Der Verdauungstrakt ist Fokuspunkt für viele Pathologien. Diese Erkenntnis ist im Gesundheitssystem noch nicht flächendeckend angekommen. Prä- und probiotische Produkte, die hier zur Prävention von Erkrankungen oder einer verbesserten Wirksamkeit von Medikamenten helfen würden, sind lediglich „nice to have“. | von Mag. Renate Haiden, MSc
Rund 70 Prozent aller Immunzellen befinden sich in unserem Verdauungstrakt. Eine intakte Darmflora ist daher ein unverzichtbarer Bestandteil der Gesundheit. Umgekehrt gilt: Sind die Mikroorganismen dort aus dem Lot, kommt es häufig zu Erkrankungen wie Stoffwechselstörungen, Adipositas oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch psychischen Disbalancen, die weitreichende Folgen auf die individuelle Lebensqualität, aber auch auf das Gesundheitssystem haben können
Die Ursachen für die Störungen der Darmflora sind oft ein komplexes Zusammenspiel aus scheinbar einfachen Lebensstilmaßnahmen: der Bewegung, der Ernährung und einer ausgeglichenen Psyche. Gerade Fehlernährung und Bewegungsmangel schädigen die nützlichen Bakterien in der Darmflora und ihre lebenswichtige Vielfalt wird massiv reduziert.
Diese Disbalance kann dazu führen, dass die Darmbarriere durchlässiger für bestimmte Stoffe in den Blutkreislauf wird wo aber nicht alle davon hingehören. Mediziner sprechen vom „Leaky Gut“, wenn diese Schutzbarrieren unseres Körpers zur Außenwelt beeinträchtigt sind. Dazu zählen neben dem gesamten Verdauungstrakt auch die Haut oder die Lunge.
Die Gesamtheit aller körpereigenen Mikroorganismen, die nicht nur im Darm für mehr
Gesundheit sorgen, wird auch als Mikrobiom bezeichnet, das eine wesentliche Rolle in der
Entwicklung der angeborenen und adaptiven Immunantwort spielt. Die Zusammensetzung ist so individuell wie ein Fingerabdruck und bildet so auch die Lebensumstände des jeweiligen Menschen ab. Es lässt sich zum Beispiel eine erhöhte Stressbelastung ebenso wie Entzündungs- oder Zellalterungsprozesse an der Zusammensetzung des Mikrobioms ablesen. Denn: Altert der Mensch, altert auch das Mikrobiom. Mit höheren Lebensjahren kommt es in der Regel zu einer Veränderung der Bakterienzusammensetzung im Darm, die den Gesundheitsstatus negativ beeinflussen kann.
Einfache Beispiele verdeutlichen den Zusammenhang: Schon bevor moderne Sequenzierungstechniken die Mikrobiomforschung zu einem „Hot Topic“ in der Medizin machten, zeigten Daten aus den 1980er-Jahren, dass Alkoholkonsum zu einer bakteriellen Überwucherung des Dünndarms und zu einer Verminderung von Laktobazillen führt.
Die erste große Studie, die 2014 mittels Sequenzierungstechniken in China durchgeführt wurde, zeigt eine Verminderung der Diversität bei gleichzeitigem Anstieg der Gesamtbakterienzahl und ein Überwiegen von pathogenen Keimen. Auch unbehandelte orale Infekte erhöhen nicht nur die Risiken für neurodegenerative Erkrankungen, sondern auch für progredient verlaufende Arteriosklerosen, COVID-19-Infektionen oder Morbus Alzheimer. Immerhin finden sich allein in der Mundhöhle rund 500 verschiedene Bakterienstämme, manche davon hochpathologisch. Porphyromonas gingivalis ist nicht nur der Markerkeim für schwere und aggressive Formen der Parodontitis, sondern auch bei Menschen mit Demenz oder Alzheimer in hoher Konzentration nachweisbar. Tägliche Zahnhygiene hat zur Prävention von Erkrankungen ebenso hohe
Relevanz wie Händewaschen.
Warum Darm und Psyche zusammenhängen
Seit 2007 das „Human Microbiome Project“ vom United States National Institute of Health
ins Leben gerufen wurde, konnte das menschliche Mikrobiom zu rund 90Prozent charakterisiert und die Auswirkung von Veränderungen auf Gesundheit und Krankheit beschrieben werden. Erst seit wenigen Jahren weiß die Forschung auch über das bidirektionale Kommunikationssystem, die sogenannte „Gut-BrainAchse“, Bescheid, die Darm und Gehirn über neuronale Wege verbindet. Eine Störung in der Diversität des Darmmikrobioms kann daher
auch Auswirkungen auf die Gehirnfunktion haben und stellt sich zunehmend als Risikofaktor für neurologische und psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen, Demenz oder Alzheimer heraus.
Es gibt ausreichend wissenschaftliche Evidenz, dass sich die Wirksamkeit von bestimmten Arzneimitteln verbessern lässt, wenn parallel Probiotika verabreicht werden.
