Die Spitäler entlasten und für die Bevölkerung im niedergelassenen Bereich eine flächendeckende Versorgung gewährleisten: Das ist die Grundidee hinter dem Ausbau von Primärversorgungseinheiten. Welche Schritte nötig sind, um dem geplanten Versorgungsziel näherzukommen und welche Unterschiede zwischen dem ländlichen Raum und der Metropole Wien bestehen, schilderten NÖ Landesrat Dr. Martin Eichtinger und Dr. Thomas Holzgruber, Kammeramtsdirektor der Ärztekammer Wien, bei den 7. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten.
Rainald Edel, MBA
Periskop-Redakteur
Geht es nach den Plänen von NÖ, Ärztekammer und ÖGK, sollen in Niederösterreich bis 2025 20 Primärversorgungseinheiten entstehen. „In Niederösterreich spricht man in diesem Zusammenhang gerne von Gesundheitszentren, da der Begriff der Primärversorgungseinheiten gerade im ländlichen Raum nur schwer vermittelbar ist“, erklärt der NÖ Landesrat Dr. Martin Eichtinger in seiner Keynote im Stift Seitenstetten. Die Notwendigkeit von Gesundheitszentren begründet Eichtinger mit dem Bedarf der Bevölkerung an zusätzlichen Anlaufstellen, die verhindern sollen, dass Patientinnen und Patienten, wenn es keine Hausarztpraxis in der Nähe gibt oder diese ungünstige Öffnungszeiten hat, gleich eine Spitalsambulanz aufsuchen, in welcher Leistungen zu einem deutlich höheren Kostenfaktor angeboten werden. Die Gesundheitszentren stellen eine wichtige Ergänzung in einem dichten Netz der wohnortnahen Krankenversorgung dar. „Für ein Flächenbundesland wie Niederösterreich ist es entscheidend, sowohl im ländlichen als auch im städtischen Raum, wohnortnahe eine Gesundheitsversorgung anbieten zu können“, schildert Eichtinger. „Wir sehen sowohl in der Allgemeinmedizin, aber auch in der Kinderund Jugendheilkunde offene Kassenstellen – auch das ist ein Grund, die Gesundheitszentren weiter auszubauen“, so Eichtinger.
„Gesundheitszentren sind eine Win-Win-Situation. Denn wir sehen immer mehr, dass Ärztinnen und Ärzte neue Anforderungen an ihren Beruf stellen. Viele wollen im Team und nicht alleine arbeiten. Auch die Erwartungen der Patientinnen und Patienten haben sich wesentlich geändert. So sind beispielsweise berufstätige Menschen darauf angewiesen, allgemeinärztliche Leistungen in Anspruch an Tagesrandzeiten zu nehmen und erwarten sich daher entsprechende Ordinationszeiten.
Neuregelung der Primärversorgung
Vor knapp zehn Jahren waren es die immer älter werdende Gesellschaft, die neuen medizinischen Anforderungen und eine anstehende Pensionierungswelle bei Ärztinnen und Ärzten, die im Rahmen der Gesundheitsreform 2013 zu einer Neuregelung der Primärversorgung geführt haben. Die Idee war, Teams bestehend aus Allgemeinmedizinerinnen und-medizinern, diplomierten Pflegekräften und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe aufeinander abgestimmt gemeinsam in der Behandlung von Patientinnen und Patienten tätig werden zu lassen – entweder in Form eines Zentrums oder eines Netzwerkes. 2015 hat das erste Zentrum in Wien und 2018 das erste in Böheimkirchen in Niederösterreich eröffnet. Bis 2022 konnten fünf Gesundheitszentren aus der Taufe gehoben werden, sowie 2020 das Gesundheitsnetzwerk „Melker Alpenvorland“. Dieses ist bis dato das größte Netzwerk, das aus fünf Standorten besteht, die gemeinsam sechs Gemeinden und 16.000 Menschen betreuen. Im Unterschied zu einem Zentrum verbleiben die Ärztinnen und Ärzte an ihrem Standort, sind untereinander gut vernetzt und haben eine gemeinsame Befunddatenbank. „Bis zum Sommer werden wir in der Landeszielsteuerung noch zwei weitere Gesundheitszentren beschließen. Wir haben heuer gesehen, dass dieses Instrument gut angenommen wird und sowohl von Seiten der Ärztinnen und Ärzte aber auch von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern großes Interesse besteht“, so Eichtinger. Intensiv arbeite man an den Regionen Waldviertel und Weinviertel, die sich ebenfalls für Gesundheitsnetzwerke anbieten würden und im Zielbild bis 2025 entsprechend berücksichtigt sind.
