arzneimittel und Behandlungskonzepte sind auch mit zum Teil hohen Kosten verbunden, was regelmäßig zu Diskussionen unter Entscheidungsträgern, aber auch zu öffentlichen Diskussionen führt. Dr. Thomas Czypionka, leitender Gesundheitsökonom am Institut für Höhere Studien (IHS), betonte in diesem Zusammenhang, dass man auch einrechnen müsse, welche Aufwendungen für andere Therapien und indirekten Kosten durch eine wirksame Gentherapie vermieden werden: „Man muss auch betrachten, was an Kosten wegfällt.“

Wenn beispielsweise durch eine CAR-T-Zelltherapie bei einer bösartigen hämatologischen Erkrankung die Notwendigkeit einer Stammzelltherapie entfalle, sei das eine bedeutsame Kostenersparnis. „Wenn ein Multiples Myelom geheilt wird, stellt das einen Durchbruch dar“, erklärt der Experte. Auch hohe indirekte Kosten könnten durch neue, potenziell kurative Therapien bei sonst chronischen Erkrankungen eingespart werden.

Zuerst der Patientennutzen

„Grundsätzlich hat das solidarische österreichische Gesundheitswesen den hohen Anspruch, alle funktionierenden Therapien, die gewissen Kriterien entsprechen, zur Verfügung zu stellen. Die Frage des Patientennutzens ist vor der ökonomischen Frage zu klären“, erklärte Andreas Huss, stellvertretender Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse. Schon jetzt werde eine Gentherapie bei genetisch bedingter neuromuskulärer Erkrankung mit Kosten von bis zu zwei Millionen Euro bezahlt. „Das System ist sehr leistungsfähig.“ Man schaffe es auch regelmäßig, mit den Anbietern solcher Therapien in Verhandlungen einen gangbaren Finanzierungsweg zu finden. Zukünftig dürfte es mit den Finanzausgleichsverhandlungen zu einer verbesserten Regelung mit eventuell neuem Finanzierungskreis („Topf“) für kostenaufwendige Therapien kommen. „In allen Papieren der Beteiligten ist enthalten, dass teure Medikamente und Therapien gemeinsam zu finanzieren sind“, sagte Huss. Damit wolle man für die Zukunft die in der Vergangenheit aufgetretenen Probleme mit Diskussionen und Streitigkeiten darüber, wo solche Therapien erfolgen – im Spital, ambulant oder in der niedergelassenen Praxis –, die „auf dem Rücken der PatientInnen“ ausgetragen wurden, aus der Welt schaffen.

Kein Kostentreiber

Der Gesundheitssprecher der ÖVP im Nationalrat und ehemalige Rektor der MedUni Graz, Univ.-Prof. Dr. Josef Smolle, zeichnete ein optimistisches Zukunftsbild: „Die Sozialversicherung und die staatliche Finanzierung des Gesundheitswesens haben das Ziel, in Österreich jeden relevanten Gesundheitsbedarf abzudecken. Wir sehen die Gentherapie als Herausforderung und als Chance. À la longue glaube ich, dass die Gentherapie nicht ‚der‘ Kostentreiber sein wird, sondern vergleichsweise eher eine günstige Therapieoption werden wird.“ Beispielsweise seien die Entwicklungsschritte bei Gentherapien für manche Erkrankungen ähnlich, was sich positiv auf die Entwicklungskosten auswirken könne.

„Ich durfte 40 Jahre die Entwicklung der Hämophilietherapie überblicken. Es gab Quantensprünge. Jetzt gibt es eine Möglichkeit, die Behandlung dieser Krankheit, zumindest für einen Teil der Betroffenen, grundlegend zu verändern“, erzählte Josef Zellhofer, Vorsitzender der ÖGB ARGE-Fachgruppenvereinigung für Gesundheits- und Sozialberufe (ÖGB/ARGE-FGV). Wenn man daran denke, was die rekombinant hergestellten Blutgerinnungsfaktoren bei ihrer Einführung gekostet hätten, seien die Aufwendungen für eine Hämophilie-Gentherapie „nur ein Bruchteil“.