Anita Frauwallner
„Das Konzept der DarmHirn-Achse stellt einen wichtigen Ansatz für die Entwicklung neuer Therapiestrategien für psychische Erkrankungen dar und soll den betroffenen Patientinnen und Patienten zu einer Verbesserung ihrer Lebensqualität verhelfen. So zeigen Studiendaten, dass eine Einnahme eines Multispezies-Probiotikums die Mikrobiomzusammensetzung bei Patientinnen und Patienten mit Depressionen positiv moduliert. Probiotika sind auch im Bereich der Stressverarbeitung erfolgreich einsetzbar. Studien aus Deutschland zeigen, dass diese die Stressverarbeitung verbessern können und bei gesunden Menschen den Umgang mit Stressbelastung erleichtern“, beschreibt Univ.-Prof. Dr. Friedrich Leblhuber, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Geriatrie in Linz. Er betreut eine Reihe von Patientinnen und Patienten mit Alzheimer, Demenz oder Depressionen und sieht hier wichtige Handlungspotenziale: „Bei all diesen Erkrankungen spielt die Silent Inflammation eine große Rolle. Diese chronischen, subklinischen Entzündungen werden durch eine Belastung mit bakteriellen Lipopolysacchariden ausgelöst. Sie können schon zehn bis zwanzig Jahre vor dem Auftreten der ersten Krankheitssymptome nachgewiesen werden.“ Leblhuber plädiert dafür, dieses therapeutische Fenster zu nutzen, indem das Darmmikrobiom schon frühzeitig entsprechend moduliert wird.
Eine abnorme Anordnung von Protein-Fibrillen ist als Amyloid-Strukturen bekannt und wird
mit der Entstehung von Krankheiten wie Alzheimer und Typ-II-Diabetes in Zusammenhang gebracht. Dem Zusammenhang von neurodegenerativen Erkrankungen und dem Mikrobiom ist auch der Naturwissenschaftler Dr. Karl Skriner von der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Rheumatologie und klinische Immunologie CCM der Charité Berlin auf der Spur: „Wir haben den molekularen Mechanismus entschlüsselt, mit dem Bakterien Proteasen spalten, die zur Fibrillenbildung und über Jahre hinweg zu Demenz führen. Jetzt sind wir der Frage auf der Spur, wie dieser Mechanismus umgangen oder verhindert werden kann.“ Ebenso forscht Skriner im Bereich von Multipler Sklerose (MS) und der Rolle von Bakterien: „Bei bestimmten
Erkrankungen im Bereich des zentralen Nervensystems kann es zu einer lokalen Bildung von Immunglobulinen kommen, die durch Bakterien ausgelöst wird. Das Verteilungsmuster dieser oligoklonalen Banden im Vergleich zwischen Blutserum und Liquor kann Hinweise auf die zugrunde liegende Störung liefern.“ Damit liegt erstmals ein verlässlicher Biomarker für MS vor, gleichzeitig korreliert das Vorhandensein der Immunglobuline mit dem Ansprechen auf MS-Medikamente.
In dieselbe Kerbe schlägt auch Mag. Anita Frauwallner, Präsidentin der Österreichischen
Gesellschaft für Probiotische Medizin (OePROM): „Es gibt ausreichend wissenschaftliche Evidenz, dass sich die Wirksamkeit von bestimmten Arzneimitteln verbessern lässt, wenn parallel Probiotika verabreicht werden.“
Mehr Gesundheitskompetenz erforderlich
Viele dieser Erkenntnisse aus der Grundlagenwissenschaft sind noch nicht in der Therapie
angekommen. Wenig verwunderlich ist es, dass Patientinnen und Patienten selbst kaum
ausreichend Gesundheitskompetenz aufweisen, um eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Beschwerden und dem Mikrobiom herstellen zu können. „Im Hinblick auf Stress und Darmbeschwerden orten wir noch viel Aufklärungsbedarf in der Bevölkerung. Stress führt zu Entzündungen im Darm, die sich im ganzen Körper ausbreiten können, die Folge sind zum Beispiel Kopfschmerzen, Reaktionen des Immunsystems oder die Verschlechterung bestehender Beschwerden aus dem rheumatischen Formenkreis und vieles mehr“, stellt Frauwallner fest. „Menschen sind immer wieder verblüfft, wenn man sie über den Zusammenhang von Gesundheit und Ernährung aufklärt. Das Bewusstsein dafür muss gestärkt werden, dass die Ausbreitung von pathogenen Keimen durch das Esseverhalten massiv beeinflusst werden kann“, betont auch Veronika Macek-Strokosch von Ernährungsconsulting Eat2Day.
Die Bedeutung der Darm-Hirn-Achse wurde in Alpbach multiprofessionell diskutiert.