Vorteile für Patientinnen und Patienten
„Die entscheidenden Punkte sind die umfassende Versorgung und Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten mit anderen Gesundheitsberufen, wie der Logopädie, Physio-, Ergo-, und Psychotherapie, Sozialarbeit, Diätologie, Klinischen Psychologie, mit den Hebammen und den mobilen Diensten. All diese Dienste entlasten die praktischen Ärztinnen und Ärzte in ihrer Tätigkeit. „Wir sehen das vor allem im Bereich der Sozialarbeit, da gerade im ländlichen Raum praktische Ärztinnen und Ärzte oftmals auch sozialarbeiterische Aufgaben übernehmen müssen“, so Eichtinger. Ebenso kommen die Öffnungszeiten von Montag bis Freitag von sieben bis 19 Uhr der Bevölkerung entgegen. Ideal eigenen sich die Gesundheitszentren für Personen mit chronischen Erkrankungen, da sie die permanente Behandlung sicherstellen. Durch die Arbeit im Team kommt es zu einer Entlastung der einzelnen Person, sodass wieder ein höheres Maß an Konzentration für medizinische, therapeutische und pflegerische Tätigkeiten verwendet werden kann. Darüber hinaus begünstigt diese Institution den fachlichen Austausch; auch Vertretungen im Urlaub und Krankenstände gestalten sich deutlich einfacher. Gerade für Personen mit Betreuungspflichten besteht die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten. Zur Finanzierung der Primärversorgung stehen 100 Mio. Euro aus dem EU-Resilienzfond zu Verfügung. „Obwohl Länder, Sozialversicherungsträger und Ärztekammer das Modell der PVE fördern und generell großes Interesse seitens Ärzteschaft besteht, merken wir, dass der Weg zur Umsetzung unglaublich aufwändig ist“, schildert Eichtinger. Daher der Wunsch seitens Niederösterreichs, der sich auch in einem Beschluss der Landesgesundheitsreferentinnen und -referenten wiederfindet, nach einer Novellierung des Primärversorgungsgesetzes, um einfacher und schneller zu werden, indem formelle Hürden abgebaut werden, um so das Netz an Gesundheitszentren weiter ausbauen zu können. „Zusätzlich würden wir uns auch Kindergesundheitszentren wünschen“, so Eichtinger. Derzeit kann Kinder- und Jugendgesundheit nur als Facharztleistung im Rahmen der allgemeinen Gesundheitszentren angeboten werden. Eichtinger hofft, sich auf dem Weg zu den 20 Gesundheitszentren bis 2025 schon heuer zu Jahresende der Zweistelligkeit zu nähern bzw. diese zu überschreiten.
Differenziertes Versorgungsangebot nötig
In Wien gibt es derzeit 700 Kassenverträge für Allgemeinmedizin. Davon sollen 35 bis zum Jahr 2025 PVE werden – mit 105 Ärztinnen und Ärzten. „Selbst wenn wir alle Pläne erfüllen, haben wir erst ein Siebentel aller allgemeinmedizinischen Versorgungsstrukturen im Bundesland auf Primärversorgung im Sinne des Gesetzes umgestellt“, erklärt Dr. Thomas Holzgruber, Kammerdirektor der Ärztekammer Wien. Hier bestehe auch ein wenig Kritik der Ärztekammer, da grundsätzlich jede Hausärztin, jeder Hausarzt ebenso Primärversorgung ausübe. Durchaus viele Hausärztinnen und Hausärzte mit Einzelpraxis würden sich eine kofinanzierte Krankenschwester und andere Gesundheitsberufe als Unterstützung wünschen, ohne die eigene Ordination dafür in ein Zentrum oder Netzwerk umzuwandeln. „Ich glaube, wenn wir das System flächendeckend denken, müssen wir von den Zahlen wegkommen. Hierfür sind die Netzwerke nicht nur am Land, wie in Niederösterreich, sondern auch in der Stadt die sinnvollste Lösung“, so Holzgruber. Denn würde man am Land drei bestehende Hausarztpraxen in ein Zentrum überführen, würde man mit einem Schlag zwei Gemeinden die hausärztliche Versorgung vor Ort nehmen und das würde wiederum sicherlich zu Widerständen der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister führen. Während die junge Bevölkerung, wie beispielsweise in Wien Mariahilf, mit Zentren gut umgehen kann, wünscht sich die ältere Bevölkerung eher eine persönliche Ansprechpartnerin, einen Ansprechpartner und bevorzugt „ihre“ Arztpraxis. „Die Bevölkerung möchte unterschiedliche Angebote“, so Holzgruber.
