Rezeptblock | Folge 1
Primary Health Care ist mehr als Allgemeinmedizin oder Primärversorgungseinheiten
Dr. Ernest G. Pichlbauer
ist unabhängiger Gesundheitsökonom und Publizist.
Eine 75-Jährige, seit sechs Monaten verwitwet, kommt ein- bis zweimal pro Woche zum Hausarzt. Was könnte das Problem sein? Selbst Laien antworten schnell mit „Einsamkeit“ oder „Trauer“. Und das ist es wohl in der Regel auch. An dem Punkt stellen sich zwei Fragen:
- Warum Hausarzt?
- Was kann der tun?
Die erste Frage ist leicht beantwortet. Traurig und einsam zu sein, fühlt sich ungesund an. Der Mensch fokussiert sich dann auf alle möglichen Symptome – und geht damit zur Ärztin oder zum Arzt.
Die zweite Frage ist schon schwerer zu beantworten. Therapie gibt es eigentlich keine, es sei denn, die Trauer ist derart stark, dass sie einen therapierbaren Krankheitswert hat und so einen sozialversicherungsrechtlichen Fall auslöst. Dann könnte eine Verschreibung eines Antidepressivums oder eine Überweisung zu einem Psychiater erfolgen. Aber in der Regel ist das nicht nötig. Andere Leistungen sind jedoch im Katalog des Hausarztes nicht enthalten, können nicht enthalten sein, weil die Krankenkassen für Krankheiten zuständig sind. Trauer und Einsamkeit sind meist keine Krankheit – und dann eigentlich kein Fall für den Arzt. Die Patientin bzw. der Patient sitzt allerdings bei ihm?
Ein weiteres Beispiel
Wer Durst hat, der geht zur Wasserleitung und trinkt. Doch was, wenn sie/er nicht gehen kann? Sollen wir Durst, ein gesundheitliches Problem, nicht adressieren und warten, bis daraus eine Dehydration entstanden ist, um sicherzustellen, dass die Patientin bzw. der Patient nun sicher krank und damit Leistungen versichert sind? Wer aber übernimmt Organisation und Kosten für die pflegerische Betreuungsleistung, damit die Dehydration NICHT eintritt?
Und genau an solchen Punkten scheitert in Österreich die Idee des Primary Health Care (PHC), bzw. die Umsetzung der Idee mit stark regulierten PVE. PHC arbeitet mit dem sogenannten bio-psychoozialen Krankheitsmodell der WHO, das gesundheitliche Probleme (also nicht nur Krankheiten) der Bevölkerung in einem definierten Einzugsgebiet adressiert. Hier geht es um mehr als nur die Behandlung einer biologischen Fehlfunktion, also einer Krankheit, sondern auch um deren Bedeutung und Querverbindung in und mit der Umgebung und der Psyche. PHC ist also ein Prozess, der nicht zwischen Sozial- und Gesundheitssystem unterschiedet. Die Trennung zwischen gesundheitlichen Problemen, die tendenziell dem Sozialsystem zugerechnet werden, und Krankheiten, die ins Gesundheitssystem fallen, muss aufgehoben werden. An dieser Grenze, die jährlich millionenfach berührt ist, dreht sich, demographiebedingt, im Grunde alles. Wer an der Grenze versucht, durch zentrale Regularien Mirkomanagement zu betreiben, etwa durch das Honorarsystem der Krankenkassen oder strikte Personalvorgaben des Bundes für PVE, wird scheitern. Zu vielfältig ist die Welt des PHC.
Statt Mikromanagement Flexibilität, statt zentral dezentral – im Grunde geht es darum, rund um definierte Einzugsgebiete (rund um einen Hausarzt, der nicht mehr als 1.500 EW versorgen sollte) auf Gemeindeebene Koalitionen der Willigen zu bilden und einfach anzufangen. Ärzteschaft, Pflegekräfte, Apotheken, Therapeutinnen und Therapeuten, Betreuungsdienste sollen sich zusammentun und tun, was sie für das Beste halten. Idealerweise unter der Moderation der Bürgermeister. Denn, was wo wie funktioniert, ist kaum und schon gar nicht zentral planbar. Und es gibt auch keine Garantie, dass eine Maßnahme zum Erfolg führt. Trial and Error, und die Hoffnung, dass irgendwer daraus lernen will, sind so ziemlich die einzige Option. Kluge Gesundheitspolitik würde daher die PHC-Ebene deregulieren und dafür Ergebnisse messen und fordern.
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