„Ich würde mir wünschen, dass wir rascher jene Patientinnen und Patienten identifizieren, die
ein Leaky Gut haben, denn die Behandlung von Stresssymptomen, Depressionen, Schlafstörungen oder chronischer Fatigue macht nur Sinn, wenn auch der Darm mit einbezogen wird“, ist Dr. Heinz Gyaky, Arzt für Allgemeinmedizin, Kurarzt, Ernährungsmediziner und Gemeindearzt in Bad Tatzmannsdorf, überzeugt. Mithilfe von „BIA-Messungen“, der bioelektrischen Impedanzanalyse, kann die Körperzusammensetzung schon vor einem Blutbild auf einen Eiweißmangel hindeuten. „Hier reicht es nicht, Ernährungstipps zu geben. Eine Ernährungsumstellung muss engmaschig begleitet werden“, sagt Gyaky aus Erfahrung. Auch hier ist einmal mehr die Gesundheitspolitik gefordert, denn diätologische Beratung im Zusammenhang mit präventiver Ernährungsumstellung ist keine Kassenleistung.
Zu wenig Gesundheitskompetenz, gerade bei Ernährungsthemen, ortet auch Angelika
Widhalm, Vorsitzende des Bundesverbands Selbsthilfe: „Die nicht-alkoholische Fettleber
ist aktuell ein Hauptgrund für Lebertransplantationen. Hier ist mehr Aufklärung und auch das Engagement der Industrie, etwa zur Kennzeichnung von Lebensmitteln, erforderlich. Wir haben klare wissenschaftliche Evidenz zur Wirkung von Prä- und Probiotika, zum Beispiel bei Lebererkrankungen, aber auch bei vielen anderen Indikationen, dennoch werden die Kosten nicht von den Kassen übernommen.“
Doz. Dr. Alexander Haslberger, Forscher an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und
der Universität Wien, geht noch einen Schritt weiter: „Die Information und Beratung müssen personalisiert werden, und damit so individuell wie das Mikrobiom des Einzeln. Nur so werden auch Erfolge sichtbar und die Motivation steigt, die Ernährung gesund zu gestalten.“
Zu wenig evidenzbasierte Daten und zu hohe Kosten sind dennoch oft das Hauptargument, warum das Mikrobiom seinen verdienten Stellenwert noch nicht erhalten hat.
Gesellschaftliche Entwicklung zeigt Handlungsbedarf
Während im Jahr 1920 rund ein Prozent der Menschen Divertikel aufwiesen, so zeigt sich das heute bei jeder und jedem zweiten Patientin und Patienten, der zu einer Darmspiegelung kommt. „Diese Veränderung innerhalb der Zeitspanne von 100 Jahren zeigt, wie schwierig Verhaltensänderungen rund um die Ernährung sind“, ist Dr. Stefan Kastner, Präsident Ärztekammer Tirol und niedergelassener Chirurg, überzeugt und ergänzt: „Die 24/7 Verfügbarkeit und das Überangebot an kalorienreichem Essen machen es schwer, zu gesunden Lebensmitteln zu greifen. Eine Umstellung wird uns innerhalb einer Generation allein durch Information kaum gelingen.“ Gesellschaftliche Trends wie das omnipräsente Fast-Food-Angebot, negative Vorbilder in Film und Werbung, das mangelnde Wissen über die Zubereitung von Lebensmitteln oder fehlende gemeinsame Mahlzeiten in der Familie verstärken die Problematik.
Aber nicht nur ein „Zuviel“ an Versorgung, sondern auch das „Zuwenig“ kann rasch zu
einem Problem werden, sind sich Mag. Gunda Gittler aHPh, Leiterin der Apotheke der
Barmherzigen Brüder in Linz, und Univ.-Prof. Dr. Stefanie Auer, Leiterin des Zentrums für
Demenzstudien und Stv. Dekanin der Fakultät für Gesundheit und Medizin an der Universität für Weiterbildung in Krems, einig. Allein in Pflegeheimen sind nach aktuellen Studien etwa
78 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner mangelernährt. EU-weit betrifft es sogar 30 Prozent der Normalbevölkerung. Spezielle Ernährungsformen wie Veganismus, aber auch
bestimmte Erkrankungen sind häufig Ursache für Mangelernährung. „Hier könnte einfach
interveniert werden und die Erfolge wären rasch sichtbar“, betonen Gittler und Auer, doch belastbare Studiendaten für evidenzbasierte Entscheidungen fehlen.
Neben der intensiven Aufklärung der Gesellschaft zur Bedeutung der Darm-Hirn-Achse
fordern alle Expertinnen und Experten eine globale Initiative zu länderübergreifenden
Studien über das Mikrobiom und die Wirkung von Prä- und Probiotika, neue Regularien für
Nahrungsergänzungsmittel sowie den Kostenersatz überall dort, wo ausreichend Evidenz für eine Wirkung bereits vorhanden ist. Die Hebung der Gesundheitskompetenz wäre nicht nur im Hinblick auf die Eigenverantwortung zur Vorsorge wünschenswert.
PRAEVENIRE Gipfelgespräche auf der Alpbacher Schafalm
- Johannes Oberndorfer
- Wolfgang Wein
- Friedrich Leblhuber
- Gunda Gittler
- Anita Frauwallner
- Alexander Haslberger
- Andreas Hoyer
- Stefan Kastner
- Stefanie Auer
- Karl Skriner
- Angelika Widhalm
- Heinz Gyaky
- Veronika Macek-Strokosch
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