Weiterentwicklung in Wien
Aktiv sind in Wien mit Stand Mitte Mai sieben Primärversorgungszentren und ein Primärversorgungsnetzwerk. „Im Prozess – d.h. ausgeschrieben, wir reihen die Teams oder diese sind bereits bei der Immobiliensuche – sind weitere sechs Zentren und zwei Netzwerke“, schildert Holzgruber. Zudem befinden sich gerade zwei Zentren in Ausschreibung; außerdem gäbe es noch 15 Ärzteteams, die bereit wären, im nächsten Jahr PVE zu gründen. „Demnach liegen wir bereits 2023 bei 33 von 35 geplanten PVE. Die Suche nach einer geeigneten Räumlichkeit gestalte sich, so der Kammeramtsdirektor, äußerst schwierig, da die Mindestfläche für ein PVE mindestens 300 Quadratmeter betrage – und dies am besten ebenerdig. Ein besonderes Hemmnis sei, dass durch die USt-Bestimmungen für Ordinationen der Vorsteuerausgleich für Vermieterin, Vermieter weggefallen ist, wodurch viele Immobilienbesitzerinnen, -besitzer gar nicht an Ärztinnen und Ärzte vermieten wollen. Hier suche die Ärztekammer den Kontakt mit den Bauträgern.
Erfolgsfaktoren in Wien
Den Grund, weshalb man in Wien weit über Plan liege, führt Holzgruber auf zwei Änderungen durch die Ärztekammer zurück. Zum einen gebe es ein eigenes Team aus Kammermitarbeiterinnen, -mitarbeitern, die bei der Gründung beraten. Zudem gibt es eine Unzahl an Veranstaltungen mit PVE-Interessenten und Bewerbern. Und der zweite Grund, den Holzgruber für entscheidend hält, ist, dass Kolleginnen und Kollegen sozusagen als Role Models über praktische Erfahrungen aus ihrem PVE berichten – dies wirke weit besser als politische Aufforderungen oder der Rat seitens Ärztekammer, PVE zu gründen. „Wir verhandeln derzeit in Wien auch das Kinder-PVE-Modell, da es einige große
Gruppenpraxen gibt, die gerne das PVE-Modell übersetzt auf die Kinder- und Jugendheilkunde durchführen wollen. Das lässt sich auch ohne eigenes Gesetz umsetzen, sofern sich Land, Ärztekammer und Sozialversicherungsträger einig sind“, schilderte Holzgruber. Als weiteren Trend sieht der Kammerdirektor, dass mittlerweile auch Fachärztinnen und -ärzte Interesse daran haben, Facharztzentren zu eröffnen – teilweise ebenfalls im Verbund mit anderen Gesundheitsberufen. „Das würde auch die Spitalsambulanzen entsprechend entlasten“, so Holzgruber.
Änderungen Primärversorgungsgesetz
Was wichtig ist, ist eine gemeinsame Planung von Land, Sozialversicherung und Ärztekammer und dass die Dualität zwischen regionalen Strukturplänen, Gesundheit und Stellenplanungen zugunsten einer gemeinsamen Planung aufgehoben wird. Nicht unterschätzen dürfe man den menschlichen Faktor – die für die Gründung eines PVE notwenigen drei Ärztinnen bzw. Ärzte müssen sich menschlich und medizinisch gut verstehen, betonte Holzgruber. Einen Dissens gebe es noch beim Thema gewinnorientierte Ambulatorien zwischen Sozialversicherung, Ländern und Ärztekammer. Derzeit können in Österreich nur gemeinnützige Ambulatorien ein PVE gründen. Für die Gründung von Kinder-PVE gibt es eine klare Unterstützung seitens der Ärztekammer. Holzgruber hofft, noch im heurigen Jahr das erste derartige Zentrum präsentieren zu können. Aus Sicht der Ärztekammer wäre es auch denkbar, dass nur zwei Ärztinnen oder Ärzte ein PVE gründen könnten, sofern die Mindestordinationszeit von 50 Stunden eingehalten wird. Die Ärztekammer Wien regt zudem an, dass es eine Abrechnung auch ohne gemeinsame Abrechnungspflicht geben soll, da die Errichtung einer unternehmensrechtlichen Gesellschaft die Gründung zusätzlich erschwere. „Wir sind für die Weiterentwicklung der PVE. Im Grunde – und das ist ja das Oberthema dieser ganzen Debatte – geht es um eine Entlastung der Spitäler und den Verschub von Spitalsleistungen in den niedergelassenen Bereich“, so Holzgruber abschließend. Dazu bedürfe es im Rahmen der dualen Finanzierung natürlich auch einer Verschubmasse des Geldes zwischen Sozialversicherung und Land.