Folgeschäden minimieren

„Einsparen“, so Zellhofer, sei kein gutes Wort. „Blutungen in die Gelenke und Gelenksoperationen werden verhindert, es entfällt die Substitutionstherapie, die wir derzeit haben. Krankenhausaufenthalte reduzieren sich in Richtung Null.“ Die Lebensqualität könne auf das Niveau Gesunder gehoben werden, die Lebenserwartung werde vergleichbar mit jener der Allgemeinbevölkerung. „Das sollte man den Ökonomen ins Stammbuch schreiben.“ „Für die Familien ist das natürlich ein unglaublicher Hoffnungsschimmer. Das bedeutet eine Zukunft für die betroffenen Kinder“, sagte Mag.a Dr.in Caroline Culen, Geschäftsführerin der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. Wie groß die Chancen durch gentherapeutische Verfahren seien, zeige sich bei jenem zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie (SMA). Der Unterschied in der Entwicklung eines Kindes, welches noch nicht rechtzeitig mit einer Gentherapie behandelt werden konnte, und eines erst vor zwei Jahren geborenen zweiten Kindes derselben Familie mit erfolgter SMA-Gentherapie sei enorm. Die Entwicklung der Kinder sei diametral entgegengesetzt – ein praktisch gesundes und ein schwer behindertes Kind.

Psychische und soziale Belastungen

Was in Österreich fehlt, seien zusätzliche Betreuungsangebote für die betroffenen Familien. Pflegeaufwand, eingeschränkte Möglichkeiten zur Berufsausübung durch die Eltern und verschiedene psychische und soziale Belastungen dürften nicht unbeachtet bleiben.

Culen und auch Röhl betonten, dass man in Österreich durch mehr Information der Betroffenen erst eine Akzeptanz für die neuen Behandlungsverfahren fördern müsse. Jede Patientin und jeder Patient sollte eine fundierte Entscheidung treffen können. Insgesamt, so Röhl, benötigten die österreichischen Expertisezentren für Seltene Erkrankungen mehr Ressourcen für die Versorgung von Betroffenen und für die Forschung. Angelika Widhalm, Vorsitzende des Bundesverbandes Selbsthilfe Österreich (BVSHOE), begrüßte die „sehr positive Haltung der Österreichischen Gesundheitskasse“, die Patientinnen und Patienten bei Fragen hinsichtlich des Zugangs zu innovativen Therapien und deren Bezahlung „nicht im Regen stehen zu lassen“. Die oft auftretende Verunsicherung – „Wer zahlt was?“ – der Betroffenen könnte man leicht durch mehr Information ausräumen.

Wichtige Aufgabe Patient Journey

„Ich habe selbst vier Freunde, die auch Hämophilie-Betroffene waren, verloren. Das ist schrecklich und bedeutet unvorstellbares menschliches Leid“, machte Widhalm auf die mit HIV bzw. Hepatitis verbundenen Tragödien vieler Bluter in der Vergangenheit aufmerksam. Gentherapien könnten in der Zukunft eine neue Chance bei mehr als einem Dutzend seltener Leberkrankheiten darstellen, auch bei solchen, welche oft erst im höheren Lebensalter auftreten. Hier sei beispielsweise die Hämochromatose zu nennen. „Die ‚Patient Journey‘ ist eine wichtige Aufgabe. Das Begleiten der Patientinnen und Patienten durch das Gesundheitssystem, da müssen wir besser werden. Die Psyche ist in Österreich noch immer ein Stiefkind“, erklärte die Vorsitzende des Verbandes der Selbsthilfeorganisationen.

Fazit: Die Gentherapie stellt bei genetisch bedingten Seltenen Erkrankungen eine enorme Chance auf langfristige Kontrolle der Erkrankung dar. Wirksamkeit und Kosteneffizienz – so auch Prof. Ay und Gesundheitsökonom Dr. Czypionka – hängen aber wesentlich von der Auswahl der für die Behandlung am besten geeigneten Betroffenen ab. Ay: „Die Ansprechraten betragen bis zu 96 Prozent. Wo sehen wir in der Medizin sonst so gute Therapieerfolge?“

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